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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13081. Wien, Mittwoch, den 23. Januar 1901

[1]

Hofoperntheater.

(Richard Wagner’s „Rienzi“, neu einstudirt.)


0003Ed. H. „Rienzi’s“ Schicksale in Wien sehen sich recht
0004wunderlich an. Volle dreißig Jahre lang nach seiner Erstauf-
0005führung in Dresden mußte der „Rienzi“ warten, bevor er Ein-
0006laß erhielt ins Wiener Hofoperntheater. Seit dreizehn Jahren
0007kannte Wien bereits den „Lohengrin“, seit zwölf Jahren
0008den „Tannhäuser“, seit zehn den „Fliegenden Holländer“,
0009bevor es „Rienzi“ zu hören bekam. Diese Entdeckung oder
0010Eroberung verdankte man nur der rückwirkenden Kraft von
0011Wagner’s Ruhm. Hat ein Künstler mit mehreren Werken
0012nachhaltige Wirkung erzielt, so regt sich hinterdrein die Neu-
0013gierde nach Allem, was er früher geschaffen. Als Erstlingswerk
0014eines unbekannten jungen Componisten — denn zwei verschollene
0015Jugendopern, „Die Feen“ und das „Liebesverbot“, zählen
0016nicht mit — war „Rienzi“ durch die Bemühungen der
0017Schröder-Devrient im Jahre 1841 in Dresden zur ersten
0018Aufführung gelangt. Der Erfolg übertraf alle Erwartungen.
0019Aber die abschreckenden Berichte über ganz enorme Kosten,
0020Mühen und Schwierigkeiten der Aufführung stimmten alle
0021übrigen Bühnen bedenklich. Ueberdies präsentirte sich die
0022Partitur in einem so abenteuerlichen Umfang, daß man in
0023Dresden zu dem verzweifelten Auskunftsmittel griff, die
0024Oper auf zwei Abende zu vertheilen. (Ein hübsches, einziges
0025Gegenstück zu Cimarosa’s „Heimlicher Ehe“, welche be-
0026kanntlich Kaiser Leopold am selben Abend zweimal sich vor-
0027singen ließ.) Die Dresdener bekamen, bei aller ange-
0028borenen Höflichkeit, es doch bald satt, heute zwei Acte
0029und morgen erst die drei letzten zu hören. Da kam
0030denn der Prophet zum Berge und kürzte die Oper
0031auf die Dauer Eines Theaterabends. In dieser redu-
0032cirten, noch überlebensgroßen Gestalt gewann „Rienzi“
0033nach und nach auch andere deutsche Bühnen. Man hatte
0034keine Eile; ein sonderlich guter Ruf ging dem Werke
0035nicht voran. Erst nachdem „Tannhäuser“, „Lohengrin“,
0036Holländer“ ihren Siegeszug angetreten und immer weiter
0037ausgedehnt hatten, verlangte die allgemeine Neugierde auch
0038nach dem „Rienzi“. Das Glück seiner vom Publicum
0039bevorzugten Vorläufer wollte ihm jedoch niemals und
0040nirgends blühen. In Wien erreichte „Rienzi“ in den beiden
0041ersten Jahren (1871 und 1872) wol zehn Aufführungen;
0042im nächsten Jahre nur mehr fünf. Dann ging es
0043rapid abwärts auf drei und zwei Wiederholungen;
0044endlich begnügte man sich mit einer einzigen und in
0045gar manchem Jahre mit gar keiner. Im Laufe
0046von vierundzwanzig Jahren hat „Rienzi“ in Wien 
0047nur sechzig Aufführungen erlebt. Was hat das zu bedeuten
0048gegen die zweihundert Wiederholungen des „Tannhäuser“,
0049die zweihundertfünfzig des „Lohengrin“ in gleichem Zeit-
0050raume! Das Publicum war eben besseren Geschmacks ge-
0051worden, indem es den „Rienzi“ an Wagner’s späteren
0052Opern messen gelernt hatte. Heute will die Aristokratie der
0053Wagnerianer eigentlich nichts mehr davon wissen, und der
0054Meister selbst theilte ihre Meinung. „Den Rienzi 
0055geben wir Ihnen preis,“ schrieb Bülow schon im Jahre
00561851 (!) in einer von Wagner-Fanatismus glühenden
0057Polemik gegen die „Grenzboten“.


0058Was Herrn Director Mahler dazu bewog, an die
0059Auferweckung dieser halbvergessenen Oper so aufreibende
0060Mühe und Sorgfalt zu wenden? Zunächst wol die zärtliche
0061Rücksicht auf das zur eminenten Wagnerstadt gediehene
0062Wien, welches, ungesättigt von der stolzen Vor- und Ueber-
0063herrschaft Wagner’s — mit neun Repertoire-Opern!
0064— auch noch als zehnte den „Rienzi“ herbeisehnen
0065mochte. Interessant ist es immerhin, den Anfängen
0066eines Componisten zu lauschen, welcher durch seine
0067späteren Schöpfungen so bedeutend gewirkt hat; über-
0068raschend obendrein, ihn weitab von seinem späteren hohen
0069Isolierschemel in großer Gesellschaft auf der breitesten
0070Fahrstraße anzutreffen. Schon vor dreißig Jahren nannte
0071ich dieses biographische Interesse „so ziemlich das einzige,
0072welches Rienzi uns einflößt“. Wie viel mehr erst heute!
0073Schwerlich möchte ein Theater-Director 1901 diese Oper zur
0074Aufführung annehmen, wäre sie von einem ganz unbe-
0075kannten Componisten eingeschickt. Der Name Wagner bildet
0076den Schwimmgürtel, auf dem sich „Rienzi“ derzeit noch über
0077dem Wasser erhält. Der Name Wagner, wohlverstanden
0078— denn von dem Manne selbst, dem leibhaftigen Richard
0079Wagner, ist darin blutwenig zu entdecken. Kaum erkennen
0080wir den Componisten des Lohengrin, geschweige den der
0081Meistersinger, und wo ihn dennoch irgend eine Eigen-
0082thümlichkeit verräth, ist es keine von seinen guten.
0083Rienzi bedeutet im Großen und Ganzen das gerade
0084Gegentheil von Wagner’s späterer Musik. In Rienzi 
0085herrscht die Gesangsmelodie, am liebsten die bedenklich popu-
0086läre, das Orchester liefert nur eine „Begleitung“, eine recht
0087lärmende, im herkömmlichen Sinn; der Bau gliedert sich
0088übersichtlich symmetrisch, die Modulation, noch unberührt von
0089harmonischen Mysterien, erlaubt sich kein Wagstück, die her-
0090kömmlichen Formen (Ouvertüre, Arie, Duett, Terzett) sind
0091im Wesentlichen beibehalten. „Ist das wirklich Wagner?“
0092flüstern die mit „Rienzi“ noch ungekannten jüngeren Zuhörer.
0093Nein, es ist ein Gemisch von Spontini, Donizetti und Meyer-
0094beer mit einigem Zusatz aus Weber und Marschner. Vieles
0095in den Formen jener Operncomponisten ist veraltet, und
0096Wagner selbst hat am meisten dazu beigetragen, daß wir
0097sie heute als veraltet empfinden. An den alten Formen
0098liegt es aber nicht, daß uns „Rienzi“ widerstrebt. Im „Tell“,
0099den „Hugenotten“, der „Stummen“ (vom „Freischütz“ ganz zu
0100schweigen) quillt als ein Frisches, Eigenes, Ursprüngliches,
0101was in „Rienzi“ als schwache mühselige Nachahmung sickert.
0102Auf letzterem drückt eine Mittelmäßigkeit, die nur durch eine
0103erstaunlich kühne Anhäufung materielle Effect zu blenden [2]
0104vermag. Wer sich darüber der kürzesten Täuschung hingab,
0105war der Componist selbst. Ein so feiner kritischer Geist wie
0106Richard Wagner mußte trotz des „Rienzi“-Erfolges in
0107Dresden bald einsehen, daß ihm auf diesem Felde keine
0108weiteren Lorbeern sprießen. Im Schaugepränge und
0109Orchesterlärm noch weiter zu gehen, war unmöglich; in den
0110alten Formen durch Reichthum und Schönheit musikalischer
0111Ideen zu entzücken, erlaubten seine Mittel nicht — was
0112blieb übrig, als einen neuen Weg zu suchen? Wie er diesen
0113gefunden und mit Erfolg behauptet hat, ist bekannt. Seinen
0114Rienzi“ hat er später selbst als einen Irrthum bezeichnet;
0115wir dürfen also ein Gleiches thun. Nur hat Wagner 
0116diese Oper verworfen, weil sie einer angeblich überwundenen
0117Kunstgattung angehöre; wir, weil sie ein überwundenes Indi-
0118viduum dieser Gattung, weil sie schlechte Musik ist. Das nach
0119Bulwer’s Roman von Wagner selbst verfaßte Textbuch ver-
0120dient das Lob geschickter Mache, insoferne es den Stoff
0121zweckmäßig gliedert und eine Reihe effectvoller Situationen
0122herbeiführt. Die vorwiegende Absicht auf diese Masseneffecte
0123vereitelte aber jede feinere Motivirung; nicht nur die psycho-
0124logische der handelnden Personen, sondern auch die logisch-
0125pragmatische der Handlung. Wer Bulwer’s Roman nicht in
0126sicherem Gedächtniß bewahrt hat, bleibt über manche Haupt-
0127wendung der Oper vollständig im Unklaren.


0128Die Musik hat uns auch in der heutigen Aufführung
0129keinen besseren Eindruck gemacht, als damals in ihrer ge-
0130kürzten Form vor dreißig Jahren. Mit Ausnahme der Panto-
0131mime der Frauen vor dem Waffentanz wird jetzt kein
0132Musikstück gestrichen. Die überlange Oper entläßt uns
0133ermüdet und betäubt. Wo Rienzi Effect macht (und
0134dies gelingt ihm häufig in den ersten drei Acten),
0135da ist er die von Wagner witzig definirte „Wirkung ohne
0136Ursache“. Alltäglichen, zum Theile ganz trivialen Ideen wird
0137hier durch derbste sinnliche Mittel der Schein des Groß-
0138artigen angetäuscht. Solch unausgesetztes Brüllen von
0139Posaunen und Tuba, so unermüdliches Trommeln und
0140Beckenschlagen. So erbarmungslose Anstrengung der Chor- 
0141und Solosänger verlangt keine zweite Oper. Der Hörer
0142wird förmlich niedergeworfen und der Triumph des Com-
0143ponisten zur totalen Niederlage des Zuhörers. Gleich in der
0144Ouvertüre, diesem Monstre-Potpourri mit der Prätension
0145eines einheitlichen Charakterbildes, sehen wir unter der
0146sinnlichen Gewalt der Töne den Geist erliegen. Bessere
0147Hoffnungen erregt die Introduction (Entführung der Irene 
0148mit dem Dazwischentreten Adriano’s und dem Streite
0149zwischen Orsini und Colonna); sie ist mehr im Tone der Spiel-
0150oper gehalten und meines Erachtens die werthvollste Nummer
0151des Ganzen. Was nun folgt, kann man abgesehen von
0152einigen flüchtig vorüberleuchtenden Stellen, füglich unter zwei
0153Kategorien zusammenfassen: lärmende Trivialität und senti-
0154mentale Trivialität. Zur ersten Classe gehören alle „Glanz-
0155nummern“ der Oper: das erste Finale, der große Einzugs-
0156marsch, die Balletmusik, endlich der Schlußchor im zweiten
0157Act. Man glaubt nicht, daß der Lärm des Finales noch
0158steigerungsfähig sei; er wird aber noch weit übertroffen von
0159dem Marsch und Schlachtgesang im dritten Act. Da
0160arbeitet neben dem tobenden Orchester und Chor noch eine
0161grausame Militärmusik auf der Bühne, große und kleine
0162Glocken läuten hinter der Scene, und die wackeren Römer
0163schlagen dazu tactweis mit den Schwertern auf ihre
0164Schilde. Als Seitenstück zu diesem Profanlärm bringt der
0165vierte Act ein geistliches Spectakel: den Bannfluch mit
0166obligatem Miserere der Mönche. Noch schlimmer als die
0167Musikstücke von der Lärm- und Glanztrivialität sind die von
0168der sentimentalen. Sie sehen einander erschreckend ähnlich
0169mit ihrer flachen süßlichen Melodie und steifen, dürftigen
0170Harmonisirung. Das B-dur-Terzett im ersten Act mit dem
0171sich anschließenden Liebesduett, die empfindsamen mordent-
0172gezierten Cantilenen des Helden Rienzi — wie kleinlich,
0173kraftlos und abgetragen klingt das Alles! Was uns heute
0174noch theilweise mit dieser Musik versöhnt, ist ihr jugend-
0175liches Feuer und ihre zukunftverheißende dramatische Energie.
0176Rienzi“ ging bei gedrängt vollem Hause, unter tod-
0177müdem Enthusiasmus des Publicums in Scene. Die Vor-
0178stellung währte bis gegen ½12 Uhr Nachts. In noch
0179höherem Grade sehens- als hörenswerth wirkte sie vornehm-
0180lich durch die Pracht der neuen Decorationen von Brioschi,
0181durch die blinkenden Costüme und das effectvolle Ballet.
0182Herr Schmedes, der als Volkstribun, umgeben von
0183lauter bärtigen Männern, viel zu jugendlich aussah mit
0184seinem glattrasirten, rosigen Gesicht, war ein tüchtiger Rienzi.
0185An Niemann durfte man freilich nicht denken, trotz-
0186dem dachte man nur zu viel an ihn. Herr Winkelmann,
0187welcher den Rienzi singen sollte, war vor der Aufführung
0188heiser geworden, Herr Schmedes wurde es erst während
0189derselben. Wagner, der männermordende Achill unter den
0190Operncomponisten, verlangt stets vorsichtige Doppelbesetzungen.
0191Irene fand in Fräulein v. Mildenburg eine herrliche
0192Repräsentantin; neben ihrer imposanten Gestalt schrumpfte
0193ihr Geliebter Adriano recht kümmerlich zusammen. Für diesen
0194Heldenjüngling ist Fräulein Walker unzureichend, nicht blos
0195durch ihre Erscheinung. Musterhaft geschulte, correcte Sängerin,
0196vermag sie doch keine Empfindung stark und über-
0197zeugend auf den Zuhörer überzuleiten; ihr Gesang erweckt
0198weder Liebe noch Zorn, verkündet weder Segen noch Fluch.
0199Gedenken wir mit gebührender Anerkennung der Herren
0200Neidl, Reichenberg und Hesch, sowie des „Friedens-
0201boten“ Fräulein Pohlner, so bleibt uns nur noch
0202Director Mahler zu preisen, die Seele der ganzen Auf-
0203führung. Die enorme Anstrengung schien seine Kräfte ver-
0204zehnfacht zu haben; wol auch der Ehrgeiz, dem halbver-
0205gessenen „Rienzi“ eine glanzvolle Auferstehung zu bereiten.
0206Würde Wagner diese erlebt haben, wie hätte er sich gefreut
0207— nein, geärgert und erzürnt! Hat er nicht dreißig Jahre
0208lang mit aller Kraft gearbeitet, den „Rienzi“ vergessen zu
0209machen und die ganze Gattung der fünfactigen Spectakel-
0210oper als einen Irrthum und Unfug hinwegzufegen! Hoffent-
0211lich bekommen wir eines Tages nicht auch „Die Feen“ zu
0212sehen. Eine noch prächtiger drapirte, noch musikärmere Puppe.
0213Aber — von Wagner.