Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13136. Wien, Mittwoch, den 20. März 1901
[1]Lobetanz.
Ein Bühnenspiel in drei Aufzügen von O. J. Bierbaum. Musik v. L. Thuille.
(Erste Aufführung im Hofoperntheater am 18. März)
0004Ed H. Die neue Oper wurde zufällig an meinem
0005Namenstag gegeben. Ich hätte mir leicht etwas Angenehmeres
0006wünschen können. Schon die Dichtung will mir schlechter-
0007dings nicht behagen. Bierbaum zählt heute zu den sehr be-
0008liebten jüngeren Poeten. Aber etwas so Kindisches, gekünstelt
0009Naives wie sein „Lobetanz“ ist selten über die Bühne ge-
0010schlichen. Die Handlung zeigt eine so krankhafte Magerkeit,
0011daß der Erzähler sich förmlich fürchtet, sie anzufassen. Lang-
0012sam dreht sie sich um zwei Personen, Lobetanz und die
0013Prinzessin; der Vater, ein unverfälschter Kartenkönig, agirt
0014mehr als Statist. Unser „Bühnenspiel“ — das Wort „Oper“
0015ist verrufen — beginnt mit einer Art Manifest. Die schwer-
0016müthige Prinzessin langweilt sich bei den Huldigungsliedern
0017etlicher Hofsänger, bricht aber bei den Klängen einer aus dem
0018Gebüsch ertönenden Geige in ein „lautes, beglückt er-
0019stauntes Ach!“ aus. Lobetanz, ein fahrender Spielmann, der
0020wegen seiner geflickten Kleider sich anfangs nicht hervor-
0021gewagt, singt nun auf Bitten der Prinzessin ein Lied von
0022so beseligender Wirkung, daß die Prinzessin in immer
0023steigernden Glücksschmerzen wie todt zu Boden sinkt. Lobe-
0024tanz entflieht. ... Zu Anfang des zweiten Actes sehen
0025wir ihn „rittlings auf dem Geländer einer Linde sitzend“,
0026geigend und dazwischen lange Monologe theils sprechend,
0027theils singend: „Mutterl’s Augen blauen durch die Zweige“,
0028„Dummer Junge, sagt’s Mutterl“, „Gott, was ich ein
0029Dummer bin!“ u. s. w. Niemand wird sich hoffentlich
0030wundern, daß jetzt die Prinzessin ganz allein im Walde
0031spazieren geht und das geigende Mutterlsöhnchen, mit dem
0032sie nie zuvor ein Wort gesprochen, sie sogleich als beglückter
0033Liebhaber ansingt: „Bist du gekommen, du Meine?“ Die
0034Beiden steigen nun auf die Linde und küssen sich. Er singt ihr
0035dann ein „lockeliges Lied“, wird aber bei neuerlicher, noch gründ-
0036licherer Umarmung von dem König und dessen Hofstaat überrascht.
0037Die Prinzessin fällt — wie im ersten Act — in Ohnmacht;
0038ihr Sänger wird gefesselt in den Kerker abgeführt. ...
0039Nach diesen von süßer Einfalt und Zärtlichkeit bis zum
0040Zerspringen angefüllten zwei Acten müssen die Autoren wol
0041das Bedürfniß nach einem starken Contrast empfunden
0042haben. Sie brauten ihn aber gleich so fuselstark, daß wir
0043unwillkürlich zurückweichen. Zur Hälfte spielt dieser dritte
0044Act in einem finsteren Kerker, zur Hälfte auf dem Richt-
0045platz vor dem Galgen. Im Kerker sehen wir Lobetanz,
0046umkreist von gefangenem Gesindel, das ihn verhöhnt. Da
0047ergreift ihn ein „gräulicher Humor“; er singt die Ballade
0048vom Tod und dem Zecher, welche ein glatzköpfiger Alter, der
0049den Tod vorstellt, und zwei tanzende zerlumpte Weiber
0050mimisch begleiten. „Warum trinkt du denn nicht, o du
0051kalkicht Gesicht? Herrgott, bist du fad!“ Es ist wirklich
0052die höchste Zeit, daß der Henker erscheint und den Lobetanz
0053aus dieser Unterhaltung zur Hinrichtung abholt. Verwand-
0054lung. Jetzt, nach dem Galgenhumor, der Galgen ohne
0055Humor. Wir stehen an dem Galgenhügel, zu dem im
0056Morgengrauen das Volk strömt. Wieder hören wir ein mehr-
0057strophiges Galgenlied, von einem jungen Burschen gesungen.
0058„Mir war’s, ich hört’ einen bangen Schrei, verdammt: da kam ich
0059am Galgen vorbei, d’ran schwangen im Winde Zwei oder
0060auch Drei, heut’ Früh.“ Unter den Klängen eines sehr um-
0061ständlichen Hinrichtungsmarsches wird Lobetanz zum Galgen
0062geführt. Da geschieht etwas, so unerwartet und unglaublich,
0063daß wir uns kaum getrauen, es nachzuerzählen. Die todt-
0064kranke Prinzessin, vom König und dem ganzen Hofstaat be-
0065gleitet, wird auf einer Sänfte herbeigetragen, um der Hin-
0066richtung ihres Geliebten beizuwohnen! Es wird uns zwar
0067zur Erklärung dieses Gräuels namens der „Wissenschaft“
0068verkündet, „sein Tod werde die Prinzessin zum Leben rufen“.
0069Aber wenn sie, erwachend, den Geliebten am Galgen
0070baumeln sieht — versprechen der König und „die Wissen-
0071schaft“ sich davon wirklich einen heilsamen Eindruck
0072auf die kranke Prinzessin? Also Lobetanz steht unter
0073dem Galgen. Sollte er in diesem letzten Augenblick
0074nicht noch ein wenig Geige spielen? Richtig. Er setzt
0075die Fiedel an und „geigt die Prinzessin ins Leben“.
0076Sie umarmen sich („flottes Walzertempo“!), der König
0077begrüßt den armen Sünder frohgemuth als seinen lieben
0078Schwiegersohn, und die ganze Gesellschaft tanzt singend und
0079fiedelnd vor dem Galgen herum. „Rosenrothe Apfelblüth’,
0080Juhuhuhu.“ Dieser „gute Ausgang“ des Stückes stürzt
0081allzu schnell auf das Gräßliche, um nicht jede feinere Empfin-
0082dung zu verletzen.
0083Ich vermag Bierbaum’s Bühnendichtung nur zu ver-
0084stehen, wenn ich sie als eine Art Rückschlag gegen die ein-
0085actigen Mord- und Selbstmord-Opern auffasse, welche, von
0086Mascagni’s „Cavalleria“ ausgebrütet, schaarenweise den deut-
0087schen Horizont verdunkelt haben. In dieser entschuldigenden Ver-
0088muthung bestärkt uns der Inhalt der zweiten, gleichfalls von
0089Thuille componirten Oper Bierbaum’s: „Gugeline“.
0090Diesen nicht allzu melodischen Namen trägt die Heldin der
0091Oper, eine Bauernschönheit, die der Prinz im ersten Act
0092erblickt, anbetet und im letzten auf den Thron erhebt. Wie
0093man sieht, eine Inversion der Lobetanzgeschichte. Dort
0094Bänkelsänger und Prinzessin, hier Prinz und Bauerndirne.
0095Der Dichter hat eine merkwürdige Passion für Mesalliancen
0096und Violinspiel. Denn auch in „Gugeline“ spielt die Geige
0097eine wichtige, das ganze Stück illustrirende Rolle. Da fiedelt
0098sie (für einen Prinzen schickt sich das nicht) sein buckliger Hof-
0099narr — an jedem Ort, zu jeder Zeit, die ihm passend
0100dünkt, den schwankenden Prinzen zur „wahren Liebe“ zu
0101bekehren. „Liebe und Trompetenblasen,“ heißt es im
0102Trompeter von Säkkingen, „sind gar gut zu vielen Dingen.“
0103Bei Bierbaum thut’s die Geige. Für den Styl und die
0104Tendenz der beiden Bierbaum’schen Bühnenspiele ist charak-
0105teristisch auch ihr Personen-Verzeichniß. Außer Gugeline und
0106Lobetanz hat keine der handelnden Personen einen Namen.
0107Es spielen „der König“, „der Prinz“ u. s. w. In „Gugeline“
0108erscheinen außerdem: der Obersthofmeister, der Monsieur,
0109der Signor, der Professor, die reiche Prinzessin, die gelehrte
0110Prinzessin, die schöne Prinzessin, der reiche Bauer, der
0111schlaue Bauer, der starke Bauer und was sonst noch.
0112Seltsam, daß die Personen sich nicht auch, wie in Tieck’s
0113Schauspielen, selbst präsentiren. „Ich bin der wackere Boni-
0114facius“ u. s. w. In der That, die Kleinkinderstube, wie sie [2]
0115putziger nicht gedacht werden kann. In beiden Opern kein
0116einziger individueller Charakter, lauter Puppen und Holz-
0117schnittfiguren. Immerhin hat „Gugeline“ eine wenn auch
0118nicht viel gescheitere, doch belebtere Handlung und zum
0119Schluß eine lustige Krönung, statt eines Galgens.
0120Wir haben uns lange beim Textbuch aufgehalten; will
0121man das für ein Compliment nehmen, sei’s darum. Jeden-
0122falls liefert die Musik uns weniger Stoff. Was daran zu
0123loben, was anzuzweifeln ist, bedarf nicht vieler Worte. Man
0124kennt Herrn Professor Thuille als gediegenen und
0125feinfühlenden Musiker, der mit vollkommener Beherrschung
0126des gesammten Tonmaterials echt künstlerisches Streben
0127verbindet. Seine Lobetanz-Musik wird überall unbedingte
0128Achtung erringen; mehr Achtung als Begeisterung. Es fehlt
0129dieser Musik die prägnante Physiognomie, die zündende
0130Kraft, welche wir an dramatischer Musik schwer vermissen.
0131Ob das mehr an einer ursprünglichen Schwäche seiner
0132Begabung liegt, oder an dem Zwange, den das
0133Wagner’sche Stylprincip ihm auferlegt? Wahrscheinlich
0134an Beidem. Eine von Haus aus starke melodiöse
0135Erfindungskraft begibt sich kaum freiwillig in die Bot-
0136mäßigkeit eines Systems, welches die Instrumente üppig
0137schwelgen läßt, während der Gesang hungert. Die beiden
0138ersten Acte bringen zahlreiche Orchesterstellen, die als solche
0139interessiren und erfreuen — feinste Begleitungen zu einem
0140Gesange, der nicht da ist. Lobetanz und die Prinzessin
0141begnügen sich mit jenem schwanken Singdeclamiren, das bei
0142den Nachfolgern Wagner’s Regel geworden. Der Gesang
0143verliert sich in lauter declamatorische Phrasen, ohne sich zu
0144einer selbstständigen Melodie zu krystallisiren. Wir begreifen,
0145daß junge Wagner-Schwärmer sich nur schwer dieser herr-
0146schenden Mode entziehen. Wenn’s aber vielleicht nicht mehr
0147die herrschende ist? Ein ganz neues Buch: „Moderner
0148Geist in der deutschen Tonkunst“ von Dr. A. Seidl,
0149belehrt uns, daß Wagner’s Kunst, als die einer vergangenen
0150Epoche, schon seit 1896 hinter uns liegt und seine Zukunfts-
0151musik nicht mehr die heutige ist. Wagner, so wird uns
0152gesagt, „resumirt die Modernität (!), aber er ist nicht mehr
0153modern“. Wir sind bereits in die Periode des „Wagner-
0154Schismas“ eingetreten. Der vom Wahnfried beherrschte
0155rechte Flügel strebt, „das Werk Wagner’s zu monumentali-
0156siren, den Styl zur Tradition zu stylisiren“, und diese
0157Richtung führt nach Seidl „ins ödeste Wagner-Philisterium“.
0158Der linke Flügel der „Neu-Wagnerianer“ vertritt die musi-
0159kalische Secession. Ihr führender Geist ist Nietzsche,
0160„der Modernste der Modernen“; ihr musikalischer Held,
0161selbstverständlich, Richard Strauß. Armer braver Thuille!
0162Er und alle seine Operncollegen, die ja kaum erst zu schaffen
0163begonnen haben, sind also von Herrn Seidl bereits be-
0164seitigt. Denn ihr Muster ist „nicht mehr modern“.
0165Um Letzteren ist uns nicht bang; Wagner wird uns Alle,
0166auch die Herren von der Seidl-Secession, sehr, sehr lange
0167überleben. Denn seinen Styl hat er sich geschaffen für die
0168eigene überragende Individualität. Aber Jene, die ihn
0169mühsam, unfrei nachahmen — und dazu gehören seit
017025 Jahren wenigstens vier Fünftel aller deutschen Opern-
0171componisten — für sie dürfte sehr bald jene Götterdämme-
0172rung anbrechen, welche bereits dem Herrn und Meister an-
0173gedroht wird.
0174Entschiedener Wagnerianer, emancipirt sich Thuille doch
0175von seinem Stylmuster in zwei Punkten. Erstens unterbricht
0176er den Gesang reichlich mit gesprochenem Dialog. Nicht
0177etwa nach Art der älteren deutschen Oper („Zauberflöte“,
0178„Fidelio“, „Freischütz“), wo je zwei abgeschlossene Gesangs-
0179nummern durch Gespräch getrennt sind; vielmehr unterbricht
0180oft schon nach drei bis vier Tacten die Rede den Gesang.
0181Zart und stimmungsvoll begleitet, wie namentlich im zweiten
0182Act, sind diese halb melodramatischen Scenen von unleugbar
0183poetischem Reiz. Einer zweiten Abweichung von Wagner’s
0184Princip begegnen wir in dem Einflechten von eigentlichen
0185Liedern. Hier dürfte und müßte der Componist seine souve-
0186räne melodische Erfindung zeigen — wenn er welche besitzt.
0187Thuille fühlt sich aber auch da auffallend beengt. Es fehlt
0188ihm das Talent oder der Muth zu einem frischen,
0189natürlichen Lied. Man höre die Lieder des Lobetanz
0190im zweiten und dritten, das Lied des jungen Burschen
0191im dritten Act. Lauter Fröhlichkeit mit Alpdrücken.
0192Was den Mangel an selbstständiger reizvoller Melodie
0193noch fühlbarer macht, ist die maßlose Ausdehnung der
0194einzelnen Gesänge. Wie lange dauert die schwülstige Anrede
0195der Prinzessin beim Maifest, wie lang und langweilig
0196Lobetanz’ Violinsolo hinter dem Springbrunnen und sein
0197die Prinzessin bis zur Ohnmacht bezaubernder Gesang am
0198Schlusse des ersten Actes! Der letzte Act schafft zu der
0199Idylle der beiden früheren den denkbar grellsten Contrast.
0200Der Componist, dessen Talent, meines Erachtens, mehr
0201nach der Seite des Sanften, Lyrischen, Anmuthigen liegt,
0202hat sich hier gewaltsam zu einem diabolischen Humor hinauf-
0203geschraubt. Die meisten Zuhörer dürften gleich mir von
0204diesen burlesk grausigen Kerkerspässen nur einen ver-
0205stimmend widerwärtigen Eindruck empfangen haben. Mit
0206der Schlußscene des dritten Actes gewinnt die Musik wieder
0207an Frische und Natürlichkeit.
0208Das Publicum folgte dem „Lobetanz“ mit mehr Ver-
0209wunderung als Vergnügen. Sehr zurückhaltend nach den
0210beiden ersten Acten, applaudirte es lebhafter am Schlusse
0211und rief mit den Darstellern der Hauptrollen die beiden
0212Autoren heraus. Hauptrollen, ja „Rollen“ überhaupt gibt
0213es in der neuen Oper nur zwei: Lobetanz und die Prin-
0214zessin. Letztere ist größtentheils zu stummer Assistenz ver-
0215urtheilt; ihre gesangliche Aufgabe beginnt und endigt mit
0216dem zweiten Act. Frau Schoder, deren Talent sich bis-
0217lang an scharf charakteristischen leidenschaftlichen Rollen be-
0218währt hat, gibt die bis zur Regungslosigkeit passive Gestalt
0219der kranken Prinzessin mit überraschendem Gelingen. In
0220ihrer bewunderungswürdigen Zurückhaltung und Selbst-
0221beherrschung erwies sie sich als Meisterin. Im Gegensatze
0222zur Prinzessin ist Lobetanz den ganzen Abend in fort-
0223währender Bewegung, singend, sprechend, geigend, zuletzt
0224auch noch tanzend. Herr Naval, durch seine liebenswürdige
0225Persönlichkeit für den Lobetanz wie geschaffen, glänzt in
0226dieser anstrengenden Rolle als geschmackvoller Sänger,
0227musterhafter Sprecher und vortrefflicher Schauspieler. Die
0228übrigen Partien sind durchwegs klein, aber weder leicht noch
0229gleichgiltig für den Erfolg der Oper. Die Sorgfalt, welche
0230man in Wien an „Lobetanz“ gewendet, äußert sich schon
0231darin, daß zwei kleine Episodenrollen in der Kerkerscene den
0232Herren Ritter und Grengg zugetheilt sind. Neben
0233diesen verdienen die Fräulein Pohlner und v. Thann,
0234die Herren Frauscher, Schittenhelm, Stoll und
0235Preuß besonders genannt zu werden. Zuletzt (oder zuerst?)
0236Herr Capellmeister Schalk, welcher die Oper sorgfältig
0237einstudirt hat und sie mit wohltuender Ruhe dirigirt.