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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13372. Wien, Freitag, den 15. November 1901

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Offenbach im Hofoperntheater.


0002Ed. H. Nein, das hat Offenbach sich nicht träumen
0003lassen. Ein Werk von ihm, sein letztes, auf der Bühne
0004des Wiener Hofoperntheaters, an zwei Abenden nach ein-
0005ander gespielt; abwechselnd mit den ersten Kräften besetzt,
0006glänzend ausgestattet, von Mahler einstudirt und diri-
0007girt! Nie zuvor war Offenbach in das Heiligthum unse-
0008res neuen Opernhauses eingelassen. Nur im alten
0009Hause „nächst dem Kärntnerthor“ spielte man einmal eine
0010Novität von ihm. Wenige Leser dürften sich ihrer
0011erinnern; ist es doch volle 37 Jahre her seit jener Auf-
0012führung von Offenbach’s dreiactiger romantischer Oper
0013Die Rheinnixen“. Seine Operetten standen damals
0014in voller Blüthe; „Laus der Gute“ füllte die Kassen des
0015Wiedener wie des Carl-Theaters. Angesichts dieser
0016Triumphe zögerte man nicht länger, Offenbach durch eine
0017Aufführung im Hofoperntheater gleichsam in den musika-
0018lischen Adelsstand zu erheben. Die „Rheinnixen“ prangten in
0019kostbarer Ausstattung und Besetzung; Ander, Beck,
0020Mayerhofer, die Wildauer und Destinn 
0021sangen, Dessoff dirigirte. Alle hatten ihr Bestes ge-
0022leistet — nur Offenbach nicht! Allerdings fiel es ihm schwer,
0023sich für das jämmerliche Sujet zu begeistern, ja auch nur
0024zu interessiren. Um nur Eins zu erwähnen: der Held und
0025Liebhaber des Stückes (von Ander dargestellt) tritt
0026gleich zu Anfang irrsinnig auf, in Folge eines Säbel-
0027hiebes, also eines Zufalles. Das französische Original-
0028Libretto, eine Musterkarte mißhandelter deutscher Romantik,
0029stammt von Nuitter, der deutsche Text von A. v. Wol-
0030zogen
— eines so schlecht wie das andere.*) Und die
0036Musik? Sie erfreut in den beiden ersten Acten durch
0037einige graziöse Strophen, geräth jedoch immer tiefer
0038in das bizarre, effecthaschende Pathos der spät-Meyer-
0039beer’schen und Halévy’schen Manier. Das Stück liegt außerhalb
0040des Gebiets, auf dem Offenbach herrschte, ja auf dem er
0041überhaupt er selbst war. Man mochte an mancher Scene
0042bewundern, wie sehr er es getroffen, sich zu verleugnen. 
0043Allein der Kunst ist besser gedient mit einer Natur, die
0044sich bekennt, als die sich verleugnet. Die „Rheinnixen“
0045hatten im Kärntnerthor-Theater nach wenigen Vorstellungen
0046ausgesungen, ausgetanzt, ausgeschwommen. Aber ein 
0047Musikstück daraus, das hübscheste, hat sich erhalten, oder
0048richtiger: Offenbach selbst hat es conservirt und in „Hoff-
0049mann’s Erzählungen“ verpflanzt: der Elfenchor „Komm’
0050zu uns!“, den wir als italienische Barcarole erst als Chor,
0051dann als Orchester-Zwischenact mit Vergnügen wieder er-
0052kannt haben. Auch der Tanz der Rheinnixen gaukelte über
0053einem reizenden Walzer, welchen später Herbeck mit
0054großer Wirkung in die Schlußscene der „Lustigen Weiber
0055von Windsor“ eingefügt hat, von wo Director Jahn ihn
0056wieder herauswarf. „Im Hofoperntheater,“ erklärte er,
0057„darf keine Note von Offenbach vorkommen.“ Was für
0058Augen würde er heute machen, sähe er Offenbach mit
0059doppelter Besetzung, gleichsam vierspännig, in die Hofoper
0060einfahren!


0061Einem Deutschen wäre es gewiß nicht eingefallen, seinen
0062Landsmann, den wunderlichen Berliner Kammergerichtsrath
0063E. Th. A. Hoffmann zum Helden einer Oper zu machen.
0064Diese phantastische Idee konnte nur dem Kopf eines
0065Franzosen entspringen. Herr Jules Barbier, der be-
0066kanntlich als Librettist mit Vortheil Goethe und Shakespeare 
0067ausgebeutet („Mignon“, „Faust“, „Hamlet“, „Romeo“) hat
0068sich auch unsern Hoffmann gut angesehen und denselben
0069bereits vor fünfzig Jahren zu einem Drama verarbeitet.
0070Das Stück verschwand bald von der Bühne des Odéon
0071— warum sollte der praktische Librettist es nicht nachträglich
0072als Opernstoff verwerthen? Musik ist ja ein bewährter Kitt für
0073Sprünge und Risse in der Logik. Auch war bei den Fran-
0074zosen auf den exotischen Reiz von Hoffmann’s Märchen und
0075Phantasiestücken noch immer zu speculiren; galt er doch
0076für den populärsten deutschen Dichter in Frankreich,
0077Goethe und Heine kaum ausgenommen. Zu Ende der
0078Zwanziger-Jahre herrschte in Paris eine förmliche Be-
0079geisterung für Hoffmann’s Spukgeschichten; nebst Weber’s
0080Freischütz“ waren sie den Franzosen die Incarnation der
0081deutschen Romantik, wo nicht des deutschen Geistes über-
0082haupt. Diese schrankenlos taumelnde Phantastik mit ihrem
0083Durcheinandermischen von prosaischer Alltäglichkeit und
0084grausigem Gespenstertreiben übte einen berückenden Zauber,
0085ja nachweisbaren Einfluß auf die von Victor Hugo com-
0086mandirte französische Jugend. Finden wir nicht für
0087den häßlichen Zwerg Quasimodo, den buckligen Hof[2]-
0088narren Triboulet und ähnliche Lieblingsfiguren der
0089neufranzösischen Romantik die Vorbilder bei Hoff-
0090mann? Kennen wir nicht sogar aus neuester Zeit
0091gespenstische Erzählungen von Erckmann-Chatrian, die
0092ohneweiters Hoffmann geschrieben haben könnte? In Erck-
0093mann’s Roman „Les Brigands des Vosges“ erscheint
0094sogar neben allerlei Vagabunden und Zigeunern auch Hoff-
0095mann selbst mit Ludwig Devrient im Räuberlager. Sollte
0096Jules Barbier vielleicht gar Gervinus’ „Literaturgeschichte“
0097gelesen haben, er könnte folgenden merkwürdigen Ausspruch
0098für sich anführen: „Hoffmann’s Werke und Leben, zum
0099Objecte einer kunstvoll behandelten Darstellung gemacht,
0100könnten wie Lichtenberg’s und Jean Paul’s Erscheinungen
0101zu besseren Kunstwerken werden, als diese Männer selbst
0102geliefert haben.“ Zum singenden Opernhelden hat aber
0103Gervinus unseren Hoffmann gewiß nicht vorgeschlagen.
0104Wie Jules Barbier den Stoff geformt und wie Offenbach 
0105ihn musikalisch ausgeführt und geschmückt hat, davon war
0106in diesem Blatt erst kürzlich die Rede. So dürfen wir
0107denn zur der Aufführung oder vielmehr zu den Auf-
0108führungen im Hofoperntheater übergehen.


0109Das Vorspiel in der berühmten Berliner Weinstube
0110von Lutter (nicht „Luther“, wie der Theaterzettel angibt)
0111bietet ein lebendig bewegtes Bild. Die Studentenchöre, von
0112Pacal’s prächtigem Tenor geführt, klingen frisch und
0113fröhlich; Hoffmann tritt ein; Schrödter singt ihn am
0114ersten Abend, Naval am zweiten. Ersterer faßt den
0115Charakter realistischer, leidenschaftlicher, und wird in dieser,
0116wie ich glaube, richtigen Auffassung durch sein klangvolles
0117Organ trefflich unterstützt. Herr Naval, wie immer ein
0118liebenswürdiger, feiner Darsteller, erinnert in seiner
0119träumerisch stillen Weise mehr an Werther als an
0120Hoffmann. Man möchte beinahe fragen: Wie kommt
0121dieser Mann in eine rauchige Weinstube unter
0122lärmende Zechbrüder? ... Der erste Act, der heiterste,
0123musikalisch gefälligste, glänzt durch sein musterhaftes
0124Ensemble. Als charakteristisch sei nebenbei erwähnt, daß
0125Director Mahler noch in der Generalprobe die sehr
0126einfachen ersten Tacte des G-dur-Walzers mindestens ein
0127Halbdutzendmal von den Violinen repetiren ließ, bis das
0128Anschwellen und Abnehmen im Rubato ganz zu seiner
0129Zufriedenheit erreicht war. Mahler ist schwerlich ein Ver-
0130ehrer Offenbach’s, aber dem Werke, das er einmal zu
0131dirigiren unternimmt, gehört seine ganze Fürsorge und
0132Hingebung ... Olympia, die reizende automatische Puppe,
0133trippelt, von ihrem Verfertiger Spalanzani geleitet, in den
0134Saal, und singt und tanzt da mit erstaunlicher Bravour.
0135Frau Schoder gibt die Scene bewunderungswürdig;
0136mit derselben steifen Sicherheit und unbeweglich leblosem
0137Blick erledigt sie die schwierige Sing- und Tanzproduc-
0138tion. Auch in den folgenden Acten, als Giulietta und
0139Antonia, liefert sie Probestücke ihrer ungewöhnlichen
0140Verwandlungsfähigkeit. Die Rolle erfordert mehr
0141Geist als Empfindung, mehr Kunst als Stimme;
0142Frau Schoder befand sich also in ihrem eigensten Element.
0143Frau Saville, welche die Rolle, vielmehr die Rollen-
0144trilogie am zweiten Abend sang, vermochte trotz redlichster
0145Anstrengung ihre Vorgängerin nicht als Sängerin noch
0146weniger als Schauspielerin zu erreichen; allerdings schien
0147sie etwas indisponirt. Den jungen Begleiter Hoffmann’s
0148Niklas, gibt an beiden Abenden Fräulein Kusmitsch.
0149Sie singt ihre Couplets von der Puppe flott und zierlich;
0150nur spielt sie wie die meisten Damen in Männerkleidung
0151mit übertriebener Lebhaftigkeit. Für den Spalanzani ist
0152Herr Schittenhelm durch seine discrete Komik und
0153musterhaft deutliche Aussprache wie geschaffen. Indiscrete
0154Komik müssen wir leider dem talentvollen Herrn Breuer nach-
0155tragen, dessen Quietschen und sonstiges Uebertreiben allenfalls
0156in die Localposse gehört. ... Der an anderen Bühnen meistens
0157weggelassene zweite Act war mir, wie den meisten Zuhörern,
0158eine Novität. Musikalisch ginge nicht viel daran verloren,
0159wird doch das weitaus hübscheste Stück, die (aus den
0160Rheinnixen“ gerettete) Barcarole, an anderer Stelle ein-
0161geschoben und erklingt überdies als selbstständiger Entreact.
0162Diese Zwischenactmusik wird im Hofoperntheater so ent-
0163zückend gespielt, daß sie jedesmal zur Wiederholung ver-
0164langt wird. Beim Aufziehen des Vorhanges überrascht
0165uns ein reizendes Bild: aus einer säulengetragenen pracht-
0166vollen Halle blicken wir auf den Canale Grande, welchen
0167reichgeschmückte, beleuchtete Gondeln beleben. Was diesem
0168Ausstattungswunder an dramatischer Handlung folgt, ist
0169theils gewöhnlich (wie das Liebesduett), theils unverständ-
0170lich. Der Zuschauer müßte anstatt des Theaterzettels einen
0171verläßlichen „Führer“ durch E. Th. A. Hoffmann’s 
0172Schriften mitbringen, um herauszufinden, was da Alles
0173auf der Scene in verwirrender Eile abgehandelt wird.
0174Neun Personen kommen und gehen nach einigen Tacten,
0175auf Nimmerwiedersehen. Man weiß nicht recht, wer sie
0176sind und was sie wollen. Was ist’s mit dem Spiegel, in
0177welchem Giulietta das Gesicht Hoffmann’s „für ewige
0178Zeiten“ aufhängt? Was ist’s mit „Schlemihl“ (Neidl),
0179der in ganz derselben Maske auftritt, wie im folgenden
0180Act „Dr. Miracle“ (Ritter)? Was hat der einäugige
0181Oberst mit der Handlung zu schaffen? Was der scheuß-
0182liche bucklige Zwerg, der sich zu den Füßen Giulietta’s
0183herumwälzt? Dies Alles und noch Anderes läßt an Un-
0184verständlichkeit nichts zu wünschen übrig. ... Der dritte
0185Act führt uns in das Zimmer der brustkranken Antonia.
0186Ihr Monolog und Duett mit Hoffmann verlangen dringend
0187nach dem Rothstift. Das ist Alles zu ausgedehnt und
0188monoton, mit Rücksicht darauf, daß die wichtigere zweite
0189Hälfte dieses Actes (Miracle’s wiederholtes Erscheinen, das
0190Terzett mit dem Bildniß der Mutter, das Sterben Antonia’s)
0191einen unverhältnißmäßig großen Raum einnimmt. Für das
0192Schauerliche, Gespenstische dieser Scenen hat Offenbach ganz
0193originelle, ergreifende Töne gefunden. Daß als kurzes
0194Nachspiel dann noch einmal die bekannte Weinstube erscheint
0195und der lustige Studentenchor erklingt, ist vielleicht unnöthig
0196für den Abschluß des Dramas, aber keineswegs für die
0197Beruhigung unserer Nerven. Man ist doch endlich da
0198wieder unter Menschen. ... In der dreifachen Rolle des
0199Coppelius, Dapertutto und Miracle haben die Herren
0200Ritter und Hesch mit Auszeichnung abgewechselt. Für
0201den Dr. Miracle ist Hesch durch sein Aussehen und den
0202markerschütternden Klang seiner dumpfen Baßstimme ganz
0203vorzüglich geeignet. Er macht uns angst und bange —
0204und das will der Componist. Darüber soll die lobens-
0205werthe Ausführung der kleineren Rolle „Krespel“ durch
0206Herrn Frauscher nicht vergessen werden.


0207Hoffmann’s Erzählungen“ haben, wie bereits gemeldet,
0208an beiden Abenden eine überaus beifällige Aufnahme ge-
0209funden und dürften nicht so bald vom Repertoire ver-
0210schwinden. Offenbach’s „Hoffmann“ ist ohne Frage ein
0211hochinteressantes Werk, und wer dessen lustige Operetten
0212nicht kennt, mag es für sein bestes halten.

Fußnoten
  • *)Vier Chorverse konnte ich lange nicht vergessen:
    „Seht, der Arme da ist er, /
    Sein Antlitz ist düster, /
    Doch ziemt der Tod ihm nicht nur, /
    Mit dem Wicht erst auf die Tortur!“ /