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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13404. Wien, Dienstag, den 17. December 1901

[1]

Musik.

(Viertes Philharmonie-Concert. Conservatoriums-Concert. B. Hubermann. Die neue Universal-Edition.)


0003Ed. H. „C’est Vénus toute entière à sa proie
0004attachée!“ Wie ein Leitstern (erzählte mir Massenet)
0005habe dieser Vers aus Racine’s Tragödie ihm vorange-
0006leuchtet, als er seine Ouvertüre zu „Phädra“ componirte.
0007Das Trauerspiel, in welchem Racine’s Leidenschaftsmalerei
0008ihre Höhe erreicht, mußte vor Allem einen Franzosen zu
0009musikalischer Verherrlichung reizen. In Deutschland hat das
0010Publicum sich niemals für Racine ehrlich begeistert, ebenso-
0011wenig wie für die Trauerspiele von Corneille und Voltaire.
0012Die Bemühungen Goethe’s, der in dem Tragödienstyl der
0013französischen Classiker ein Heilmittel gegen die einbrechende
0014Romantik erblickte und „Mahomet“ sowie „Tancred“ für sein
0015Weimarer Theater bearbeitet hat — sie trugen nur sehr
0016kurze Zeit die gewünschte Frucht. Als er Schiller zur Be-
0017arbeitung der „Phädra“ drängte, sträubte sich dieser an-
0018fangs dagegen. Allein Goethe trieb ihn fleißig an. „Die
0019gehetzte Leidenschaft gibt dem Stücke Leben,“ schreibt
0020er 1803 an Schiller, als dieser ihm die drei
0021ersten Acte seiner „Phädra“-Uebersetzung zuschickt.
0022Trotz der vornehmen Pathenschaft Goethe’s und Schiller’s
0023sind die französischen Tragödien des siebzehnten Jahr-
0024hunderts
längst von unseren Bühnen verschwunden. Ich
0025habe es als Student noch erlebt, wie die berühmte Rachel 
0026sich in Wien als Phädra vor einem herzlich kühlen
0027Publicum vergeblich in die Hitze declamirte. Goethe ist
0028übrigens auch nicht immer der dramatische Franzosenfreund
0029gewesen, der in späteren Jahren seine Weimarer mit Cor-
0030neille und Racine classisch zu erziehen suchte. Wie ganz
0031anders lautete seine Rede bei der Frankfurter Shakespeare-
0032Feier (1771)! „Darum,“ so schloß er, „sind auch alle
0033französischen Trauerspiele Parodien von sich selbst; wie
0034das so regelmäßig zugeht und sie einander ähnlich sind
0035wie Schuhe.“


0036Massenet’s Phädra-Ouvertüre, um auf diese
0037zurückzukommen, ist uns als interessante Novität von
0038Director Hellmesberger vorgeführt worden; zu Massenet’s
0039neuesten Compositionen zählt sie übrigens nicht. Schon im
0040Jahre 1873 dirigirte sie Pasdeloup im Cirque d’hiver;
0041später (1888) Lamoureux. Ein schmerzlich aufschreiender
0042verminderter Septim-Accord leitet in ein melancholisches
0043G-moll-Andante, das sich bald (Allegro appassionato) in
0044die Dur-Tonart stürzt. Sei es dem Hörer überlassen, wo
0045er die heißblütige Werbung Phädra’s, wo das ablehnende
0046Zurückweichen ihres tugendhaften Stiefsohnes Hippolyt 
0047heraushören mag. Besonders Phantasievolle dürften wol auch
0048den Wunderstier agnosciren, vor dem, auf Neptun’s Geheiß, die
0049erschreckten Pferde durchgehen und Hippolyt zu Tode schleifen.
0050Die Ouvertüre macht, ohne erheblich Neues und Bedeutendes
0051zu offenbaren, doch einen günstigen Eindruck. An ver-
0052schiedenen Anlehen bei deutschen Componisten (sogar bei
0053Reissiger) fehlt es freilich nicht. Aber das von geistreichen
0054Orchester-Effecten gehobene theatralische Talent Massenet’s
0055verleugnet sich eben nirgends ganz. ... Es folgten an
0056zweiter Stelle R. Heuberger’sVariationen über ein
0057Thema von Franz Schubert.“ Sie sind bereits in dem
0058Philharmonischen Concerte vom 7. März 1880 unter Hans
0059Richter’s Leitung gespielt worden, dann 1892 in einem
0060Concert der „Wiener Musik- und Theater-Ausstellung“.
0061Also keine Novität, welche wiederholter Besprechung be-
0062dürfte. Die sehr virtuos gespielten Variationen
0063fanden auch diesmal lebhaften Beifall, für welchen
0064der anwesende Componist persönlich danken mußte.
0065Das Beste zum Schluß: Beethoven’s A-dur-Symphonie.
0066Das erste Conservatoriums-Concert bot
0067freundliche Eindrücke. Den günstigsten mit dem ersten Satz 
0068von Rubinstein’sOcean-Symphonie“; man spielte
0069nur diesen einen, welcher im Grunde die ganze Symphonie
0070ist. Auf diese stolze Ausfahrt mit vollen Segeln folgen
0071bekanntlich nur wenig interessante musikalische Reise-
0072Abenteuer. Aber auch dieser erste Satz wirkt heute mehr
0073durch Wohlklang und schlank emporstrebenden Wuchs,
0074als durch die Wucht der Gedanken: dem Ocean
0075fehlt die Tiefe. Das Schüler-Orchester machte unter der
0076Leitung des Directors Richard v. Perger die Seefahrt
0077tapfer, ohne Schwankungen mit. Der reiche Beifall, der,
0078wie auch sonst, insbesondere nach dieser Vortragsnummern
0079erscholl, schien eines leichten demonstrativen Beigeschmacks
0080nicht zu entbehren. Auch das Chor-Ensemble des Conserva-
0081toriums fand in a capella-Sätzen von Goldmark,
0082Brahms und Schumann lebhaften Anklang. Es
0083wurde rein, mit sorgfältig abgestufter Dynamik gesungen,
0084wenngleich unter der ortsüblichen Vorherrschaft des
0085weiblichen Stimmmaterials über das männliche. Wie
0086lauten doch die schönen Worte Martin Luther’s, die
0087man da mit der anschmiegsamen Musik Goldmark’s
0088gehört hat? „Wer sich die Musik erkiest, hat ein
0089himmlisch Werk genommen.“ Es versteht sich, daß an einem
0090Conservatorium lebhafter Andrang herrscht zu solch gott-
0091gefälligem Thun. Unmöglich, all den Schülern zu folgen,
0092die in wohlvorbereiteten Solos ihre Stimme, ihre
0093Geige, ihr Violoncell und selbstverständlich ihr Clavier
0094hören ließen. Ein beachtenswerthes Talent scheint Herr
0095Alfred Schaffer, der das Es-dur-Concert von Liszt mit
0096Bravour und Ausdauer bewältigte. Auch Fräulein Blan-
0097dine Höller erwies sich in dem Vortrag des Mendels-
0098sohn’schen Violinconcerts als ein vielversprechendes Talent.
0099Recht weit hat sie allerdings noch zu der künstlerischen
0100Vollendung, mit welcher jüngst Bronislaw Hubermann 
0101dieses Concert gespielt hat.


0102Hubermann’s Talent hat in diesem Blatte bereits
0103von anderer Seite Würdigung erfahren; trotzdem drängt
0104es mich, dem jungen Künstler auch meinerseits ein Wort
0105dankbarer Anerkennung auf seine Weltreise mitzugeben. So
0106jung er ist, zu den größten der heute gefeierten Violin-
0107spieler darf man ihn getrost zählen. Wie bändigt er die
0108sich gewaltig aufbäumenden Schwierigkeiten des Brahms-
0109schen Concertes — eine Leistung, die bekanntlich Brahms [2]
0110selbst schon bei Hubermann’s erstem Auftreten vor sieben
0111Jahren mit freudigem Staunen begrüßt hat! Wie mühelos
0112und gelassen vollbringt er den athemversetzenden Dauerlauf
0113des Bach’schen Präludiums! Was ich aber noch höher achte und
0114noch seltener antreffe, als diese Proben außerordentlicher
0115Virtuosität, ist der unbeschreiblich süße, innige Gesang, den
0116Hubermann aus dem Chopin’schen Notturno zieht. Ein
0117stärkeres Zeugniß für die echt musikalische Natur des
0118jungen Künstlers, als die verblüffendsten Sprünge auf dem
0119gespannten Seil der Paganini’schen „Hexenvariationen“.
0120Der Beifall des Publicums, das in zwei rasch aufeinander-
0121folgenden Concerten Hubermann’s den großen Musik-
0122vereinssaal füllte, war, dem Gebotenen entsprechend, ein
0123außerordentlicher — eine Huldigung in bester Form.


0124Wie kommt es nur, daß wir Musikkritiker, die wir
0125jahraus jahrein von allen Componisten und Dirigenten,
0126allen Sängern und Sängerinnen, allen Geigern und Pia-
0127nisten sprechen, fast nie ein Wort haben für den wichtigen
0128musikalischen Factor, ohne welchen all jene Concertgrößen
0129nicht agiren könnten — für den Musikverleger? In dem
0130Schaufenster von Rosé’s Musikhandlung bemerkte ich
0131jüngst etliche in Roth und Grün elegant gebundene und
0132goldverzierte Notenbände: Clavierwerke alter und neuer
0133Meister, Liedersammlungen, Violin-Compositionen u. s. w.,
0134sämmtlich gezeichnet von der Wiener Verlagsfirma „Uni-
0135versal-Edition
“. Da mir, offen gestanden, diese Firma
0136und ihre so schmucken Aufgaben völlig fremd waren, er-
0137kundigte ich mich über deren Tendenz und Thätigkeit.
0138Nachstehende mir bereitwilligst gegebene Aufklärungen dürften
0139für unsere musikalischen Leser nicht ohne Interesse sein.


0140Die von dem Wiener Musikverleger Joseph Wein-
0141berger begründete „Universal-Edition“ bezweckt in erster
0142Linie, den heimatlichen Musikmarkt für die wichtigsten Ge-
0143biete der musikalischen Literatur vom Auslande unabhängig
0144zu machen. Der gesammte inländische Bedarf an classischer
0145und instructiver Musik wurde bisher von den bekannten
0146deutschen Editionsfirmen gedeckt; jeder Gulden, der in
0147einer österreichischen Musikalien-Handlung für solche Werke
0148bezahlt wurde, wanderte nach Leipzig. Der Ablauf der
0149gesetzlichen Schutzfrist für Compositionen bedeutender Ton-
0150setzer blieb für Oesterreichs Musikhandel ohne jeden Vor-
0151theil, da Niemand da war, der von diesen Gemeingut ge-
0152wordenen Schätzen Gebrauch machte; man bezog diese 
0153Werke nach wie vor aus Leipzig. Der Gründung der
0154Wiener „Universal-Edition“ haben sich die Hauptinteressenten
0155der einschlägigen Berufszweige angeschlossen: Oesterreichs
0156größte Notendruckerei, sowie die bedeutendsten Musikverlags-
0157Handlungen und Sortimente. Bei den Schwierigkeiten der
0158Concurrenz gegenüber den bestehenden ausländischen Editionen
0159galt es eben, ein Unternehmen zu schaffen, dem von vorn-
0160herein ein großer Kreis von Theilnehmern gesichert war.
0161Am 1. October d. J. hat die „Universal-Edition“ mit der
0162Herausgabe ihrer Editionen begonnen, und bis heute sind
0163bereits 400 Bände erschienen. Allmonatlich soll nunmehr
0164eine Reihe weiterer Bände erscheinen, bis die „Universal-
0165Edition“ auf allen Gebieten an Umfang den größten deutschen
0166Editionen entsprechend ausgebaut sein wird. Der Erfolg
0167ist jetzt schon, in den ersten Monaten des neuen Unter-
0168nehmens, ein außerordentlicher. Sehr förderlich erwies sich
0169dabei die officielle Empfehlung des k. k. Unterrichts-
0170ministeriums
. Den Unternehmern wurde überdies die
0171besondere Genugthuung, daß die neue österreichische Aus-
0172gabe auch im Auslande großer Sympathie begegnet. In
0173Deutschland und England ist die „Universal-Edition“ bereits
0174mit Erfolg eingeführt; in Frankreich und Amerika ist deren
0175Einführung im Zuge; ebenso in Belgien, Holland und in
0176der Schweiz. In der österreichischen Handelsstatistik erscheint
0177jetzt zum erstenmale eine beträchtliche Ziffer für Export
0178von Musikalien. Sie dürfte in absehbarer Zeit eine sehr
0179respectable Höhe erreichen. Gegen die älteren bekannten
0180Ausgaben, die durchwegs vor 20 bis 30 Jahren erschienen
0181sind, genießt die „Universal-Edition“ auch den Vorzug, daß
0182alle Unterrichtswerke oder beim Unterricht verwendeten
0183classischen Compositionen von hervorragenden Musik-Päda-
0184gogen nach den Grundsätzen der modernen Technik revidirt
0185und herausgegeben sind. Es seien nur aus Wien die
0186Namen Epstein, Door, Ignaz Brüll, Rückauf,
0187A. Rosé und J. Hellmesberger genannt, denen
0188sich zahlreiche auswärtige Notabilitäten anschließen. Die
0189überraschend schnellen Erfolge dieses uns vom Ausland
0190unabhängig machenden Musik-Unternehmens haben somit
0191nicht blos eine künstlerische, sondern obendrein eine eminent
0192österreichisch-patriotische Bedeutung. Aus diesem Gesichts-
0193punkte erschien es uns Pflicht, unseren Lesern davon zu
0194erzählen.