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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13821. Wien, Dienstag, den 17. Februar 1903

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Concerte und Oper.

(Sechstes Philharmonisches Concert — Rosé-Quartett — Marschner’s „Hans Heiling“.)


0001Ed. H. „Irrungen und Wirrungen“, lautet der Titel
0002eines Romanes von Theodor Fontane. Er fiel uns ein in
0003den zwei letzten philharmonischen Concerten, deren un-
0004vermuthet abgeändertes Programm einige Confusion im
0005Publicum hervorbrachte. Wurde doch im fünften Concert
0006statt Grädener’s lange vorher angezeigter neuer Symphonie 
0007Schumann’s Es-dur-Symphonie gespielt; in dem gestrigen
0008sechsten Concert fehlten sogar zwei an allen Straßenecken
0009wochenlang angekündigte Nummern: Haydn’s hier noch
0010nie gehörte Symphonie „Le midi“ und Goldmark’s
0011Ouvertüre „Penthesilea“. An ihrer Stelle überraschte uns
0012Beethoven’s A-dur-Symphonie — ein Wunderwerk, aber
0013ein allbekanntes, das seit seiner ersten Aufführung (1813)
0014im Verlaufe von achtzig Jahren weit über hundertmal hier
0015gefeiert worden ist. Keine Frage, daß plötzliche Programm-
0016änderungen, mögen sie noch so werthvollen Ersatz stellen,
0017eine eigenthümliche Unruhe und fast an Enttäuschung
0018streifende Unlust hervorrufen, namentlich in den sich
0019ernsthaft vorbereitenden musikstudirenden Zuhörern. Wir
0020dürfen wol hoffen, daß künftighin an den veröffentlichten
0021Programmen nicht plötzlich ohne Noth gerüttelt werde. „Ver-
0022sprechen muß man halten,“ singt schon Robert der Teufel.


0023Das Concert begann mit Hermann Grädener’s 
0024neuer Es-dur-Symphonie. Sie hat weder Titel noch Pro-
0025gramm — gottlob, möchten wir beifügen, sind wir doch
0026bereits der wunderlichen Ausschriften überdrüssig, mit welchen 
0027die neuesten Orchesterwerke sich in fremdes Gebiet, in
0028Malerei und Dichtkunst einbetteln. Nachdem Richard Strauß 
0029einer Symphonie den athemversetzenden Titel „Also sprach
0030Zarathustra“ aufgeladen hatte, wissen die Jüngeren kaum
0031mehr, wie sie es dem Titelmeister nach- oder zuvorthun
0032sollen. Glitz schreibt eine Symphonie „Venus und
0033Bellona“, Hans Huber eine „Carvis“. Unter diesem
0034unverständlichen Titel vollzieht sich die Verwandlung eines
0035Mädchens in einen jungen Mann oder auch der Melodie in
0036einen Orchesterklang-Effect. Die neueste Symphonie des-
0037selben Hans Huber heißt „Böcklin“. Gewiß das Aller-
0038modernste. Unsere Wiener Symphoniker haben sich von
0039dieser Titelmode auffallend ferngehalten. Wie wäre es mit
0040einer symphonischen Dichtung „Lueger“? Das gäbe auf-
0041regenden Stoff zur Illustration stürmischer Gemeinde-
0042rathssitzungen. Enthusiastisch applaudirt die Majorität des
0043Concertpublicums, und falls ein Einzelner zu zischen wagt,
0044wird er für 50, für 100 Tacte ausgeschlossen, endlich
0045für das ganze Adagio oder Finale. Dergleichen läßt Grä-
0046dener’s neue Symphonie nicht zu; sie hat keinen Titel,
0047dafür aber Mittel. Ein in bestem Sinn musikalisch er-
0048dachtes, musikalisch ausgeführtes Werk; eine groß angelegte
0049Tondichtung von ernstem, strengen, durchaus pathetischem
0050Charakter. Mehr als in Grädener’s früheren Compositionen
0051überwiegt hier die gelehrte Arbeit, die geistreiche Com-
0052bination. Der Contrapunktiker überragt den Erfinder oder,
0053wie es vor Zeiten hieß, der „Setzer“ den „Sänger“. Man
0054ist nicht ungestraft ein berühmter Professor der Musik-
0055theorie am Conservatorium. Im Großen und Ganzen
0056mahnt die Ausdrucksweise an Brahms und Schumann;
0057im Einzelnen verfällt sie keiner Reminiscenz. Grädener 
0058bleibt allzeit selbstständig. Nur selten mit einem größeren
0059Werk hervortretend, widmet er ihm dann die musterhafteste
0060Sorgfalt in der Ausführung. Am meisten gefiel von den
0061vier Sätzen das Scherzo mit seinem geheimnißvoll auf-
0062rauschenden, geistreichen Thema. Dieser Satz allein ver-
0063schont den Hörer ein Weilchen mit dem maßlosen Lärm,
0064welcher den Genuß und das Verständniß der Symphonie
0065so anhaltend schädigt. Wie gerne folgten wir so manchem
0066zarten Geäder, verschlänge nicht das erbarmungslose
0067Wüthen der Blechinstrumente und Pauken jede feinere
0068Zeichnung. Wir müssen leider vorläufig darauf verzichten,
0069in die Einzelheiten der interessanten Novität einzugehen.
0070Wenn der geschätzte Componist sich entschließen kann, jeden 
0071der vier Sätze zu kürzen und das beklemmende Dickicht
0072seines Orchesters zu lichten, dann werden die Vorzüge
0073seiner Symphonie noch ungleich stärker und unmittelbarer
0074wirken. Die Novität wurde lebhaft applaudirt und der
0075Componist nach dem Scherzo und dem Finale wiederholt
0076gerufen. Herr Hofopern-Capellmeister Schalk, der in
0077Vertretung des plötzlich erkrankten Directors Hellmesberger 
0078von Grädener’s schwieriger Symphonie, wie wir hören,
0079nur Eine Gesammtprobe abhalten konnte, hat sich damit
0080neuerdings als ausgezeichneter Dirigent bewährt.


0081Alte Liebe rostet nicht. Beethoven’s mehr als
0082hundert Jahre altes Septett lockt und entzückt noch
0083heute jeden Musikfreund. Wir hören es in der Regel
0084einmal im Jahre als Hauptnummer eines Rosé’schen
0085Extraconcerts; trefflich ausgeführt und mit freudigster
0086Andacht genossen. Neben dem Septett galt ehedem die
0087Adelaide“ als das beliebteste Werk Beethoven’s; in un-
0088zähligen Ausgaben und Arrangements verbreitet, hat es
0089doch seit längerer Zeit dem Septett den Vortritt über-
0090lassen. Das sentimentale Matthison’sche Gedicht findet
0091heute keine Resonanz mehr im Publicum, und die zarte
0092Composition hat schließlich vor den Reizen moderner
0093Liederkunst capituliren müssen. Außer dem Septett erfreute
0094uns noch Schumann’s köstliches Clavierquintett in Es.
0095Ein vorzüglicher Pianist, Herr Joseph Lhévinne, spielte
0096es mit unserem bewährten Rosé-Quartett voll Feuer
0097und Verständniß. Daß sie es „zu voller Geltung
0098brachten“, wie die beliebte Reporterphrase heißt, kann man
0099trotzdem nicht fragen. Die Künstler haben das Stück gewiß
0100so gut gespielt, wie etwa im Bösendorfer-Saal — aber
0101es klang nicht so gut. Dieselbe für einen kleineren Raum
0102wirksame Tonstärke reicht nicht aus für den großen Musik-
0103vereinssaal. Man vermeinte, die Musiker spielten viel
0104schwächer, in Wahrheit hat es nur schwächer geklungen.
0105Am leichtesten über die Ungunst des Saales siegt noch die
0106Singstimme; auch die zarteste, wenn sie so kunstvoll be-
0107handelt wird, wie von Frau Bricht-Pyllemann.
0108Durch den Reiz ihrer silberhellen Kopftöne verhalf sie
0109Grieg’s wunderlichem „Solveigslied“ zu einer fast unge-
0110ahnten Wirkung. Für Hugo Wolf’s „Gärtner“ hätten wir
0111nicht ungern die Schumann’sche Composition desselben
0112Gedichtes eingetauscht (op. 107), die wir öffentlich noch nie
0113zu hören bekamen. Frau Bricht-Pyllemann darf sich eines
0114echten großen Erfolges rühmen.

[2]


0115Vor einigen Tagen lockte mich eine alte Liebe ins
0116Hofoperntheater: Marschner’s „Hans Heiling“. Man
0117feierte die 100. Aufführung dieser Oper in Wien. Schon 
0118die hundertste? Im Laufe von 57 Jahren! Armer Hans
0119Heiling. Schäme dich vor dem „Rastelbinder“, der jetzt
0120nach drei Monaten seine 50. Wiederholung erlebt! Ver-
0121krieche dich vollends vor dem „Süßen Mädel“, das in einem
0122halben Jahre es so weit gebracht hat, wie du in einem
0123halben Jahrhundert — zu 100 Aufführungen! Die erste
0124Wiener Vorstellung von „Hans Heiling“ (Januar 1846)
0125war, ohne Sensation zu machen, doch so günstig auf-
0126genommen worden, daß der Componist im Sommer des-
0127selben Jahres nach Wien reiste, um seine Oper einmal selbst
0128zu dirigiren. Er hatte dafür ein Duett zwischen Anna und
0129Conrad im dritten Acte hinzucomponirt, das jetzt noch ganz
0130besonderen Beifall erntet. Um sich damit bei den Wienern
0131„ein Bildel einzulegen“, verließ Marschner hier den düsteren,
0132schweren Ton, die unruhige, überfüllte Instrumentirung
0133und stützte die freudig aufjauchzende Melodie auf eine
0134einfachere Begleitung. Seither hat dieses Einlagestück sich
0135überall erfolgreich erhalten. Entschiedenen Gewinn für
0136Hans Heiling“ brachte dessen Uebersiedlung ins neue
0137Opernhaus; wir finden da im Januar 1871 schon Beck 
0138als Heiling, Walter als Conrad, Minnie Hauck als
0139Anna, die Materna als Gnomenkönigin. Die Wieder-
0140holungen sickerten trotzdem noch immer spärlich. Vom Jahre
01411871 bis heute, also in mehr als dreißig Jahren, ist die
0142Oper 65mal gegeben worden. Ein Hauptverdienst an der
0143gesteigerten Anziehungskraft des „Heiling“ gebührt Herrn
0144Reichmann, der, ein warmer Verehrer und prädestinirter
0145Darsteller der Marschner’schen Baritonpartien, neben
0146Heiling“ auch dem „Templer“ und dem „Vampyr“ hier
0147zu neuen Ehren verholfen hat.


0148Dem „Templer“, diesem Werke voll dramatischer
0149Gluth und zartem melodischen Reiz, sollte es in Wien 
0150nicht so gut ergehen — eigentlich herzlich schlecht. Die
0151erste Aufführung von „Templer und Jüdin“ im alten
0152Opernhause hat im Jahre 1849 stattgefunden, die letzte
0153im Jahre 1862. In diesen dreizehn Jahren erlebte
0154der „Templer“ 3, sage drei Aufführungen! Die Oper
0155war eben nicht nach dem Geschmack der Wiener. Ich hatte
0156den „Templer“ in Prag liebgewonnen, wo er, sowie
0157Heiling“ als unfehlbares Repertoirestück beliebt war, ehe
0158man in Wien etwas von Marschner wußte. „Der Wiener 
0159Mißerfolg“ — so schrieb ich damals in der „Wiener
0160Zeitung“ — „mußte Jedermann schmerzen, der in Marschner’s
0161Templer“ ein Werk zu ehren glaubte, dessen Fall unmög-
0162lich ist. Der 10. Januar 1849 hat diesem Glauben ein Ende
0163gemacht, und die letzte Stadt, welche den „Templer“ zur
0164Aufführung gebracht, Wien, ist auch die erste, die ihn
0165fallen ließ. Zur theilweisen Entlastung des Publicums
0166war nur zu bemerken, daß die Aufführung kaum ein ge-
0167treues Bild des Werkes zu bieten vermochte. Vortrefflich
0168erschien nur Staudigl als Waldbruder Tuck. Die letzte
0169Aufführung von „Templer und Jüdin“ im alten Opern-
0170hause (1862) glänzte in musterhafter Besetzung. Beck als
0171Templer, Ander als Ivanhoe, die Dustmann als
0172Rebekka lebten begeistert in ihren Rollen. Vortrefflich war
0173auch Hölzl als Tuck; dennoch hat er die Oper für lange
0174Zeit umgebracht und die Oper ihn. Ein aufregendes
0175Theater-Ereigniß. Es war Herrn Hölzl von der Theater-
0176censur untersagt worden, als Tuck mönchische Kleidung
0177anzulegen und das erste Lied mit dem Originaltext vor-
0178zutragen; statt des Refrains „Ora pro nobis“ sollte er
0179singen „Ergo bibamus!“ Durch diese Aenderung wird
0180nicht blos die auf den Contrast gestellte Wirkung des Musik-
0181stückes total vernichtet, sondern die ganze Scene in boden-
0182losen Unsinn verkehrt. Für einen Sänger, der mehr als
0183eine geistlose Puppe, wird eine Darstellung der also abge-
0184änderten Scene beinahe zur Unmöglichkeit. Hölzl lieferte
0185den augenscheinlichen Beweis dafür in der Generalprobe,
0186deren erbärmlicher Effect ihn offenbar stark herabgemuntert
0187hatte. Er wagte es also, in der Abendvorstellung die ver-
0188botenen Worte „Ora pro nobis“ zu singen, die sogar in
0189München und auf verschiedenen österreichischen Bühnen un-
0190behelligt erklangen. Die Folge war, daß Hölzl sofort seine
0191Entlassung erhielt und nie wieder die Räume des Hof-
0192operntheaters betreten durfte. Nun war dem armen Hölzel 
0193für immer und der Marschner’schen Oper für viele Jahre
0194das Hofoperntheater versperrt. Heute liest sich das gottlob
0195wie ein Märchen, ist aber doch erst 40 Jahre alt.


0196Erst im November 1883, also nach vollen 20 Jahren,
0197bekamen wir „Templer und Jüdin“ wieder zu hören —
0198im Neuen Opernhause. Leider hat der „Templer“ auch
0199hier bis auf den heutigen Tag, also in 20 Jahren, nur
020028 Vorstellungen erlebt. Die Wiederaufnahme der Oper
0201geschah hauptsächlich auf Betreiben Reichmann’s, welcher
0202den Templer zu seinen Glanzrollen zählt. Neben ihm 
0203finden wir schon Herrn Winkelmann als Ivanhoe.
0204Diese beiden trefflichen Künstler, bis zur Stunde die festen
0205Säulen unseres Operntheaters, verhalfen auch der dritten
0206von Marschner’s Opern, dem „Vampyr“, zu einer wenn-
0207gleich nur kurzen Wirksamkeit in Wien. Allerdings hat
0208Marschner’s Styl sich im „Templer“, noch mehr im
0209Heiling“ geläutert, seine Gestaltungskraft sich gefestigt.
0210Aber auch dort, wo man diese weit besseren Werke
0211Marschner’s pflegt, weiß sein „Vampyr“ sich noch immer
0212leidlich zu erhalten. Das dankt er dem unzerstörbaren
0213Eindrucke seiner Priorität und der Macht der Tradition.
0214Den späteren „Templer“ und „Heiling“ erkannte das
0215deutsche Publicum sofort als die zweite und dritte Ver-
0216gleichungsstufe von Marschner’s Talent, ohne darum den
0217roheren „Vampyr“ ganz zu verbannen. Er war eine erste
0218Liebe gewesen, und zu dieser kehrt man gerne wieder
0219zurück. Anders bei uns in Wien. Nachdem wir den
0220Vampyr“ um ein Halbjahrhundert verspätet und lange
0221nach dem „Hans Heiling“ kennen gelernt, mußte
0222er uns da nicht wie eine wüste Vorstudie zum „Heiling“
0223vorkommen und neben diesem fast überflüssig? So war
0224denn auch der Erfolg des „Vampyr“ bei seiner Wiener
0225Première (1884) weit geringer, als er vier bis fünf
0226Decennien früher gewesen wäre. Natürliche Strafe aller
0227Theater-Directionen, die mit der künstlerischen Production
0228nicht Schritt halten und sie dann eines Tages aus weiter
0229Entfernung einholen möchten. Die Wirkung einer be-
0230deutenden Composition hängt gewiß nicht an der Minute
0231— was du aber vor fünfzig Jahren ausgeschlagen, das
0232bringt keine Ewigkeit zurück.


0233Die hundertste Aufführung des „Heiling“, um wieder zu
0234unserem Anfang einzubiegen, spielte vor einem überaus
0235empfänglichen, dankbaren Publicum, das vollzählig wie zu
0236einer Première sich eingefunden hatte. Frau Forster,
0237noch immer die liebenswürdigste Anna, Reichmann,
0238noch heute der beste Heiling, Schrödter, noch un-
0239verändert der klang- und gemüthvollste Conrad, entzückten
0240wie vor Jahren. Frau Sedlmair, Frau Kaulich,
0241die Herren Schittenhelm und Felix standen ihnen
0242als willkommene Partner zur Seite, und Herr Schalk 
0243als energisch dirigirendes Oberhaupt. So bewahren wir
0244denn dieser Jubiläums-Vorstellung die dankbarste Er-
0245innerung.