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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 13835. Wien, Dienstag, den 3. März 1903

[1]

Musik.

(Siebentes Philharmonisches Concert. — Der neu scenirte „Tristan“.)


0003Ed. H. Verschieden in Form, Inhalt und Klangfarbe
0004präsentirten sich die drei Programmnummern des letzten
0005Philharmonie-Concerts — eine weit glücklichere Anordnung
0006als jene des vorletzten Concerts, welches zwei lange Sym-
0007phonien ohne jede Zwischennummer aneinanderreihte. Die
0008beiden größeren Werke, Tschaikowsky’s E-moll-
0009Symphonie und Brahms’ Violinconcert, sind sattsam
0010bekannt und seinerzeit hier eingehend besprochen worden.
0011Tschaikowsky’s Fünfte Symphonie, durch das stärkere Licht
0012der „Pathetischen“ etwas verdunkelt, theilt mit dieser den
0013zwischen Melancholie und wilder Verzweiflung wechselnden
0014düster leidenschaftlichen Charakter. Auch hier lauert wie dort
0015ein verschwiegenes Programm im Hintergrunde. Zu manchem
0016befremdenden Vor- und Rückblick fehlt uns der poetische
0017Schlüssel; der musikalische allein schließt da nicht auf. Die
0018Pathétique“ steht gegen die E-moll-Symphonie im Vortheil
0019reichlich quellender Erfindung und gedrängter Form. Doch wirkt
0020die letztere stark genug durch ihre melodiöse Frische und Klarheit.
0021Ihre beiden ersten Sätze haben am meisten überzeugende 
0022Logik, relativ auch den reichsten musikalischen Gehalt. Das
0023„Walzer“ betitelte Scherzo wirkt freundlich abspannend
0024nach der Schwermuth der früheren Sätze und macht es
0025uns leichter, den allzu lärmenden Verzweiflungsausbruch
0026des Finale zu ertragen. Die E-moll-Symphonie fand
0027diesmal eine viel wärmere Aufnahme und herzlicheren
0028Beifall, als bei ihrer ersten Aufführung. ... Es folgte
0029das Violinconcert von Brahms. Wir verdanken ihm
0030das Vergnügen, einen der verdienstvollsten classischen
0031Geiger wieder zu begrüßen: Herrn Leopold Auer.
0032In Ungarn geboren (1845), am Wiener Conservatorium
0033dann von Joachim ausgebildet, wirkt Auer seit mehr als
003430 Jahren als Concertmeister an der Petersburger kaiser-
0035lichen Capelle und Violin-Professor am dortigen Con-
0036servatorium. Er hat nicht nur aus jungen Jahren die
0037schöne edle Tonbildung und warme Empfindung sich be-
0038wahrt, die Wahl des überaus schwierigen Brahms-Con
0039certes beweist, daß er auch mit der Zeit rüstig,
0040wenngleich nicht ganz ohne technische Einbuße, vor-
0041geschritten. Als dieses Violinconcert in Wien zuerst unter
0042Joachim’s Bogen erklang (1879), da hätte man
0043dem kraftvoll männlichen, aber etwas spröden Werke bei
0044aller Bewunderung kaum eine starke Popularität voraus-
0045gesagt. Neben den beiden Violinconcerten von Beethoven 
0046und Mendelssohn, diesen blumenbekränzten festen Säulen
0047der Geigen-Virtuosität, hat sich in letzter Zeit das
0048Brahms’sche als drittes angereiht; mit weit größerem
0049Recht als das Max Bruch’sche Concert, welches durch
0050lange Zeit diesen dritten Platz im Concertleben einge-
0051nommen, ihn aber jetzt so ziemlich wieder geräumt hat. ...
0052Zum Schluß hörten wir eine „Ekkehart“ betitelte neue
0053symphonische Ouvertüre von F. Schrecker. Der junge
0054Tonsetzer stammt aus der Schule unseres Robert Fuchs 
0055von dessen zartem, sinnigem Wesen etwas auf die
0056Musik des Jüngeren übergegangen scheint. Das
0057Wiener Publicum hat Herrn Schrecker zuerst vor
0058zwei Jahren kennen gelernt als Componisten des
0059116. Psalms“ für dreistimmigen Frauenchor und Orchester.
0060Das warm empfundene, fein geformte, wenngleich nicht 
0061besonders originelle Stück hat damals lebhaften Beifall
0062errungen. Ein Jahr später hörten wir von Schrecker ein
0063kurzes „Intermezzo“ für Streichorchester, das günstig
0064wirkte durch seinen satten Streicherklang und die weiche,
0065schwärmerische Stimmung. Nun tritt uns der Componist
0066mit einem neuen größeren Orchesterwerk entgegen, einer
0067Ouvertüre zu Victor Scheffel’s „Ekkehart“. Die sinnige,
0068warmherzige Erzählung, die aber starke dramatische
0069Wirkungen weder erreicht noch erstrebt, hatte bald nach
0070ihrem Erscheinen zwei deutsche Tondichter zur Dramati-
0071sirung verleitet: den Stuttgarter Hofcapellmeister J. J. Abert 
0072(1878) und M. Jaffé in Bremen. Beide Opern sind
0073ziemlich rasch und klanglos wieder verschwunden. Ihr
0074Schicksal mag Herrn Schrecker bewogen haben, seinen
0075frommen Helden nur in einem Orchesterstück zu feiern.
0076Wie dessen früher genannte Compositionen zeichnet sich
0077auch die „Ekkehart“-Ouvertüre durch schönen Klang und
0078musterhafte Form aus, ohne starke Originalität zu ver-
0079rathen. Sie hat sehr freundliche Aufnahme gefunden, trotz-
0080dem sie als letzte Nummer nach zwei langen mehrsätzigen
0081Orchester-Compositionen ein bereits ermüdetes Auditorium
0082vorfand. Herr Director Hellmesberger, der nach
0083seiner Krankheit zum erstenmal wieder dirigirte, wurde mit
0084herzlichem Beifall begrüßt.


0085Jüngst brachte das Hofoperntheater eine festlich voraus
0086verkündete Aufführung von Wagner’s „Tristan und
0087Isolde
“. Was daran neu war, die Decorationen und
0088etliche Neubesetzung, hat mein geehrter College Dr. Korn-
0089gold gleich nach der Vorstellung, also nach Mitternacht,
0090in einer fein stylisirten Notiz zum Druck befördert. Das
0091kann ich ihm nicht nachmachen. Zwar habe ich seinerzeit
0092in der Pariser Opéra Comique am selben Abend „Fra
0093Diavolo“ und den „Postillon von Lonjumeau“, also sechs
0094Acte mit Vergnügen angehört, auch im Théâtre Français
0095nach Molière’s „Geizigem“ noch Scribe’s „Damenkrieg“,
0096zusammen zehn Acte — allein für die Aufnahmsfähigkeit
0097des Zuhörers entscheidet nicht blos die Quantität, sondern
0098fast noch mehr die Qualität der Kost. „Tristan und
0099Isolde“, dieses durch volle fünf Stunden in stockender [2]
0100Handlung und schwerblütiger Musik uns niederdrückende
0101Tondrama stellt andächtigen Hörern und sogar sanft ein-
0102nickenden Mode-Wagnerianern eine starke Zumuthung.
0103„Unjung und nicht mehr ganz gesund, wie ich es bin zu
0104dieser Stund’,“ mußte ich, fern vom Opernhause, mich
0105damit begnügen, in verjährten „Tristan“-Erinnerungen zu
0106blättern. Einiges davon dürfte älteren Lesern als Reminiscenz,
0107den jüngeren als Neuigkeit vielleicht willkommen sein. Seltsam
0108genug klingt es, daß Wagner’s „Tristan“ an 25 Jahre lang
0109warten mußte auf seine erste Aufführung in Wien. War
0110doch die Partitur schon 1858 vollendet, 1860 in Druck
0111erschienen. Ein interessantes Vor- und Seitenstück hat
0112dieser lang verzögerte „Tristan“ in dem späten Erscheinen
0113des „Tannhäuser“ im Wiener Hofoperntheater. Vierzehn
0114Jahre waren seit der ersten Aufführung des „Tannhäuser“
0115(in Dresden 1845) verflossen; fast alle deutschen Bühnen
0116— von österreichischen unter anderen Prag und Graz —
0117hatten ihn bereits mit Erfolg gegeben, und noch immer
0118durfte der arme „Tannhäuser“ sich nicht blicken lassen
0119„nächst dem Kärntnerthor“. Die Hoftheater-Censur war
0120unerbittlich; und als sie endlich 1859 ihre Erlaub-
0121niß ertheilte, durfte doch bei der Aufführung weder
0122vom Heiligen Vater noch von Rom die Rede
0123sein. Mit dankbarer Heiterkeit gedenken wir jenes
0124Moments im dritten Acte, da Wolfram den rückgekehrten
0125Pilger fragt: „Warst du denn nicht — „dort“?“ und
0126dieser ihm antwortet: „Schweig mir von — „dort“!“ —
0127Was hingegen Tristan und Isolde betrifft, so stellte man
0128diesen Liebesleuten in Wien keine Censurbedenken entgegen.
0129Ja, Wien war thatsächlich ausersehen und sehr nahe daran,
0130Tristan und Isolde“ zuerst in die Welt einzuführen.
0131Dies ging also zu. An einem schönen Maitage 1861 er-
0132scheint Wagner in Wien, unmittelbar nach seinem Pariser
0133Tannhäuser“-Fiasco. Für das „Wüthen des entsetzlichsten
0134Mißerfolges“, wie er sich ausdrückte, findet er in den be-
0135geisterten Ovationen des Wiener Publicums die glänzendste
0136Entschädigung. Wagner hört hier zum erstenmale seinen
0137Lohengrin“ und lauscht entzückt dem poetischen Vortrage
0138Ander’s und der Dustmann, dem trefflichen Orchester
0139unter Esser’s Leitung. Mit diesem Eindrucke packt ihn 
0140zugleich der Gedanke, Wien sei der prädestinirte Schauplatz
0141für seinen noch nirgends gegebenen „Tristan“. Ein kurz
0142vorausgegangener Versuch, das Werk in Karlsruhe zur
0143Aufführung zu bringen, war nach wenigen Proben erlahmt,
0144obwol die Großherzogin (der auch die Partitur gewidmet
0145ist) sich dessen eifrig annahm. Dann ward Wagner stark
0146verlockt von einer Einladung des Kaisers von Bra-
0147silien
, nach Rio-de-Janeiro zu kommen und dort „Alles
0148in Hülle und Fülle zu haben“. Wirklich faßte Wagner die aben-
0149teuerliche Idee, „Tristan und Isolde“ ins Italienische übersetzen
0150zu lassen und dem Theater in Rio „als italienisches Opus 
0151zur ersten Repräsentation“ anzubieten. Seltsam genug hält
0152er den „Tristan“ für „ein durchaus prakticables Opus, das
0153ihm bald und schnell gute Revenüen abwerfen werde“.
0154Vernünftigerweise ließ er diesen Plan doch bald wieder
0155fallen. Er kehrt in sein Züricher Exil zurück und reist
0156dann nach Paris, von wo er am 15. Juni 1861 Liszt 
0157seinen Wunsch mittheilt, „Tristan“ in Deutschland aufzu-
0158führen. „Ich habe Wien im Auge, das noch immer die
0159besten Sänger besitzt und — als einziges Phänomen dieser
0160Art — von einem sachverständigen Musiker dirigirt wird,
0161mit dem man sich verständigen kann.“ Wagner’s Urtheil
0162war immer unberechenbar; hatte er doch kurz zuvor Liszt 
0163vor dessen Abreise zum Wiener Mozartfest zugerufen:
0164„Ich gratulire zum Wiener Schmutz!“ (Und in einem
0165andern Briefe: „Mir graut vor dieser asiatischen Stadt.“)


0166In Wien wurde „Tristan“ sofort zur Aufführung
0167angenommen, und die Sänger machten sich mit hin-
0168gebendem Eifer an das Studium ihrer Rollen. Vier
0169Jahre später erzählt Wagner in einem Briefe an Friedrid
0170Uhl vom 18. April 1865: „Im Herbst 1861 sollten die
0171Proben beginnen. Eine andauernde Stimmkrankheit machte
0172Ander für diesen ganzen Winter zu einer anstrengenden
0173Beschäftigung unfähig; ein anderer Sänger war um diese
0174Zeit nicht zu gewinnen. Im Sommer 1862 verzweifelte
0175ich bereits an der Möglichkeit einer Wiederaufnahme des
0176Werkes in Wien, als die Direction zu meiner Ueberraschung
0177mir anzeigte, Herr Ander fühle sich vollkommen wieder
0178hergestellt. Meine Wiener Sänger machten mir endlich,
0179durch Esser’s ungemein intelligenten Fleiß und Eifer angeleitet, 
0180die große Freude, die ganze Oper mir fehlerfrei und wirklich
0181ergreifend am Clavier vorzusingen. Wie es ihnen später
0182beikommen konnte, wiederum zu behaupten, sie hätten ihre
0183Partien nicht erlernen können — denn so ist mir berichtet
0184worden — bleibt mir ein Räthsel. ...“ Die Ferien (1863)
0185gingen vorüber und von „Tristan“ war nicht mehr die Rede.
0186In diesem Briefe führt Wagner auch einige Seitenhiebe
0187auf „die musikalische Presse, die sich mit besonderer Vor-
0188liebe der Aufgabe hingegeben, zu beweisen, kein Sänger
0189könne die Noten treffen, noch behalten“. Das konnten die
0190Journalisten jedenfalls nur von den Sängern selbst er-
0191fahren haben. Und das haben sie auch. Auf meine
0192Frage, wie es mit dem „Tristan“ vorwärts
0193gehe, antwortete mir eines Tages Ander: „Den
0194zweiten Act können wir beinahe schon auswendig, aber
0195inzwischen haben wir den ersten wieder vergessen.“ Ander 
0196wäre in der That selbst bei vollständiger geistiger Be-
0197herrschung damals physisch nicht mehr im Stande gewesen,
0198die Tristan-Rolle zu bewältigen. Diese Ueberzeugung klingt
0199ja auch vernehmlich aus Wagner’s eigenen Worten.
0200Wagner sah überall, wo es sich um seine Interessen
0201handelte, durch gefärbte Brillen; leidenschaftlich, parteiisch,
0202im Haß wie in der Liebe. Ein merkwürdiges Beispiel ist
0203seine eifrige Parteinahme für den damaligen Director des
0204Hofoperntheaters Salvi, in dessen Hand er eben das
0205Schicksal seines „Tristan“ wähnte. Wie ein von Wagner 
0206herrührender Aufsatz über das Wiener Hofoperntheater be-
0207weist, erblickte er damals in Salvi einen trefflichen
0208deutschen Operndirector, obwol wir Alle wußten,
0209daß er einer der unfähigsten war. Der Gedanke,
0210es habe Matteo Salvi, der italienische Gesanglehrer
0211und Verdi-Schwärmer, sich durch wirkliches Ver-
0212ständniß des „Tristan“ ausgezeichnet, hat etwas Komisches.
0213Allerdings hatte er als „vernünftiger Theater-Director“
0214gerne nach einer Novität desselben Componisten gegriffen,
0215dessen „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ volle Häuser
0216machten. Sobald er aber inne ward, daß dieser Tristan 
0217ein von jenen himmelweit verschiedener, undankbarer Patron
0218sei, gab er ihn ohne Zaudern auf. Zudem sah er durch
0219die zahllosen anstrengenden Proben sein wichtigsten Mit [3]-
0220glieder geradezu lahmgelegt.*) Hierauf änderte sich natür-
0229lich auch Wagner’s Urtheil über Salvi so gründlich, daß
0230er am 22. März 1870 ohneweiters an Herbeck schreibt:
0231„Der Personalzustand des Hofoperntheaters ist gerade so
0232tief herabgekommen, als ich dies zu jener Zeit voraus-
0233setzen mußte, da dieses Theater der Direction eines Herrn
0234Salvi — völlig wie mit der Absicht der Verwahrlosung
0235— übergeben wurde.“


0236Das Nichtzustandekommen der „Tristan“-Aufführungen
0237in den Jahren 1861 bis 1863 darf man bedauern, ohne
0238deßhalb die Künstler der Hofoper anzuklagen. Heute freilich
0239sieht jeder Opernbesucher in der Aufführung von „Tristan
0240und Isolde“ nur eine verfluchte Schuldigkeit der
0241Direction. Er versetze sich aber, um nicht ungerecht zu
0242urtheilen, in die musikalischen Zustände vor 40 Jahren.
0243Unsere Sänger kannten von Wagner nur den Tannhäuser,
0244Holländer und Lohengrin — Partien, deren hohe An-
0245forderungen doch bescheiden dastehen gegen die Aufgaben
0246von Tristan und Isolde. Wagner selbst betont in einem
0247Brief an Uhl „die großen und durchaus ungewohnten
0248Schwierigkeiten der im Tristan den Sängern gestellten
0249Aufgaben“ und bewundert Bülow, „welcher das Un-
0250mögliche leistete, indem er einen spielbaren Clavierauszug
0251zu Stande brachte, von dem noch Keiner begreift, wie er
0252dies angefangen hat“. Ueber die „Spielbarkeit“ des
0253Bülow’schen Clavierauszuges lauten die Urtheile freilich
0254sehr verschieden; Esser sah sich durch dessen Unspielbarkeit
0255veranlaßt, sich selber einen neuen Clavierauszug zu machen.


0256Wagner gesteht selbst, daß es geradezu des „schöpfe-
0257rischen Willens eines Königs“ bedurfte, um die würdige
0258Aufführung von „Tristan und Isolde“ zu ermöglichen.
0259Dieselbe fand auf Geheiß Ludwig’s II. 1865 in München 
0260statt. Die Münchener Aufführungen sind es übrigens allein
0261gewesen, welche ein Jahrzehnt hindurch den „Tristan“ auf
0262der Bühne gehalten haben. Der Grund ist (nach dem 
0263Zeungniß des bekannten Wagnerianers Richard Pohl)
0264„zunächst in dem durchaus neuen Style zu suchen, in
0265welchem sogar Wagner’s Verehrer sich erst einarbeiten
0266mußten; sodann in der Schwierigkeit, für die Titelrollen
0267Künstler zu finden, die ihre großen Aufgaben erschöpfend
0268lösen konnten“. (Der athletische Tenorist Schott, der erste
0269Tristan in München, ist bekanntlich nach der vierten Auf-
0270führung den Anstrengungen erlegen.) Es dauerte in der
0271That noch lange, bevor die übrigen Bühnen mit „Tristan
0272und Isolde“ nachfolgten — Weimar erst im Jahre 1874,
0273Berlin 1875, ganz zuletzt Hamburg — während doch die
0274viel späteren „Meistersinger“ trotz ihres weit complicirteren
0275musikalischen und scenischen Apparates sich rasch die meisten
0276Bühnen erobert haben. Ein deutlicher Wink, daß es keines-
0277falls blos an den technischen Schwierigkeiten, sondern ebenso
0278sehr an dem Charakter des Werkes selbst lag, warum
0279Tristan“ sich so langsam und spärlich verbreitet hat und
0280noch heute viel seltener als die übrigen Wagner-Opern zur
0281Wiederholung gelangt.


0282Indessen war das „Tristan“-Project der Wiener Hof-
0283oper keineswegs verstorben, nur gründlich eingeschlafen.
0284Unter Salvi’s Nachfolgern hat zuerst Herbeck es wieder
0285erweckt. In einem umfangreichen Bericht hatte Herbeck 
02861874 seinem obersten Chef vier Opernnovitäten vorge-
0287schlagen, darunter „Tristan und Isolde“. Alle vier wurden
0288kurzweg verworfen. Auch Director Jauner, der die
0289Nibelungen-Trilogie so glänzend in Wien eingeführt hatte,
0290dachte wieder an „Tristan“ und wollte zur Schonung der
0291einheimischen Sänger das Ehepaar Vogl aus München 
0292dazu berufen. An der Weigerung dieses Künstlerpaares
0293scheiterte abermals das Project. So hat denn die „Tristan“-
0294Frage in Wien sich schwerfällig und unerlöst von einer
0295Direction zur andern fortgeschleppt, bis endlich unter Direc-
0296tor Jahn (1883) das Engagement Winkelmann’s (des
0297bewährten Hamburger Tristan) und die Bayreuther
0298Triumphe der Materna den letzten entscheidenden Anlaß
0299gaben. So erhob sich denn endlich das Gebäude, zu welchem
0300hier vor mehr als 40 Jahren der erste Spatenstich so
0301mühevoll und fruchtlos geführt worden. Und heute sehen
0302wir dieses Gebäude, neuerdings durch Director Mahler 
0303kräftig gestützt und herrlich geschmückt, die Schaar der Ver-
0304ehrer und der Neugierigen heranlocken.

Fußnoten
  • *)Die sorgfältig geführten Bücher des Hofoperntheaters aus
    den Jahren 1862 und 1863 verzeichnen wohlgezählte 54 Proben,
    welche von „Tristan und Isolde“ unter Esser’s Leitung abge-
    halten wurden mit Frau Dustmann, Fräulein Destinn, den
    Herren Ander, Beck, Hrabanek, Lay und Campe. Die
    erste Probe hat am 29. November 1862, die letzte am 24. März
    1863 stattgefunden. Von diesem Tage an scheint das Studium von
    Tristan und Isolde“ abgebrochen worden zu sein.