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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 14072. Wien, Freitag, den 30. Oktober 1903

[1]

Hektor Berlioz.

(Zu seinem hundertsten Geburtstag.) I.


0003Ed. H. So mißmutig hohes Alter uns auch stimmen
0004mag, ich denke doch mit Freuden daran zurück, daß ich
0005vor nahezu sechzig Jahren Berlioz kennen gelernt und
0006eine volle Woche hindurch von früh bis abends sein
0007willkommener täglicher Begleiter gewesen bin. Berlioz 
0008erschien damals in Prag als ein strammer, tatkräftiger
0009Vierziger mit buschigem dunklem Löwenhaupt; mitteilsam,
0010unternehmend, hoffnungsfroh. Von diesem will ich in diesen
0011Blättern erzählen. Diejenigen gewiß nicht zahlreichen
0012Leser, denen aus früheren Aufsätzen von mir manches
0013davon bekannt sein dürfte, wollen dies mit der Erwägung
0014entschuldigen, daß gerade ein Jubiläumsartikel eine mög-
0015lichst vollständige zusammenfassende Darstellung erheischt.
0016Eine Charakteristik und Würdigung der Tondichtungen
0017Berlioz’ soll später nachfolgen.


0018Hektor Berlioz war im Januar 1846 nach Prag ge-
0019kommen und gab da eine Reihe von Konzerten. Der Name
0020Berlioz war dem Prager Publikum so gut wie unbekannt.
0021Nur unser kleiner Kreis, dessen Brevier Schumanns Auf
0022sätze in der Leipziger „Neuen Zeitschrift für Musik“
0023bildeten, schwärmte im vorhinein für den genialen Fran-
0024zosen. Wir waren voreingenommen durch die enthusiasti-
0025schen Kritiken Schumanns, R. Griepenkerls, Dr. Bechers
0026und die Schilderungen Heines. Von Berlioz’ Kom-
0027positionen besaßen wir nur das vierhändige Arrange-
0028ment der „Lear“-Ouvertüre und die Lisztsche Klavier-
0029bearbeitung der Sinfonie fantastique, welche unermüdlich
0030durchgepaukt wurden. Ambros und ich kamen täglich zu
0031Berlioz in den Gasthof „zum blauen Stern“ und beglei-
0032teten ihn in die Proben; wir waren willkommen als
0033enthusiastische Anhänger, ich überdies als brauchbarer 
0034Dolmetsch und Uebersetzer. Berlioz verstand kein Wort
0035Deutsch und das Französische war damals unter den
0036Musikern Prags sehr wenig verbreitet. Berlioz kam in
0037Begleitung einer schönen, glutäugigen Spanierin, Mari-
0038quita Rezio, die er für seine Frau ausgab. Es war daher
0039verzeihlich, daß wir sie für seine aus Heines Erzählungen
0040uns bekannte und teure Gemahlin, die frühere Schau-
0041spielerin Miss Smithson, hielten. Als aber Ambros gleich
0042bei der ersten Begegnung seine Freude darüber aussprach,
0043neben Berlioz auch das Urbild der „Double idée fixe“
0044aus der Phantastischen Symphonie, nämlich Miß
0045Smithson, zu erblicken, erhielt er mit einem strafenden
0046Blick die Antwort: „Die hier ist meine zweite Frau; Miß
0047Smithson ist gestorben.“ In Wahrheit lebte seine Frau,
0048lebte lange noch, während Berlioz mit seiner schönen
0049Spanierin Deutschland und Oesterreich durchzog. Der
0050Mann mit der Löwenmähne und dem gewaltigen Adler-
0051blick stand widerstandslos unter dem Pantoffel der Señora.
0052Bei aller Ehrfurcht vor Berlioz berührte es uns doch
0053komisch, wenn sie mit stolz zurückgeworfenem Kopf ihn an-
0054herrschte: „Hektor, meine Mantille!“ „Hektor, meine Hand-
0055schuhe!“ Worauf dann Hektor mit der Unterwürfigkeit eines
0056schüchternen Liebhabers ihr schnell die Mantille umhängte
0057und die Handschuhe brachte. Für die Besorgungen
0058des täglichen Lebens, des geschäftlichen Verkehres war sie,
0059die ebenso sparsam, als er großmütig mit dem Gelde umging,
0060ihrem unpraktischen Hektor allerdings ganz nützlich. „Quel
0061bonheur pour Hector, que je suis sa femme!“ rief sie
0062einmal, als ich ihr den Voranschlag der Konzertauslagen
0063übersetzte, den sie mit kühnen Federstrichen reduzierte.
0064„Quel bonheur“ war für Berlioz leider nicht ungetrübt.
0065Im Anfang ihres Zusammenlebens quälte sie ihn mit der
0066Prätension, in seinen Konzerten als Sängerin aufzutreten,
0067was er — doch noch mehr Musiker als Anbeter — nach einigen
0068mißglückten Versuchen einstellen mußte. Später, als er nach
0069dem Tode seiner Frau die Rezio heiratete, litt er un-
0070säglich unter der unheilbaren, entsetzlichen Krankheit,
0071welche langsam, wie mit stumpfer Säge, ihr Leben zerschnitt.


0072Während seines Prager Aufenthaltes war Berlioz 
0073unser einziger Gedanke, unsere einzige Beschäftigung. Ich 
0074führte ihn auch zu meinem Meister Tomaschek, dem Musik-
0075papst von Prag, den zu besuchen jeder fremde Tonkünstler
0076für Pflicht hielt. Als wäre es gestern, sehe ich mich mit
0077Berlioz in sonnig glitzerndem Wintermorgen über die
0078Moldaubrücke wandern, jenseits welcher der Generalbaß
0079in Person residierte. Berlioz hatte sich fest in mich „ein-
0080gehängt“; ich litt unter dem vernichtenden Bewußtsein
0081dieser Auszeichnung so sehr, daß ich förmlich fürchtete,
0082Bekannten zu begegnen.


0083Wenige Schritte vor der kontrapunktischen Residenz
0084eröffnete mir Berlioz mit liebenswürdiger Nonchalance, er
0085habe in seinem Leben den Namen „Tomaschek“ nicht ge-
0086hört, noch weniger kenne er eine Note dieses Autors. Jetzt
0087galt es, in gedrängtester Kürze meinem Fremden das ihm
0088fehlende musikgeschichtliche Kapitel „Tomaschek“ beizu-
0089bringen. Um ihn nicht durch die vielen Titel zu verwirren,
0090wiederholte ich ihm schließlich mit Nachdruck, daß Tomaschek 
0091auf ein (in der Tat vortreffliches) Requiem besonderen
0092Wert lege. Wir traten ein, und es spielte sich eine jener
0093halb peinlichen, halb komischen Szenen ab, welche man
0094„Dolmetschen“ nennt. Dies brockenweise Hinüber- und
0095Herübertragen unerheblicher und doch oft schwierig wieder-
0096zugebender Sätze wurde durch die etwas verlegene Span-
0097nung zwischen dem Altkonservativen und dem Kunstrevolu-
0098tionär gerade nicht erfreulicher. Glücklicherweise vergaß
0099Berlioz sein Stichwort nicht, und rühmte sofort die beson-
0100dere Genugtuung, den Schöpfer des „herrlichen Requiems“
0101persönlich kennen zu lernen. Der durch Vereinsamung etwas
0102schroff gewordene alte Herr nahm diese Huldigung mit
0103echtem Kopfnicken und der Erklärung hin, Berlioz’ nächstes
0104Konzert besuchen zu wollen. „Il a l’air bien enchante
0105de lui-même“, war das Einzige, was Berlioz nach einigem
0106Nachdenken über die neue Bekanntschaft äußerte.


0107Berlioz’ Konzerte erregten in Prag einen unerhörten
0108Enthusiasmus. Das letzte Konzert, in welchem Berlioz den
0109(sonst überall unterdrückten) fünften Satz der Sinfonie
0110fantastique aufführte, habe ich trotzdem versäumt. Ich
0111wollte — da sich mir gerade jetzt die Gelegenheit bot —
0112doch noch lieber Wien kennen lernen, als die Ronde de
0113Sabbat von Berlioz. In Wien hatte ich die freudige [2]
0114Ueberraschung, folgende darauf bezügliche Zeilen von
0115Berlioz zu erhalten: „Henri IV. écrivait: Pends toi,
0116Crillon, nous avons vaincu à Arques et
0117tu n’y étais pas. Notre Sabbat a été exécuté
0118mardi dernier; cependant je ne vous engage pas à vous
0119pendre, car il peut aller beaucoup mieux. Mille amitiés,
0120et revenez nous vite!“ Was in Prag unsere Begeisterung
0121für Berlioz’ Musik noch befestigte und belebte, war der
0122persönliche Umgang mit ihm, der Eindruck seiner liebens-
0123würdigen, edlen Persönlichkeit. Sein künstlerisches Ideal
0124erfüllte ihn völlig; die Verwirklichung dessen, was er in
0125glühendem, nie befriedigtem Drang als schön und groß
0126empfand, bildete sein einzig Ziel und Streben. In seiner
0127Kunst, mag man sie nun abschätzen wie man wolle, lag
0128eine großartige Redlichkeit. Alles Eigennützige, Kleinliche
0129lag dem Manne mit dem Jupiter-Kopfe fern. Für das Große
0130und Kühne seiner ganzen Richtung und für einzelne hohe
0131Schönheiten seiner Musik heute noch empfänglich, bin
0132ich doch mit den Jahren von dem maßlosen Enthusiasmus
0133jener Prager Jugendzeit zurückgekommen. Noch stärker war
0134dies bei R. Schumann der Fall. Er hatte mehrere Jahre
0135vor Berlioz’ Erscheinen in Deutschland eine eingehend analy-
0136sierende Kritik über die Sinfonie fantastique geschrieben,
0137lediglich auf Grund des Lisztschen Klavierauszuges. Diese,
0138von Begeisterung über Berlioz’ Genie überschäumende
0139Kritik beschloß er mit den schönen Worten: „Und ist seine
0140Kunst ein flammendes Schwert, so sei mein Wort die ver-
0141wahrende Scheide.“ Nach der Bekanntschaft mit Berlioz’
0142späteren Werken hat Schumann seinen Enthusiasmus dafür
0143stark abgekühlt, ja förmlich auf Eis gestellt. Schon im
0144Jahre 1847, als ich Schumann in Dresden besuchte,
0145äußerte er, sarkastisch lächelnd: „Ihr Prager ward ja über
0146Berlioz ganz aus dem Häuschen!“ Ja, durfte ich ent-
0147gegnen, wer hat denn angefangen?


0148Berlioz selbst habe ich fünfzehn Jahre später, im Sommer
01491860, in Paris besucht. Diese kräftig aufrechte Gestalt, dieses
0150königliche Haupt mit den Adleraugen — ich sollte sie sehr
0151verändert wiederfinden. Hätte ich Berlioz irgendwo anders
0152als in seiner entlegenen Wohnung, Rue du Calais 4,
0153wiedergefunden, ich würde ihn schwerlich erkannt haben. 
0154Zwar hob die Blässe seines eingesunkenen Gesichts und
0155das gänzlich erbleichte Haar den feinen Schnitt seiner Züge
0156noch plastischer hervor, aber die Kraft und Frische von
0157ehemals waren geschwunden. Trüb und leidend blickte sein
0158Auge, nur in seltenen Augenblicken an das alte Feuer
0159mahnend. Eine voluminöse Partitur lag vor Berlioz auf-
0160geschlagen. Womit er jetzt beschäftigt sei? „Je suis
0161occupé à souffrir,“ lautete die rührend traurige Antwort.
0162Hand in Hand mit seinem körperlichen Leiden ging eine
0163tiefe Verstimmung des Gemüts, eine zunehmende Ver-
0164bitterung und Vereinsamung. Hielt doch nur sein glänzendes
0165Wirken als Kritiker die Pariser in Respekt; der Komponist
0166Berlioz blieb ignoriert und verspottet. Wollte er seine
0167Kompositionen hören, so mußte er nach Deutschland gehen.
0168Die Tage in Prag und Wien dünkten ihn ein goldener
0169Traum. Eben von seinem alljährlichen Sommerausflug
0170aus Baden-Baden zurückgekehrt, erzählte Berlioz, wie
0171sehr der Erfolg seiner dortigen Konzerte, trotz
0172der unsäglichen Mühe der Vorbereitungen, ihn er-
0173freue. In Paris fühle er sich dann durch den
0174Kontrast doppelt schwer bedrückt; sein besseres Ich sei ver-
0175loren, „dans ce monde perdu et corrompu“. Mit Ver-
0176achtung sprach er von den Musikzuständen in Paris, mit
0177zorniger Heftigkeit gegen die „Zukunftsmusiker“ in Deutsch-
0178land, mit denen er nichts gemein habe. Entschieden wehrte
0179er jeden Zuspruch, jede Hoffnung auf eine bessere Zeit
0180ab: „J’ai pris mon parti.“ Unvergeßlich ist mir dieser
0181Seufzer schmerzlichster Resignation. Und er hatte nicht zu
0182schwarz gesehen; es war ihm nicht beschieden, einen
0183günstigen Umschwung der öffentlichen Meinung in seinem
0184Vaterlande zu erleben. Erst nach seinem Tode begann man
0185ihn dort zu feiern, wobei man jetzt beinahe von einem
0186Extrem ins andere, von Mißachtung in Vergötterung
0187verfällt.


0188Es war im Dezember 1866, als Berlioz auf Anregung
0189Herbecks in Wien eintraf, um sein hier noch unbekanntes
0190Hauptwerk „Faust’s Verdammung“ zu dirigieren. Der Anblick
0191des Mannes schnitt seinen Freunden ins Herz. Er hatte in
0192den letzten Jahren erschreckend gealtert. Die ehedem kräftige
0193und elastische Gestalt war von physischen und moralischen 
0194Leiden gebrochen; das sonst so feurige Adlerauge blickte
0195matt und resigniert unter dem grauen Haarwald; mit
0196sichtlicher Anstrengung dirigierte er das von Herbeck sorg-
0197fältig vorbereitete Werk. Sein Blick erhellte sich, als
0198brausender Beifall ihn begrüßte. Aber so enthusiastisch der
0199Beifall nach „Fausts Verdammung“ auch klang, er schien
0200doch mehr der außerordentlichen Persönlichkeit des be-
0201rühmten Tondichters zu gelten als dem Werke selbst. Hätte
0202sonst dieses durch volle zwanzig Jahre hier unwieder-
0203holt, ja gänzlich verschollen bleiben können?


0204Noch einmal sollte ich Berlioz in Paris wiedersehen:
0205im Frühling 1867. Als musikalischer Juror zur Welt-
0206ausstellung dahin abgesendet, hatte ich auch an den
0207Sitzungen über die beste der eingesandten Friedens-
0208hymnen teilzunehmen. Der 85jährige Auber präsidierte.
0209Ich kam neben Berlioz zu sitzen, der mir noch grollender,
0210düsterer erschien, als bei meinem letzten Besuch im Jahre
02111860. Der Tod seines einzigen Sohnes Louis, der fern
0212von der Heimat auf einem Ostindienfahrer sein Ende ge
0213funden hatte, war dem Vater schmerzlich tief in die Seele
0214gedrungen; gleichzeitig erregten die sich täglich erneuernden
0215Schwierigkeiten gegen die projektierte Aufführung seiner
0216Trojaner“ Berlioz’ schwärzesten Unmut. Er war so
0217menschenfeindlich geworden, daß man ihn nicht gern mit
0218einem Besuch behelligte. Doch brachten mich, wie erwähnt,
0219die Sitzungen über die Preisfriedenshymne in seine un-
0220mittelbare Nähe. Entrüstet über die „besten“ dieser Kom-
0221positionen schüttelte Berlioz sein graues Löwenhaupt, schlug
0222auf den Tisch und rief: „Wir sind nicht da, um Gassen-
0223hauer zu krönen!“ Berlioz lebte völlig einsam. Er be-
0224hauptete, Rossini niemals gesprochen zu haben. „C’est
0225un viel homme, qui rit de tout et se moque de tout.“


0226Auber nannte er den größten Egoisten; „ce n’est pas
0227un artiste“. Von R. Wagner, der (mit Klindworth)
0228ihm den ersten Akt von „Tristan“ vorgespielt hatte, äußerte
0229Berlioz nur: „Il est fou, totalement fou!“


0230Ich habe Berlioz’ echter, tiefer Künstlernatur, seinem
0231warmen, trotz unsäglichen Leidens und zunehmender Ver-
0232bitterung weichen, ehrlichen Gemüt stets ein pietätvolles
0233dankbares Andenken bewahrt.