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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 14230. Wien, Donnerstag, den 7. April 1904

[1]

Verdis „Falstaff“.

(Persönliche Erinnerungen.)


0003Ed. H. Den Wiener Opernfreunden winkt eine höchst
0004interessante Novität: Der „Falstaff“ von Verdi. Abgesehen
0005von einem unter tumultuarischem Zischen rasch begrabenen
0006Jugendversuch „Un giorno di regno“ (1840) ist „Falstaff“
0007die einzige komische Oper, die wir von Verdi besitzen.
0008Keineswegs zu seinen blühendsten Schöpfungen gehörend,
0009wird dieses Spätwerk des Achtzigjährigen doch wohltuend
0010erfrischen nach Wolfs „Corregidor“, dessen armselig kleine
0011Melodienblümchen samt den Textworten unter dem banalen
0012Tumult einer ungeschickt wagnerisierenden Orchester-
0013begleitung hilflos veratmen. Unser Opernpublikum, das sich
0014nicht von einer Handvoll junger Wölflinge terrorisieren
0015läßt, blieb nach der dritten Aufführung weg, und früher
0016noch, als man gedacht, war der „Corregidor“ beim An-
0017blicke der leeren Sitzreihen kraftlos zusammengebrochen, um
0018schwerlich je wieder aufzustehen.


0019So wie „Otello“, die vorletzte Oper Verdis, ist auch
0020seine letzte, der „Falstaff“, Shakespeare nachgebildet. Von
0021jeher folgte Verdi der klugen Einsicht, seine Opernstoffe
0022bewährten älteren oder modernen Schauspielen zu ent-
0023nehmen, deren starke Bühnenwirkung ihm vertraut war.
0024So hat er außer dem „Falstaff“ noch „Macbeth“ und
0025Otello“ nach Shakespeare, „Ernani“ und „Rigo-
0026letto“ nach Viktor Hugo, „La Traviata“ nach A. Dumas,
0027endlich „Giovanna d’Arco“, „Don Carlos“, „Die Räuber“
0028und „Louisa Miller“ nach Schiller musikalisch be-
0029arbeitet. Als es ruchbar wurde, der greise Verdi beende
0030eine neue größere Komposition, da fühlte sich das römische
0031Publikum in dreifacher Steigerung alarmiert. Zuerst ver-
0032mutete man eine Kirchenmusik, Messe, Requiem oder
0033dergleichen. Nachdem das widerlegt war, witterte die pro-
0034phezeiende Neugier eine Tragödie, bis endlich auf dritter
0035Stufe die großartige Ueberraschung sich darbot: es handle
0036sich um eine komische Oper!


0037Auf eine dringende Anfrage des Marchese Monaldi 
0038erwiderte Verdi im Jahre 1890: „Was soll ich Ihnen
0039sagen? Es sind vierzig Jahre, daß ich eine komische Oper
0040zu schreiben wünsche, und fünfzig Jahre, daß ich Shake-
0041speares „Lustige Weiber von Windsor“ kenne; indessen die
0042gewohnten „Aber“, die sich überall einstellen, haben sich
0043stets meinem Wunsche widersetzt. Nun hat Boito alle
0044die „Aber“ beseitigt und für mich eine lyrische Komödie
0045geschrieben, die sich mit keiner andern vergleichen läßt. Es
0046macht mir Vergnügen, die Musik dazu zu schreiben, ohne
0047irgend einen Entwurf, und ich weiß auch nicht, ob ich
0048damit zu Ende kommen werde. Bemerken Sie wohl: es
0049macht mir Vergnügen. Falstaff ist ein böser Geselle,
0050der allerhand schlimme Streiche macht, aber unter einer
0051belustigenden Form. Er ist ein Typus! Sie sind so selten,
0052die Typen. Die Oper ist vollständig komisch. Amen.“


0053Unter den berühmten italienischen Komponisten Ita-
0054liens waren Bellini und Verdi die einzigen, von denen
0055wir keine komische Oper besaßen. Alle übrigen Italiener
0056sind im ernsten und heiteren Fach mit gleicher Lust und
0057meistens gleichem Erfolge tätig gewesen; von Pergolese 
0058an, dessen „Serva Patrona“ die erste Knospe der Opera
0059buffa bedeutet, und Piccini, in dessen „Cecchina“
0060diese Knospe zur Blüte erwächst, bis auf Rossini und
0061Donizetti, die unaufhörlich zwischen Lustspiel und
0062Tragödie abwechseln. Nur Bellini und Verdi, beide emi-
0063nent pathetische und sentimentale Naturen, schienen für das 
0064Komische unzugänglich und ungeschaffen. Bellini ist jung
0065gestorben; Verdi brachte (abgesehen von dem früher er-
0066wähnten verunglückten Jugendversuch) als Achtzigjähriger
0067dem überraschten Publikum seine erste komische Oper.
0068Welch unerwartet schöne, bedeutsame Wendung, daß der
0069Greis an der Neige seines Lebens sich der Tragik ent-
0070windet und mit der Weisheit eines glücklichen Alters noch
0071den Blick auf der sonnigen, heiteren Seite des Daseins
0072ausruhen läßt!


0073Bald nachdem die Wiener Ausstellungsopern mir die
0074Klage abgepreßt, daß Italien keine Opera buffa mehr
0075hervorbringe, überraschte uns die Nachricht, Verdi habe
0076einen „Falstaff“ komponiert. Es fügte sich schön, daß ich
0077der allerersten Aufführung dieser Oper in Rom beiwohnen
0078konnte. Nicht um Musik zu hören, sondern um sie ab-
0079zuschütteln, war ich aus dem konzertbelagerten Wien ge-
0080flohen. Der Wunsch, meiner Frau Rom und Neapel zu
0081zeigen, wo ich zuletzt im Jahre 1874 mit Billroth geweilt,
0082zog mich jetzt dahin. Gerne verschob ich meine Abreise von
0083Rom um zwei Tage; ich wollte es nicht versäumen, den
0084alten Verdi noch einmal zu sehen und seinen „Falstaff“
0085zu hören. Diese neueste Oper des Achtzigjährigen war ein
0086Stück Musikgeschichte und ihre Première in Rom ein
0087denkwürdiges Ereignis. Verdi hatte Rom seit Jahren ge-
0088mieden. Ruhebedürftig und ruhmgesättigt, scheute er neue
0089Ovationen und den Empfang bei Hofe. Selbst nach seiner
0090Ernennung zum Senator unterließ er es, sich persönlich
0091beim König zu bedanken. Nun endlich hatte ihn die erste
0092Aufführung seines „Falstaff“ doch nach Rom gezogen.


0093Im Frühjahr 1875 in Paris bei Verdi eingeführt,
0094erlaubte ich mir nun in Rom die Anfrage, ob ich ihn
0095besuchen dürfe. Er erfreute mich mit der liebenswürdigsten
0096Aufnahme in seinem Absteigquartier, dem prachtvollen
0097„Hotel Quirinal“. Die schlichte Herzlichkeit, mit welcher
0098Verdi — hier so gut wie unnahbar für jeden Fremden —
0099mich empfing und begrüßte, hat mich, der ich manche
0100Jugendsünde gegen ihn auf dem Gewissen hatte, tief bewegt.
0101Es leuchtete etwas unendlich Mildes, Bescheidenes, in der [2]
0102Bescheidenheit Vornehmes aus dem Wesen dieses Mannes,
0103den der Ruhm nicht eitel, die Würde nicht hochfahrend,
0104das Alter nicht launisch gemacht hat. Tief gefurcht war sein
0105Gesicht, das schwarze Auge tiefliegend, der Bart weiß —
0106dennoch ließ die aufrechte Haltung und die wohltönende
0107Stimme ihn nicht so alt erscheinen.


0108Als ich am Tage der römischen „Falstaff“-Auf-
0109führung ihm die allgemeine Verwunderung über das
0110Erscheinen seines „Falstaff“ schilderte, antwortete Verdi,
0111es sei zeitlebens sein Lieblingswunsch gewesen, eine
0112komische Oper zu schreiben. „Und warum haben Sie es
0113nicht getan?“ — „Weil man nichts davon wissen wollte
0114(parceque l’on n’en voulait pas).“ Den „Falstaff“ habe
0115er eigentlich zu seiner eigenen Unterhaltung komponiert.
0116Daß er bereits einen „König Lear“ begonnen habe, stellte
0117er in Abrede. „Ich bin nicht zwanzig Jahre alt,“ meinte
0118er mit einem mehr schalkhaften als schmerzlichen Lächeln,
0119„sondern viermal zwanzig!“


0120Der Mittagstisch für vier Personen war bereits
0121gedeckt. Es erschienen Verdis Frau (die einst berühmte
0122Sängerin Strepponi), der Impresario und Kapellmeister
0123Mascheroni. Mit dem geistreichen Schmunzeln, wie
0124es nur den Italienern eigen ist, wenn sie sich an einem
0125Bonmot ergötzen, stellte mich Verdi als „il Bismarck 
0126della critica musicale“ vor. Als vollendeter Galantuomo
0127beschenkte er noch meine Frau mit einer Photographie
0128samt Dedikation, und wir empfahlen uns mit dem
0129angenehmsten Eindruck.


0130Abends lauschte ich dem „Falstaff“ mit jenem Fieber
0131der Neugierde, das mich neuen Kunstwerken gegenüber
0132stets durchschauert. Welch ein Theaterabend! Ein Fest
0133der Nation, eine Herzensangelegenheit des ganzen Volkes!
0134Von diesem Enthusiasmus beim Erscheinen Verdis auf der
0135Bühne macht man sich in Deutschland kaum eine Vor-
0136stellung. Und noch stürmischer erbrauste der Jubel, als
0137Verdi in der Loge des Königs erschien und zur Rechten
0138desselben Platz nahm. Einen hochbejahrten, hochberühmten
0139Künstler also gefeiert zu sehen, hat etwas unendlich Er-
0140hebendes und Rührendes auch für den Fremden. Mit der
0141fortreißenden Gewalt dieser Stimmung verband sich die
0142Begeisterung sämtlicher Künstler. Eine berauschendere
0143Wirkung wird man wohl niemals vom „Falstaff“ erleben
0144als an jenem 15. April 1893 in dem großen prächtigen
0145Teatro Costanza.


0146In unserm ungestört behaglichen Gespräch hatte ich
0147mir eine Frage nach vielleicht Wagnerschem Einfluß auf
0148Falstaff“ erlaubt. Etwas ausweichend erwiderte Verdi:
0149„Der Gesang und die Melodie müssen doch immer die
0150Hauptsache bleiben.“ In jenem absoluten Sinn der früheren
0151Verdischen Opern sind sie es in „Falstaff“ allerdings nicht
0152mehr. Im Vergleich zu der zweiten Periode Wagners
0153sind sie es noch immer. Nirgends wird im „Falstaff“ die
0154Singstimme vom Orchester unterdrückt oder überflutet, nir-
0155gends das Gedächtnis durch Leitmotive gegängelt, noch die
0156Empfindung von klügelnder Reflexion durchkältet. Hingegen
0157hat die Musik zu „Falstaff“ doch mehr den Charakter einer
0158belebten Konversation und Deklamation, als den einer ausge-
0159prägten, durch selbständige Schönheit wirkenden Melodie. Daß
0160er Musik von letzterer Art auch mit fließendem Lustspielton vor-
0161trefflich zu verschmelzen verstand, beweist Verdi im zweiten Akt
0162seines „Ballo in maschera“. Damit verglichen kann man — in
0163weiterem Sinn und liberalster Auslegung — von Wagnerschem
0164Einfluß auf „Falstaff“ sprechen. Gewiß eine unschätzbare
0165Methode für geistreiche Komponisten, welche langjährige
0166Erfahrung und Technik, aber nicht mehr die reiche blüten-
0167treibende Phantasie der Jugend besitzen. Die ganze An-
0168lage des „Falstaff“-Librettos und ähnlicher moderner
0169Textbücher mit ihrer dem recitierenden Schauspiel fast
0170gleichkommenden Ausführlichkeit der Diktion hat eine neue,
0171verschiedene Methode des Komponierens zur Folge. Ehe-
0172dem definierte man das Gedicht als „die Zeichnung,
0173welche der Komponist zu kolorieren habe“. Das paßt
0174nun und nimmermehr auf die Musik der früheren Opern.
0175Die Melodien Mozarts, Rossinis sind weit mehr und
0176etwas ganz anderes, als das bloße Ueberfärben einer
0177fertigen Zeichnung; sie sind ein Neues, Selbständiges, das 
0178von dem Text zwar die Richtung und Stimmung empfängt,
0179seine Zeichnung sich aber selbst schafft. Man könnte
0180eher sagen, die älteren Gesangstexte liefern dem Kom-
0181ponisten nur größere oder kleinere Rahmen mit
0182einer Aufschrift: „Liebe, Zorn, Frohsinn“ — in diesem Rahmen
0183schuf der Komponist als musikalischer Selbstherrscher Zeich-
0184nung und Farbe zugleich. Der Text zu den Arien Mozarts,
0185Rossinis und des jungen Verdi enthält oft nur sechs bis
0186acht Verszeilen allgemeinen Inhalts; damit konnte der
0187Komponist frei schalten. Man vergleiche damit das Libretto
0188zu „Falstaff“: der Monolog: „Was ist Ehre?“ ist eine
0189wörtliche Uebersetzung aus Shakespeare; wenn ich nicht
0190irre, mit etlichen noch weiter detaillierenden Zusätzen. Da
0191vermag der Komponist musikalisch Neues, Selbständiges
0192nicht zu schaffen; er kann nur Wort für Wort nachfolgen
0193und diese bis ins Kleinste vom Dichter ausgeführte Zeich-
0194nung „kolorieren“. Der große Erfolg dieses „Fal-
0195staff“-Monologs ist eigentlich das Verdienst Shake-
0196speares und eines geistreichen Sängers wie Maurel;
0197die Musik hat wenig hinzuzutun, und ich kann
0198nicht sagen, daß die Wirkung dieses Monologs im Burg-
0199theater ohne Musik eine erheblich geringere sei. Aehnliches
0200gilt von dem langen Monolog des eifersüchtigen Mr. Ford 
0201und von den meisten Duetten, die lustspielmäßig aus-
0202geführte Dialoge sind. So paßt merkwürdigerweise die
0203alte Lehre von „Zeichnung und Kolorit“ erst auf eine viel
0204spätere, nämlich die heutige Kompositionsweise. Nur wenige
0205Stücke im „Falstaff“ sind von Haus aus für abgerundet
0206musikalische Form gedichtet: das Vokalquartett der Frauen
0207am Schlusse des ersten Aktes, die kleine Cavatine
0208Fentons, der Gesang der Elfenkönigin (mit Frauenchor)
0209und der fugierte Schlußgesang im dritten Akt. Alle diese
0210geformten Musikstücke machen gute Wirkung als Ruhe-
0211punkte zwischen den dialogisch fortflutenden Konversations-
0212szenen; sie erfreuen durch Wohlklang und übersichtliche
0213Form, entbehren auch nicht einer gewissen Wärme. Eine
0214besondere Kraft und Originalität der melodischen Er-
0215findung vermochte ich daran nicht wahrzunehmen, höchstens [3]
0216daß die kleine Cantilene Fentons „Bocca baciata“ an
0217den sinnlichen Reiz des früheren Verdi erinnert.


0218Der Gesamteindruck, den ich von dem Werke empfing,
0219ist der einer sorgfältig ausgearbeiteten, feinen und leb-
0220haften Konversationsmusik, welche nirgends roh oder weich-
0221lich wird, weder in possenhafte Trivialität noch in unge-
0222höriges Pathos überschlägt. Die Charakteristik Falstaffs
0223ist von echt komischer Kraft, die der übrigen Personen
0224nicht hervorstechend. Das Ganze berührt uns wie die
0225fließende Unterhaltung eines geistreichen Weltmannes, der
0226nicht Anspruch erhebt, neue Wahrheiten oder tiefe Ge-
0227danken auszuteilen. Also mehr Causerie als starke musi-
0228kalische Schöpfung. Verdis „Falstaff“ hat mich keinen
0229Augenblick gelangweilt oder abgestoßen, aber auch nur
0230selten durch musikalische Schönheiten entzückt. Wenn unser
0231geehrter Kollege Robert de Fiori den „Falstaff“ ein Triumph-
0232lied des Alters, ein fast übermütiges Spottlied auf das
0233„Senectus ipse morbus“ nannte, so muß man ihm voll-
0234ständig beipflichten. Die Musikgeschichte kennt kein Beispiel
0235von einer solchen Bühnenschöpfung eines Achtzigjährigen.
0236Wir haben in Deutschland und Italien einzelne Meister
0237gehabt, die in hohem Alter noch gute Kirchenmusik schufen;
0238keine Nation darf sich aber eines Komponisten rühmen,
0239der im Alter Verdis noch die dramatische Lebendigkeit,
0240die anmutige Laune, die sichere Führung besessen hätte,
0241welche die Partitur des „Falstaff“ aufweist. Richard
0242Wagner äußerte einmal, gelegentlich der „Afrikanerin“ von
0243Meyerbeer: Mit dem sechzigsten Jahr müsse man auf-
0244hören, Opern zu schreiben — ein Ausspruch, den er
0245freilich selbst widerlegt hat. Mußte man sechs Jahre vor
0246dem „Falstaff“ den „Otello“ Verdis schon als ein
0247erstaunliches Ereignis begrüßen, so ist dieser als die noch
0248spätere und gewiß nicht farblosere Blüte eines Achtzig-
0249jährigen ein halbes Wunder.


0250Verdis „Falstaff“ wird in Wien sicherlich eine große
0251Anziehungskraft üben. Ob diese zu nachhaltigem Erfolg und
0252bleibender Eroberung des deutschen Repertoire sich steigern
0253werde, ist eine andere Frage. In Deutschland stehen der 
0254Einbürgerung von Verdis „Falstaff“ „Die lustigen Weiber“
0255von Otto Nicolai als ein Hindernis gegenüber, das schwer
0256zu nehmen sein wird. Als Totalerscheinung spielt Nicolai 
0257gewiß eine sehr bescheidene Figur neben Verdi. Allezeit
0258experimentierend, schwankend zwischen deutscher und italie-
0259nischer Musik, zwischen pathetischem und leichtem Stil, hat
0260Nicolai den zahlreichen Triumphen Verdis einen einzigen
0261Erfolg entgegenzustellen: eben „Die lustigen Weiber von
0262Windsor“. Aber in dieser Oper steigerte und konzentrierte
0263sich die ganze Kraft seines Talents so bedeutend sowohl
0264nach der dramatischen wie nach der rein musikalischen
0265Seite hin, daß nur blinde Ungerechtigkeit sie geringschätzen
0266könnte. Gegenüber der modernen, einheitlicheren Form der
0267Verdischen Oper hat die Nicolaische jedenfalls mehr musi-
0268kalische Substanz. Nach meiner Empfindung sind die besten
0269Nummern aus den „Lustigen Weibern“ den analogen
0270Szenen in Verdis „Falstaff“ musikalisch überlegen.
0271Der Junker Spärlich mit seinem unwiderstehlich komi-
0272schen „O süße Anna!“ fehlt gänzlich in Verdis Oper;
0273Doktor Cajus sowie die aus „Heinrich IV.“ herüber-
0274genommenen Figuren Pistol und Bardolf haben bei Verdi 
0275keine individuelle Physiognomie, sie sind nur Füllstimmen
0276für das Ensemble. Boitos Textbuch läßt die Hand des
0277gewandten, geistreichen Mannes nicht verkennen, Mosen-
0278thals
Libretto hält sich enger an das Shakespearesche
0279Lustspiel und sorgt doch zugleich besser für die Entfaltung
0280musikalischer Form. Die Erfahrung lehrt, daß zwei 
0281Opern desselben Inhalts zugleich auf derselben Bühne sich
0282selten vertragen. In der Regel siegt der Reiz der Neuheit
0283und das jüngere Werk pflegt, bei nicht allzu großem Ab-
0284stand in der Qualität, das ältere definitiv zu verdrängen.
0285GounodsFaust“ hat den Spohrschen, Gounods 
0286Romeo“ hat den Bellinischen aufgezehrt, Verdis 
0287Ballo in maschera“ den „Maskenball“ Aubers. Es
0288kann sein, daß mit dem Erscheinen von Verdis Novität
0289das letzte Stündchen für Otto Nicolai geschlagen hat. Wer
0290möchte da prophezeien!


0291Meran, Ostermontag 1904.