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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 52. Wien, Samstag den 22. October 1864

[1]

Hofoperntheater.

(„Der Prophet.“ — „Indra.“ — „Fra Diavolo.“ — „Faust.“)


0003Ed. H. Es hat etwas Wehmüthiges, zuzusehen, wie man im Opern-
0004hause mit geschäftiger Hast Ander’s Erbschaft vertheilt. Diese Partien
0005Herrn Walter, jene Herrn Wachtel, die letzten endlich Herrn
0006Ferenczy und — Ander ist „ersetzt.“ Das muß so sein, wir wissen
0007und billigen es vollauf. Es geschieht aber Vieles auf Erden, was
0008nothwendig und natürlich ist, und dennoch recht weh thut. Da wurde
0009neulich Herrn Wachtel’sProphet“ beklatscht und bejubelt, als hätte
0010niemals ein Ander an dieser Stätte das Krönungsschwert geschwun-
0011gen. Wachtel’s Leistung aber verhält sich zu der einstigen Ander’s unge-
0012fähr wie deren Gegenstand, der Schneider Johann von Leyden, sich
0013zu Luther oder Melanchthon verhielt. Die Kluft zwischen der Darstel-
0014lung des neuen Künstlers und der des andern, jede als Ganzes, als
0015poetisches Kunstwerk betrachtet — ist somit sehr breit. Sie darf uns
0016nicht hindern, von einem etwas tiefer gerückten Standpunkt anzu-
0017erkennen, was Wachtel’s Prophet in seiner Künstlersphäre Ge-
0018lungenes enthielt. Wer Wachtel in einigen Rollen gehört, der konnte
0019sich dessen „Johann von Leyden“ so ziemlich a priori construiren;
0020der Kritiker, der Herrn Wachtel schon eine ziemliche Strecke lang be-
0021gleitet, darf sich somit wol kurz fassen. Herrn Wachtel’s Prophet 
0022war nicht schlechter, als wir ihn erwarteten, eher noch etwas besser.
0023Daß Herr Wachtel poetischen Schwung, Tiefe und Feinheit der Em-
0024pfindung, überzeugende Wahrheit der Leidenschaft nicht besitze, also
0025auch als Johann von Leyden nicht entfalten werde, konnte Jedermann
0026wissen. Wir für unsern Theil vermissen diese Eigenschaften bei Johann
0027von Leyden weniger schmerzlich als bei Raoul oder Arnold Melch-
0028thal, denn der „Prophet,“ von Anfang bis zu Ende eine charakter-
0029lose, unnatürliche Puppe und jeder echten Leidenschaft bar, ist nicht
0030auf die Empfindung, sondern auf den Glanz angelegt. Glanz ist
0031aber diejenige Wirkung, die Herr Wachtel vornehmlich erreicht. Zwei
0032kleine Gesangstellen im zweiten Act ausgenommen, die Ander 
0033mit so schmelzender Innigkeit vortrug, wird die Rolle des Pro-
0034pheten sich mit innerer Kälte des Darstellers nicht so schwer
0035vereinigen lassen. Herr Wachtel hatte im zweiten und drit-
0036ten Act Momente, wo die unvergleichliche Kraft und Klang-
0037fülle seiner Stimme triumphirend wirkte und mit Leichtigkeit
0038ein Tondickicht durchdrang, gegen welches jede andere Tenorstimme sich
0039matt kämpft. Das Unglück war hier wieder nur die Maßlosigkeit, die
0040Herrn Wachtel mitunter überkommt und den Ton auf Kosten der Rein-
0041heit übertreiben heißt. Herr Wachtel hatte einmal im zweiten und einmal
0042im dritten Act das Mißgeschick, empfindlich zu hoch zu singen; für
0043die Erzählung des Traumes war das Colorit viel zu kräftig und
0044tageshell genommen, wir vermißten das geheimnißvoll Dämmernde
0045des Traumlebens. Den vierten Act spielte Herr Wachtel in anständi-
0046gen Formen, über den fünften können wir nicht berichten, wir hören
0047ihn am liebsten von der Straße aus. Alles in Allem, fehlt Herrn
0048Wachtel’s Propheten der künstlerische Adel. Aeußerlich wirksam ist diese
0049Leistung (von dem zweimaligen Mißgeschick des Distonirens abgese-
0050hen) kaum weniger, als die übrigen heroischen Partien dieses Sängers.
0051Was dieselbe peinlich machte, war weniger ein Abstand derselben
0052gegen Herrn Wachtel’s übriges Heldenrepertoire, als die allzufrische
0053Erinnerung an Ander, dessen angeborener Adel und feingebildeter
0054Kunstgeschmack selbst diesen jämmerlichsten aller dramatischen Helden
0055mit einem poetischen Schein zu verklären wußte.


0056Da seit den „Rheinnixen“ (4. Februar d. J. !) keine neue Oper
0057zur Aufführung kam, müssen wir uns mit den wenigen Brosamen
0058von Neubesetzungen und Neuscenirungen behelfen, welche die Hof-
0059opern-Direction dem Publicum gütig zuwirft. Zwei Reprisen kleineren
0060Genres haben seit jenen „Rheinnixen“ einzig und allein die bleierne
0061Monotonie des Repertoirs unterbrochen: „Indra“ und „Fra Diavolo.“
0062Welchen Schein von Berechtigung Flotow’s „Indra“ haben mochte,
0063neu einstudirt zu werden, ist uns ein Räthsel. Die Oper hat hier
0064schon als Novität nicht gefallen, zu einer Zeit (1852), wo man in
0065Frl. Wildauer und Herrn Erl noch frische Kräfte besaß und Flotow’s 
0066populärer Name ein Uebriges that. Jeder weitere Versuch, dies ab-
0067geschmackte Stück wieder hervorzuziehen, fand das Publicum schwieriger 
0068und unwilliger, bis endlich das neueste Experiment gar kein Publicum
0069mehr fand. Wir besuchten — bethört von kritischer Gewissen-
0070haftigkeit — die neuscenirte „Indra“ und sahen sie ihre
0071Schlangendressur vor leeren Bänken üben. Wir bedauern, daß Künst-
0072lern wie Frau Dustmann, Beck und Walter diese ganz un-
0073nöthige Prüfung nicht erspart geblieben. Wir entsinnen uns kaum
0074einer zweiten Oper, deren drei Hauptrollen so gleichmäßig schaal,
0075geistlos und unwirksam wären, wie diese „Indra“ mit ihrem Camoens
0076und dem König. Die ganze ernsthafte Partie der Oper — also weit-
0077aus die größte — ist unerträglich in ihrer prätentiösen Trivialität.
0078Nur die heiteren Partien, namentlich die beiden komischen Figuren
0079des Wirthes und der Wirthin, sind gelungen und entschädigen uns
0080durch ihre gute Laune, ihre hübschen, muntern Melodien. Obwol
0081nur episodisch an die Haupthandlung angelehnt, sind diese Wirthsleute
0082doch die einzig möglichen Retter der ganzen Oper.


0083Die Wiederaufnahme der „Indra“ hätte nur dann zur Noth
0084einen Sinn gehabt, wenn man das Ehepaar mit zwei jugendlichen
0085frischen Stimmen hätte besetzen können. Herr Erl und Fräulein
0086Wildauer machten aber die heitern Scenen der Oper in Wahrheit
0087zu den trübsten. Wir hegen die aufrichtigste Hochschätzung für die
0088großen Verdienste dieser beiden Veteranen und haben diese Gesinnung
0089mehr als einmal bethätigt; aber die größte Pietät wird sich mit sol-
0090chen Doppelproductionen absoluter Stimmlosigkeit nicht zufriedenstel-
0091len können. So wandelte denn die „Indra“ nach abermals begangenem
0092„Verbrechen der verbotenen Rückkehr“ wieder in jene Abtheilung des
0093Theater-Archivs zurück, wo bereits mehrere jüngstverstorbene Flo-
0094tow
’sche Opern ihrer Auferstehung (hoffentlich vergebens) ent-
0095gegenharren.


0096Es ist eine eigenthümliche Carriere, die Flotow’s in der Theater-
0097welt. Mit zwei kleinen, netten, aber nichts weniger als bedeutenden
0098Opern macht er sich mit einem Schlag bekannt und beliebt. Alle
0099deutschen Bühnen, von der größten bis zur kleinsten, nehmen sofort
0100Besitz von „Stradella“ und „Martha“ und cultiviren sie 20 Jahre
0101lang. Gibt es etwas Vortheilhafteres, als in Deutschland eine melo-
0102diöse kleine Oper zu schreiben, die anspruchslos und leicht zu besetzen [2]
0103ist? Gibt es ein dankbareres Publicum für ein wirklich populäres
0104Talent? Mit diesen zwei Opern waren aber auch Flotow’s Erfolge
0105wie abgeschnitten. Große oder kleine, ernste oder komische Opern mochte
0106der Auber von Weillenburg produciren, — es fiel Alles durch. Am
0107sanftesten noch die „Indra,“ deren Text ihm sein Gutsnachbar, der
0108Wassichderwalderzähler Putlitz verfertigte. Es sollte etwas Beson-
0109deres werden, — etwas Exotisch-romantisch-sentimentales; was hätte
0110besser getaugt, als diese indische Präziosa, die einen verwundeten
0111König mittelst einer Schlangenpolka curirt und von dem Dichter
0112Camoëns beim Spazierengehen katholisch gemacht wird, ohne es zu
0113wissen. Flotow hatte seine dramatische Begabung verkannt und seine
0114musikalische überschätzt, als er sich zu diesem Stoff verstieg. Was ihm
0115dabei glückte, war, wie gesagt, das komische Beiwerk und das mun-
0116tere Volkstreiben in der Sommernacht zu Lissabon. Es ist Schade,
0117daß man diese Blumen nicht einfach herausheben und in ein anderes
0118Gärtchen versetzen kann. In der Nachbarschaft von Indra’s
0119Schlangen sind sie bis jetzt noch allerwärts umgekommen. —
0120„König Sebastian“ (Indra) und „Franz Baldung“ (Rheinnixen)
0121waren die ersten zwei Rollen, welche Herrn Walter aus dem Reper-
0122toir Ander’s zufielen. Mit keiner von beiden kann der Sänger eine
0123Feder an den Hut stecken, im Gegentheil gehört aufrichtige Resigna-
0124tion dazu. Ungleich bedeutender und dankbarer ist die Titelpartie in
0125Gounod’s „Faust“, welche jetzt gleichfalls Herr Walter singt. Wäre
0126er der dramatischen Aufgabe des ersten und des letzten Actes völlig
0127gewachsen, er würde seinen Vorgänger nahezu erreichen. Rein lyrische
0128Stellen, wie deren „Faust“ so viele enthält, trägt Herr Walter sehr
0129hübsch vor; der dunkle Timbre seiner Tenorstimme, selbst die etwas
0130schwere Bildung des gleichsam aus der Tiefe der Brust heraufgeholten
0131Tones (im Gegensatz zu dem hellen Colorit und dem augenblicklichen
0132Anschlag Wachtel’s) eignet sich so vortrefflich für den Ausdruck
0133inniger, nur sanft bewegter Empfindung. Er ist der gemüthvolle,
0134feinere, auch musikalischere Sänger, Wachtel der glänzendere. Die
0135Neubesetzung des „Valentin“ durch Herrn v. Bignio kommt der
0136Oper zu statten, welche mit der meisterhaften Darstellung Gretchens
0137durch Frau Dustmann ihre alte Anziehungskraft ungeschwächt aus-
0138übt. Auch Herr Schmid ist uns nach längerer Erkrankung wieder 
0139zurückgegeben, das Publicum hat den König der deutschen Bassisten
0140mit geziemendem Applaus bewillkommt.


0141Die zweite ältere Oper, die nach längerer Pause wieder zum
0142Vorschein kam, ist Auber’sFra Diavolo.“ Die graciösesten, fri-
0143schen Melodien sind hier mit so anspruchsloser, geistreicher Charakteristik
0144behandelt, der Ton des Conversations-Lustspiels so glücklich gehoben
0145und schattirt durch komische und romantische Elemente, daß wir mit un-
0146gestörtem und noch unverringertem Behagen uns an dem reizenden Bild-
0147chen ergötzen. Die hiesige Aufführung hat uns Vergnügen bereitet,
0148wenn sie auch nicht jeden Wunsch befriedigt. Herr Wachtel ist ohne
0149Zweifel einer der besten deutschen Fra Diavolo’s, wenn dieser auch
0150mit Roger’s oder Montaubry’s feiner und geistreicher Darstel-
0151lung keinen Vergleich aushält. Fräulein Tellheim bewies als Zer-
0152line unzweifelhafte Fortschritte in Spiel und Gesang; allerdings muß
0153ersteres an Wärme und Leben, letzterer an Leichtigkeit und Correctheit
0154noch erheblich gewinnen. In Costümfragen scheint weder Herr
0155Wachtel noch Fräulein Tellheim gut berathen.


0156Die gelungenste Partie der Vorstellung ist das englische Ehe-
0157paar. Herr Meyerhofer gibt den Lord Cockburn, Fräulein Bettel-
0158heim
die Lady mit so wirksamer Komik, daß ihr Erscheinen jedesmal
0159die heiterste Stimmung hervorruft. Ueberdies war der gesang-
0160liche Theil dieser zwei Rollen nie zuvor so trefflich durchge-
0161führt, wie er es jetzt ist. Da eine Charge wie die Lady 
0162gänzlich außerhalb des Rollenfachs von Fräulein Bettelheim liegt,
0163war uns diese gelungene Leistung um so überraschender. Jede neue
0164Rolle dieser jungen Sängerin dünkt uns eine neue Mahnung an
0165die Direction, ihrem Talent endlich einen größeren, würdigeren Spiel-
0166raum zu geben. Die „Recensionen“ veröffentlichten vor Kurzem das
0167Urtheil eines kunstsinnigen Franzosen über unsere Oper. Entzückt
0168von der Stimme Fräulein Bettelheim’s, konnte er nicht begreifen,
0169daß diese Sängerin immer nur in unbedeutenden Rollen, meist als
0170alte Haushälterin u. dergl., beschäftigt wurde. „Wie würde man in
0171Paris den Schatz einer solchen Stimme zu verwerthen wissen!“ ruft
0172der Fremde aus. „Welche Oper würde man nicht ihretwegen hervor-
0173suchen und neu einstudiren!“ Der Pariser hat vollkommen Recht.
0174Vor Zeiten hätte eine Direction für eine Stimme wie die der 
0175Bettelheim eigens Opern schreiben lassen, ja die Componisten
0176hätten auf diesen Auftrag schwerlich erst gewartet. Es ist möglich,
0177daß Fräulein Bettelheim in großen dramatischen Partien nicht gleich
0178den höchsten Anforderungen entsprechen wird (obgleich ihre Azucena 
0179zu den besten Erwartungen berechtigt) — darum handelt es sich vor-
0180derhand gar nicht. Ein junges Talent von solcher Begabung braucht
0181einen Spielraum, um seine Kräfte kennen zu lernen, sie zu üben, zu
0182stärken.


0183Die Monotonie unseres Repertoirs, das sich in einem Dutzend
0184Opern herumdreht, ist oft genug gerügt worden. Wir möchten, ohne
0185das Thema dieser Klage hier neu aufzunehmen, nur ein Motiv betonen,
0186das gewöhnlich wenig beachtet wird: das künstlerische Interesse der
0187Sänger. Jeder dramatische Künstler, sei er talentvoller Anfänger
0188oder fertiger Meister, bedarf neuer Aufgaben für sein Talent. Sein
0189Geist (wenn nur überhaupt Geist da ist) will und muß Neues
0190schaffen. Ein Künstler, der jahrelang an zehn bis zwölf abgespielte
0191Rollen gefesselt ist, und seien es die dankbarsten, verliert die Freiheit
0192des Schaffens, verliert die Lust und das Vertrauen zu seiner Kunst.
0193Er muß zur Maschine werden, und wird sich dessen um so schmerz-
0194licher bewußt, je weniger er ursprünglich mit einer Maschine gemein
0195hatte. Wir haben früher der trefflichen Darstellung Gretchens durch
0196Frau Dustmann erwähnt. Wie ist es erklärlich, daß Frau Dust-
0197mann, die doch weitaus die bedeutendste dramatische Kraft an unserer
0198Opernbühne ist, seit jenem „Gretchen“ keine einzige neue Rolle mehr
0199erhielt? Das sind nun bald drei Jahre. Würde nicht anderwärts
0200jede einsichtsvolle Direction sich durch den Besitz einer solchen Kraft
0201veranlaßt fühlen, wenigstens das Beste und Passendste des älteren
0202classischen Repertoirs neu zu beleben, wenn es schon wirklich an
0203neuen Erscheinungen fehlt? Nicht nur der Zuschauer, auch der Schau-
0204spieler bedarf neuer Stücke, ja sie sind ihm in noch weit höherem
0205Maß als jenem unentbehrliche geistige Nahrung. Wer „artistischer“
0206Director in Wahrheit ist und nicht blos heißt, weiß und beherzigt
0207dies vor Allem, — wir erinnern daran, was im Burgtheater für
0208die Entfaltung des Talents der Wolter geschehen ist.