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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 65. Wien, Freitag den 4. November 1864

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Musik.

(Randglossen zu Offenbach’s „Georgierinnen“. Neue Schubert-Reliquien und Schubert-Ausgaben.)


0003Ed. H. Noch ist Alles lautlos, in der musikalischen Atmo-
0004sphäre herrscht jene tiefe Stille und Sammlung, die einer mächtig
0005anrückenden Concertsaison unmittelbar voranzugehen pflegt. Die Con-
0006certsäle stehen erwartungsvoll leer und auf dem Felde der dramati-
0007schen Musik herrschen ungebeugt die Amazonen des Carltheaters und
0008ihre kerngesunden Krüppel. Die „Georgierinnen“ wiederholen noch
0009immer den schwer begreiflichen glänzenden Erfolg der ersten Vor-
0010stellung. Offenbach kennt sein Publicum, er durfte das bedenkliche
0011Gesicht, das ein musikalischer Freund bei der Probe schnitt, ruhig
0012mit der Versicherung beschwichtigen: „Die Georgierinnen müssen ge-
0013fallen, plus ou moins, aber gefallen müssen sie.“ Er hatte ganz
0014richtig die Totalwirkung dieses burlesken „Kunstwerkes der Zukunft“
0015im Auge, in welchem die Situation, die Costüme, Tänze und Deco-
0016rationen als dramatisches Consortium so splendid aushelfen, wo die
0017Musik zahlungsunfähig wird. Wer nur die Musik ins Auge faßte, die
0018mit all ihren drei Acten nicht entfernt an den (halb durchgefallenen)
0019einactigen „Signor Fagotto“ reicht, der mochte über den colossalen Er-
0020folg der „Georgierinnen“ mit Recht etwas verwundert sein. Daß die
0021Wiederholungen in jüngster Zeit ausgesetzt wurden, hatte seinen
0022Grund in der übergroßen Anstrengung, welcher die Darstellerin der
0023Hauptrolle, Fräulein Kraft, zu erliegen drohte. Nun sich die Ama-
0024zonen-Königin erholt hat, dünkt uns jener Zwischenfall nicht ganz
0025zu verachten. Wir hoffen nämlich, die bittere Erfahrung werde nach
0026zwei Seiten hin zu heilsamer Warnung dienen. Zuerst für die lie-
0027benswürdige, mit Recht hochgeschätzte Sängerin selbst. Fräulein Kraft 
0028hatte mit jenem künstlerischen Feuereifer, der der eigenen Schonung
0029nicht gedenkt, sich ihrer anstrengenden Rolle ganz hingegeben. „Aus-
0030gegeben“, mochte man fürchten, wenn man sie durch Chorgeschrei,
0031Trompeten, Trommeln und Pulverdampf hindurch einen Augenblick
0032ein hohes a oder b aus voller Brust emporschleudern hörte. Ein
0033solches Aufgebot aller physischen Mittel mag allenfalls eine „Valen-
0034tine“ oder „Margarethe“ im Dienste einer großen tragischen Partie 
0035darbringen vor und nach welcher sie überdies am Operntheater
0036drei bis vier Tage ausruht. Aber im komischen Genre und bei täg-
0037lichen Reprisen? So beruhigend auch das jugendlich stramme Aus-
0038sehen Fräulein Kraft’s wirkt (an der wir nichts auszustellen
0039haben, als daß sie uns eine fortwährende Behutsamkeit auferlegt,
0040nicht unversehens in ein Calembourg hineinzufallen), es hat uns
0041doch sorglich gestimmt, so viel Feuer und Stimme allabendlich an
0042eine Operette verschwendet zu sehen. Wie lange, mochte sich Mancher
0043ragen, kann denn das vorhalten? Wenn Meyerbeer, Wagner und
0044Verdi manche ruinirte Primadonna auf dem Gewissen haben, sollen
0045denn auch schon unsere Localsängerinnen den Offenbach’schen Possen
0046zum Opfer fallen? Und dies ist der zweite Punkt, der uns der Er-
0047wägung nicht nur werth schien, — die zweite Warnung. Sie geht
0048an die Adresse des Componisten.


0049Wir fürchten, daß Offenbach sein anmuthiges Talent zu Grunde
0050richtet, wenn er fortfährt, den Ballast der großen Oper in sein klei-
0051nes Genre hinüberzuschmuggeln. Was uns in den „Georgierinnen“ allen
0052Spaß verdorben hat, sind die heroischen Unisonochöre à la Verdi,
0053die herausgeschrienen hohen b und h, die grellen Harmonien und
0054Accordfolgen, das lärmende Orchester. „Aber wenn Offenbach diese
0055Mittel braucht, um die große Oper zu parodiren?“ hört man mitun-
0056ter einwenden. Man könnte einfacher antworten: so soll er hier nicht 
0057parodiren. Die Rechtfertigung, in sich selbst hohl, paßt überdies schlecht
0058auf den vorliegenden Fall. Die Musik besitzt äußerst wenig Mittel,
0059durch sich selbst parodirend oder travestirend zu wirken. Sie vermag
0060dies fast nur durch einzelne komische Instrumental-Effecte oder durch
0061directes Citat von bekannten Melodien, die in einen komischen Wi-
0062derspruch zu der Situation gebracht werden. Die erste Bedingung
0063dabei ist, daß die parodistische Absicht klar an die Oberfläche trete,
0064sofort als solche erkannt werde. Dies ist aber unseres Erinnerns in
0065den „Georgierinnen“ nirgend der Fall. Wenn die in graziöser Keckheit
0066so munter anhebende „Frauen-Marseillaise“ in den aufdringlich pa-
0067thetischen B-dur-Satz übergeht (die Stelle, wo Fräulein Kraft die
0068Fahne ergreift), so ist uns dies grandiose Geschrei genau so wi-
0069derwärtig, als wenn es uns in einer Verdi’schen Oper begegnet.
0070Oder vielmehr weit widerwärtiger, denn in dem leichten Genre der
0071komischen Spiel-Oper empfinden wir derlei musikalische Trivialitäten
0072auch noch als störende Stylwidrigkeit.


0073Da ist das zum Lieblingsstück gewordene „Pascha-Terzett“ ein
0074ganz anderes Ding! Lustig, anspruchslos und auf der Bühne (man
0075muß es nicht am Clavier beurtheilen) von unwiderstehlich komi-
0076scher Wirkung. Es ist ganz, was es an dieser Stelle sein soll, und
0077vollkommen in seiner Art. Offenbach hat im Anfang seiner Car-
0078rière sich so maßvoll und discret gehalten, er hat mit durchaus ein-
0079fachen Mitteln so allerliebste, originelle Genrebildchen geschaffen, daß
0080es uns leid thäte, wollte er auf diesen glücklich betretenen Weg nicht
0081wieder vollständig zurückkehren.


0082Theaterfreunde, welche „Les Géorgiennes“ in Paris gesehen,
0083geben der hiesigen Aufführung weitaus den Vorzug. Sie dürften voll-
0084kommen Recht haben, denn das Carltheater hat namentlich in der
0085Pracht der Ausstattung Ungewöhnliches geleistet. Nur in einem
0086Punkte gebührt der französischen Aufführung gewiß der Vorrang: in
0087der gewählteren, feineren Diction. Das Original ist hier ohne Noth,
0088durch theilweise Localisirung, eingestreute triviale Spässe und schlechte
0089Uebersetzung um eine starke Nuance geistloser gemacht worden. Nur
0090ein Beispiel von willkürlicher und verkehrter „Uebersetzung“ wollen
0091wir anführen, nicht als ob der Fall wichtig wäre, aber weil er charak-
0092teristisch ist.


0093In dem lustigen Hauptquartier der Frauen wird eine dieser
0094Heldinnen, Nani, einer Fahrlässigkeit im Wachdienst angeklagt. Sie
0095kommt, uniformirt wie alle andern, und bringt ihre Entschuldigung
0096in einer einfachen, recht hübschen Romanze vor: sie habe ihr Kind
0097säugen müssen. Dies wird in dem wehmüthigsten, ernstesten Ton in
0098drei Strophen behandelt, die hier (ungefähr) mit dem Refrain schlie-
0099ßen: „Laßt, o lasset mich ernähren — als Mutter mein geliebtes
0100Kind!“ In der dritten Strophe singt Nani sogar von ihrem Grabe
0101und dem Jenseits. Als wir die Scene sahen, waren wir betroffen
0102über dies plötzliche totale Herausfallen aus dem Styl und der Stim-
0103mung der ganzen Posse und nahmen dem Verfasser diese Appellation
0104in eine hier ganz ungehörige Rührung nicht wenig übel. Seither
0105kam uns das französische Original der Operette zu Handen, und darin
0106lautet der Refrain der Romanze so:
0107„J’ai fait, et j’ose vous le dire, /
0108Ce que la consigne défend, — /
0109Mon général, je faisais cuire /
0110De la bouillie à mon enfant!“ /

[2]


0111Die ganze Physiognomie der Scene, der ganze Ausdruck des
0112Musikstückes ist damit ein anderer. Wenn eine Frau in Helm und
0113Panzer ihrem Kinde einen Milchbrei kocht, so behält das Rührende
0114dieser Muttersorge doch noch immer etwas unvertilgbar Komisches.
0115Der Zuschauer wird das verlegene Bekenntniß der zärtlichen Mama
0116gewiß mit Theilnahme, aber nicht ohne Heiterkeit vernehmen.
0117Bei den Worten, welche Frau Grobecker hier zu singen hat, und
0118welche natürlich auch den Ausdruck der Melodie sogleich alteriren,
0119hört jede Heiterkeit und jeder komische Eindruck auf. Der Zuschauer
0120wird durch einen sentimentalen Faustschlag mit einem Ruck aus der
0121Stimmung herausgeworfen. Dem Wiener Bearbeiter kommt dabei
0122nur die bedenkliche Entschuldigung zu statten, daß das Publicum des
0123Carltheaters von diesem empfindsamen Unfug keineswegs choquirt,
0124sondern im Gegentheil aufs äußerste davon gerührt ist.


0125Zu lange schon, fürchten wir, wurde der Leser von der Offen-
0126bach’schen Operette unterhalten. Wir wollen den Fehler gutmachen.
0127Einen erfreulicheren musikalischen Stoff, als den aus Georgien, haben
0128wir heute noch in Bereitschaft. Sehr verschieden von letzterem, gehört
0129er dennoch auch zu den „Musikalischen Neuigkeiten“ in Wien, und
0130unter diesem schützenden Banner darf er wol das leicht umzäunte
0131Gehege eines Musik-Feuilletons passiren. Es handelt sich um ein neues
0132Vermächtniß aus der Hand Franz Schubert’s, des noch allzeit
0133unermüdlich großmüthigen Erblassers, — nebenbei um einige rühm-
0134liche Liebesdienste, die seinem Namen seit jüngster Zeit erwiesen sind.


0135Zwei Schubert-Novitäten aus Spina’s Verlag sind es, auf
0136die wir die Aufmerksamkeit unserer Leser lenken möchten: eine bisher
0137unbekannte Partie Ländler von Schubert’s Composition und
0138eine neue, correcte Ausgabe von dessen „Müllerliedern“. Die
0139Zwölf Ländler“ (op. 171) sind im Jahre 1823 componirt und
0140waren, von Schubert’s Hand geschrieben, Eigenthum des dem
0141Tondichter sehr befreundeten Hofraths Enderes. Johannes Brahms,
0142der die Handschrift hier kennen lernte und über deren Werth keinen
0143Augenblick in Zweifel war, säumte nicht, die Veröffentlichung dieses
0144lange verborgenen Schatzes zu vermitteln. Seine Redactionsarbeit
0145beschränkte sich gewissenhaft auf eine getreue Abschrift des Manu-
0146scripts; selbst die eigenthümliche Bezeichnung des Zeitmaßes als
0147Deutsches Tempo“ ist original Schubertisch. Mit wahrem
0148Hochgenuß haben wir diese zwölf Ländler — wir wissen nicht wie 
0149oft — durchgespielt. Die anspruchsloseste, knappste Form birgt hier
0150einen Melodienreiz, einen Farbenreichthum, eine Originalität in Har-
0151monie und Rhythmus, wie sie in solcher Fülle nur Schubert eigen
0152war. Wenigstens hat nur Er mit so vollen Händen, mit so genialer
0153Sorglosigkeit die reizendsten Ideen in kleinen unbeachteten Formen,
0154für Gelegenheitszwecke oder freundschaftliche Souvenirs ausgestreut.
0155Der eigenen Großmuth unbewußt, schien er blos gefühlt zu haben,
0156daß der Born der Melodie in ihm unausschöpfbar sei, — und in
0157der That sind wir, wie diese neueste Reliquie wieder zeigt, fast 40
0158Jahre nach seinem Tode noch nicht auf den Grund dieses Brunnens
0159gelangt. Die 12 Ländler weisen unter sich die verschiedensten Stim-
0160mungen und Charaktere auf; einige sprechen in treuherzigster Weise
0161den österreichischen Dialect (Nr. 4, 10, 12), während wieder andere
0162die Form des Ländlers erweitern, den Ausdruck verfeinern und ver-
0163tiefen, ja mitunter, wie Nr. 3 und 4, Schumann’sche Klänge
0164prophetisch vorausnehmen. Einander an Kraft und Schönheit nicht
0165gleich, sind die 12 Ländler doch an keinem Punkte ihrer Nachbarschaft
0166unwerth, keiner von ihnen kann mittelmäßig oder reizlos heißen.
0167Vom Spieler verlangen sie nicht die mindeste Bravour, aber nur
0168eine feinfühlende Hand wird ihrem Wesen ganz gerecht werden. Als
0169ein willkommenes Seitenstück zu der zweihändigen Original-Ausgabe
0170ist gleichzeitig eine von Herrn Epstein geschickt ausgeführte Bear-
0171beitung zu vier Händen erschienen.


0172In der neuen Ausgabe der „Müllerlieder“ begrüßen wir
0173mit Freuden die Herstellung des richtigen, ursprünglichen Textes, wie
0174ihn Schubert niederschrieb. Sie ist ein getreuer Wiederabdruck der
0175ersten, bekanntlich noch vom Componisten selbst veranstalteten Aus-
0176gabe (Wien bei Sauer und Leidesdorf), welche im Verlauf
0177weniger Jahre fast spurlos verschwunden war. Die zweite, nach
0178Schubert’s Tod von Diabelli veranstaltete Auflage der „schönen
0179Müllerin“ brachte diese herrlichen Lieder mit vielen wesentlichen Ab-
0180änderungen, von denen manche — auffallend geschmacklos und ge-
0181ziert — längst den Verdacht der Schubert-Verehrer erregt hatten.
0182Mit zwei einzigen kleinen Ausnahmen in der Clavierbegleitung
0183treffen diese willkürlichen Aenderungen durchwegs die Singstimmen 
0184und bestehen in Verzierungen, Vorschlägen, Cadenzen. Es sind recht
0185eigentlich Sängermanieren. Ohne Zweifel rühren sie zum Theil von
0186der Vortragsweise des berühmten Michael Vogel her, vielleicht 
0187auch noch anderer beliebter Schubert-Sänger, deren Verzierungen man
0188allzu leichtgläubig für Verbesserungen hinnahm und ruhig in die
01892. Auflage hineindruckte. Es ist dies ein trauriges Beispiel mehr
0190von dem Leichtsinn und der Kritiklosigkeit, mit welcher in Deutsch-
0191land die Werke unserer großen Tondichter veröffentlicht und dann durch
0192Generationen fortgepflanzt werden.


0193Die neue Beethoven-Ausgabe, dies nicht genug zu rüh-
0194mende Unternehmen Breitkopf’s und Härtel’s, lehrt warnend, welch’
0195unsägliche Mühe die Richtigstellung eines Tactes, einer Note kostet,
0196welche einmal durch Irrthum oder Nachlässigkeit falsch in die Welt
0197gesetzt wurde. Von Schubert’sMüllerliedern“ lag aber eine
0198richtige authentische Original-Ausgabe vor — wie kam es, daß bis
0199heute keiner der zärtlichen Freunde Schubert’s gegen die Fälschung
0200und deren fortgesetzte allgemeine Verbreitung auftrat?


0201Man kann nicht ohne Scham davon reden. Nun das Ver-
0202gehen einmal vor Jahren verübt war, muß man es dem daran ganz
0203unschuldigen Herrn Spina Dank wissen, daß er es wenigstens nach
0204Kräften wieder gutgemacht hat. Nur Eines müssen wir rügen: daß
0205diese wichtige Neuerung ohne irgend ein erklärendes Vorwort in die
0206Oeffentlichkeit geschickt wurde. Das war im vorliegenden Falle, wo
0207dem Publicum eine ganz neue Lesart der verbreitetsten aller Schubert-
0208Lieder dictirt wird, dringend geboten. Der Herausgeber mußte in
0209einer umständlichen Vorrede den Anlaß dieser Revision erzählen, die
0210kritischen Grundsätze, nach welchen er dabei verfuhr, darlegen und
0211schließlich die Abweichungen dieser neuen Ausgabe von der fehler-
0212haften ältern mit philologischer Gewissenhaftigkeit verzeichnen. So,
0213ohne jede Erläuterung hinausgegeben, wird die neue Ausgabe nicht
0214verfehlen, einen Theil des Publicums confus zu machen, vielleicht
0215selbst neue Zweifel zu erregen. Der bloße Name des Herrn Rand-
0216hartinger
, welcher sehr lakonisch auf der neuen Ausgabe prangt,
0217wird der musikalischen Welt kaum genügen; mußte doch der Herr
0218Hofcapellmeister, als einer der „intimen Freunde“ Schubert’s, die ur-
0219sprüngliche richtige Lesart der Müllerlieder genau gekannt haben,
0220also seit einem Viertel-Jahrhundert in der Lage sein, über die Fäl-
0221schungen der 2. Ausgabe Aufschlüsse zu geben. Hoffentlich findet
0222Herr Spina noch Mittel, diese Lücke nachträglich auszufüllen und so
0223das werthvolle Geschenk, das er der Musikwelt dargebracht, ganz zu
0224vervollständigen.