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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 84. Wien, Mittwoch den 23. November 1864

[1]

Zwei Tonkünstler-Biographien.

(Franz Schubert. J. Fr. Reichardt.)


0003Ed. H. „Was ein Mann für Andere bedeutet, der beste
0004Theil seines Lebens bleibt in dieser Form für die nächsten
0005Geschlechter, vielleicht bis in die fernste Zukunft. Und sowol
0006die, welche ein gutes Buch schreiben, als auch solche, deren
0007Leben und Thun im Buche dargestellt wird, sie beharren in der
0008That lebendig unter uns. Wir dürfen sagen, im Buche dauert
0009das geistige Leben des Einzelnen, und nur der Geist, welcher
0010eingebucht ist, hat sichere Dauer auf Erden.“ Es fügte sich
0011hübsch, daß wir in der Lectüre von Freytag’s anmuthiger
0012Erzählung „Die verlorne Handschrift“ gerade bei den oben an-
0013geführten Worten hielten, als man uns zwei neue Biographien
0014überbrachte: Franz Schubert’s und J. Fr. Reichardt’s.
0015Grundverschieden in jedem Bezug, treffen doch beide Tondichter
0016in dem gleichen Anspruch zusammen, als Menschen wie als
0017Künstler „lebendig unter uns zu beharren.“ Für Beide geht
0018dieser Anspruch jetzt gleichzeitig in Erfüllung, ihr Leben und
0019Thun liegt zum „erstenmal zu sicherer Dauer eingebucht“ vor uns.


0020Wir können hier nur die Absicht haben, unsere Leser auf
0021Kreißle’sSchubert“ und Schletterer’sReichardt“
0022aufmerksam zu machen; eine eingehend kritische Beurtheilung
0023der beiden — überdies sehr umfangreichen — Növitäten ge-
0024hört in ein Fachblatt. Das Schubertbuch steht uns natürlich
0025näher; nicht nur behandelt es den ungleich größeren Künstler, den
0026Wiener obendrein — auch der Verfasser, Herr Dr. Kreißle 
0027von Hellborn
, ist Einer von den Unsern und im musikali-
0028schen Centrum Wiens als ausübender und schriftstellernder
0029Musiker vortheilhaft bekannt.


0030Als Beethoven die Augen schloß, ging es seinen Ver-
0031ehrern wie Rahel, die bei der Nachricht von Goethe’s Tod
0032gestand, sie habe nie im Ernste daran gedacht, daß auch Goethe 
0033sterben könne. Ehe man sich des Schlages nur recht bewußt,
0034des Verlustes völlig klar geworden, war, ein Jahr nach
0035Beethoven, auch derjenige erblaßt, der inzwischen still und
0036unerkannt dessen Erbschaft angetreten hatte: Franz Schu-
0037bert
. Wenige Schritte nur liegen zwischen ihm und Beetho-
0038ven — in der Kunst, wie auf dem Friedhof. Was in Wahr-
0039heit Schubert’s Leben ausmachte, ruht in seinen Tondichtungen;
0040in solcher Fülle liegt es vor uns ausgebreitet, daß es noch kaum
0041überblickt, geschweige denn durchforscht ist. Seine äußeren
0042Schicksale hingegen, die allereinfachsten, die nur immer ein
0043großes Seelenleben einrahmen können, sind mit wenigen Wor-
0044ten erzählt. Du kennst, musikliebender Leser, das bescheidene,
0045einstöckige Haus in der Vorstadt Lichtenthal, an welchem seit
0046Kurzem eine Gedenktafel die Vorübergehenden belehrt, daß hier
0047am 31. Jänner 1797 Franz Schubert geboren wurde. Hier
0048wuchs er im Kreise seiner Eltern und Geschwister in gar be-
0049schränkten Verhältnissen auf. Sein Vater hatte eine kleine
0050Schullehrerstelle und — neunzehn Kinder. Zum Glück sind
0051die Schullehrer meistens die wahren musikalischen Missionäre
0052im Land und jedes Schulhaus eine kleine Wegkapelle musika-
0053lischer Andacht. Im Schubert’schen Hause waren Vater und
0054Brüder wackere Musiker — ihre sonntägigen Gesammt-Pro-
0055ductionen mahnen fast an Sebastian Bach und seine Söhne
0056— der junge Franz wurde denn recht eigentlich „von Haus
0057aus“ musikalisch. Seine hübsche Sopranstimme ertönte bald
0058in der kaiserlichen Hofcapelle und verschaffte ihm einen Zög-
0059lingsplatz im „Convict“. Diese Anstalt, den allgemeinen ge-
0060lehrten Studien gewidmet, war damals für die Zöglinge bei-
0061nahe ein Conservatorium in kleinem Styl, gleichsam ein letz-
0062ter, weltlicher Nachklang jener segensreichen Sängerschulen, in
0063welchen früher Domcapitel und Klöster für die Heranbildung
0064junger Sänger sorgten. Componirt hat der junge Schubert 
0065schon im Convict sehr eifrig, er hatte da immer viel mehr
0066Ideen als Notenpapier.


0067In seinem sechzehnten Jahre kehrte Schubert ins väter-
0068liche Haus zurück und trat bei seinem Vater als Schulgehilfe
0069ein. Drei Jahre hielt Pegasus im Joche aus, ruhig, wenn
0070auch nicht willig. Und welch ein Joch es für diese hochflie-
0071gende Künstlernatur war, kleinen Kindern nicht ohne Beihilfe
0072handgreiflicher Ermahnungen das ABC einzuüben, läßt sich
0073denken. Sein Kopf summte schon wie ein Bienenstock von
0074süßen, blüthenduftigen Melodien. Endlich ward ihm der geistige
0075Druck doch zu unerträglich, und er gehorchte der innern Stimme,
0076die ihn zur Tonkunst rief. Hier, dünkt uns, liegt der einzige ent-
0077scheidende Abschnitt in Schubert’s kurzer Laufbahn. Alles was
0078nun folgt, ist einheitliche „zweite Periode,“ ihr Inhalt ein
0079ununterbrochener Strom musikalischen Schaffens. Das freund-
0080schaftliche Zusammenleben mit Bauernfeld und Moriz
0081Schwind, der Verkehr mit dem ältern Dichter Meyer-
0082hofer
übte fördernden Einfluß auf Schubert. Es ist bekannt,
0083daß der hochgebildete Opernsänger Michael Vogl Schubert’s
0084Lieder zuerst in größere Kreise einführte, sowie daß im Jahre
00851821 die Herausgabe des „Ersten Werkes“ (Erlkönig) durch
0086Leopold v. Sonnleithner angeregt und ermöglicht worden
0087ist. Früher hatte Schubert seine Lieder in Privatkreisen selbst
0088vorgetragen. Wir möchten den Vortheil betonen, der ihm
0089(namentlich im Vergleich mit Beethoven) daraus zu statten kam,
0090daß er selbst Sänger war und deshalb auch stets sangbar
0091schrieb. Der Erfolg jener ersten Publication war sehr günstig,
0092und bald sah sich Schubert in den Stand gesetzt, unabhängig,
0093wenngleich sehr eingeschränkt, zu leben.


0094In Geldsachen zeitlebens ein Kind, hat Schubert leider
0095nie verstanden, aus seinen Werken, die bei der unendlichen
0096Leichtigkeit seines Producirens ihm eine sorgenfreie Existenz
0097hätten bereiten können, angemessenen Vortheil zu ziehen. Lec-
0098tionen geben war ihm, gerade wie Beethoven, unbezwinglich
0099verhaßt. Ein öffentliches Musikamt hat er nie bekleidet, wenn auch
0100zweimal angesucht. Es war eine Musikdirectors-Stelle in Laibach 
0101und die Stelle eines Vice-Hofcapellmeisters in Wien, um die er
0102sich erfolglos bewarb. Eine zeitlang fungirte Schubert als Corre[2]-
0103petitor am Hofoperntheater; „ich passe nicht dazu,“ pflegte er
0104selbst zu sagen. Mit Ausnahme eines Sommeraufenthaltes
0105beim Fürsten Eszterhazy in Ungarn und mehrerer Streifzüge
0106durch Oberösterreich und Salzburg lebte Schubert stets in
0107Wien. Aus jener Villeggiatur in Zélez, die das Herz des jugend-
0108lichen Tondichters nicht unbehelligt gelassen — auch eine
0109flüchtige Aehnlichkeit mit dem comtessenschwärmenden Beethoven 
0110— stammen in Sch.’s Werken die häufigen reizenden Anklänge
0111an ungarische National-Melodien. Ganz in seinem Lebens-
0112element fühlte sich aber Schubert, wenn er mit Vogl Ober-
0113österreich und Salzburg durchzog, beide singend und spielend,
0114in den besten Familien, in den stattlichsten Klöstern mit Jubel
0115empfangen und festgehalten. „Als wenn das Sterben das
0116Schlimmste wäre, was uns Menschen begegnen kann,“ schreibt
0117Schubert einmal von solch einem fröhlichen Ausfluge mit Be-
0118ziehung auf seinen eben von schwerer Krankheit genesenen
0119Bruder Ferdinand. „Könnte er nur einmal diese göttlichen
0120Berge und Seen schauen, deren Anblick uns zu erdrücken und
0121zu verschlingen droht, er würde das winzige Menschenleben
0122nicht gar so sehr lieben, als daß er es nicht für ein großes
0123Glück halten sollte, der unbegreiflichen Kraft der Erde zu
0124neuem Leben wieder anvertraut zu werden.“ Schubert selbst
0125sollte „diese göttlichen Berge und Seen“ nicht wieder schauen.
0126Von heftiger, kurzer Krankheit hingestreckt, endete Schubert,
012732 Jahre alt, am 19. November 1828.


0128Die Umrisse von Schubert’s Leben, wie wir sie hier flüchtig
0129gezeichnet, mit allem noch erreichbaren Detail auszufüllen und
0130dies Detail urkundlich festzustellen, war das Ziel, welches Herr
0131v. Kreißle sich in seiner Schubert-Biographie gesteckt, und
0132dem er mit rühmenswerther Ausdauer und Gewissenhaftigkeit zuge-
0133strebt hat. Von dem zweiten Theil der Aufgabe, der ästhetisch
0134kritischen ganz abgesehen, stößt schon jenes rein biogra-
0135phische Unternehmen auf große Schwierigkeiten. Sie liegen
0136hauptsächlich in dem so einfachen bescheidenen Verlauf dieses
0137Künstlerlebens.


0138„In Schubert’s Leben,“ sagt sein Freund A. Schindler 
0139ganz richtig, „gab es nicht Berg, nicht Thal, nur gebahnte
0140Fläche, auf der er stets in gleichmäßigem Rhythmus sich be-
0141wegte. Auch sein Gemüthszustand glich einer spiegelglatten
0142Fläche und war durch äußerliche Dinge nur schwer zu irriti-
0143ren. Seine Tage flossen dahin, wie es dem arm Geborenen
0144und arm Gebliebenen in bürgerlicher Sphäre geziemt.“ Nur
0145Jemand, der Schubert in persönlich intimen Verkehr nahe ge-
0146standen, und der zugleich ein Stück Poet ist, wäre vielleicht
0147im Stande, uns den stillen, räthselvollen und doch so liebens-
0148würdigen Mann so zu schildern, daß er uns Andern lebendig
0149würde. Und dennoch haben zwei Männer, in welchen beide
0150Bedingungen zusammentreffen, es wiederholt abgelehnt, sich an
0151Schubert’s Biographie zu versuchen: Bauernfeld und
0152Franz v. Schober. Auch Herr v. Kreißle verhehlt sich diese
0153Schwierigkeit nicht, doch konnte sie ihn „in keiner Weise
0154abhalten, den verpönten Versuch mit verstärkter Kraft zu
0155wagen.“


0156„Es ist,“ fährt er in der Vorrede fort, „meine auf Er-
0157fahrung gestützte Ueberzeugung, daß in nicht ferner Zeit bei
0158dem allmäligen Heimgang der noch lebenden Zeugen von
0159Schubert’s äußerer Existenz eine Biographie dieses Tondichters
0160schlechterdings zu den Unmöglichkeiten gehören wird, und daß
0161fürder, ungeachtet so mancher unvermeidlicher Lücken, kaum ein
0162Mehreres geboten werden dürfte, als in dieser Darstellung ent-
0163halten ist.“ Wir geben dem Verfasser hierin vollständig Recht
0164und können ihm nur dankbar sein, daß er die erhebliche Mühe
0165auf sich genommen, Alles zu sammeln, was an mündlichen
0166und schriftlichen Mittheilungen über Schubert, an Briefen und
0167sonstigen Behelfen aufzutreiben war. Was seine Arbeit zur ge-
0168nauen Feststellung von Schubert’s äußeren Erlebnissen und
0169zur Chronologie seiner Werke beibringt, ist höchst schätzbar
0170und macht dieselbe zu einem unentbehrlichen Nachschlage-
0171buch für Alle, die sich in dem Gebiet dieser Thatsachen
0172orientiren wollen. Daß uns Schubert’s volle charakteristische
0173Persönlichkeit durch Kreißle’s umfangreichen Band nicht le-
0174bendiger geworden ist, als sie es uns aus den bekannten Auf-
0175sätzen von Bauernfeld, Schindler und Meyerhofer,
0176endlich aus den in Kreißle’s früherer „Skizze“ veröffentlich-
0177ten 3—4 Briefen Schubert’s bereits war, können wir nicht
0178leugnen. Desgleichen sei offen gestanden, daß des Verfassers
0179Urtheile über Schubert’sche Compositionen sich in zu allgemei-
0180nen, allerdings von wärmster Bewunderung dictirten Aus-
0181drücken bewegen, um zur tieferen Erkenntniß dieses Tondichters
0182oder einzelner seiner Werke beizutragen. Die Aufnahme aller
0183Aussprüche R. Schumann’s über Schubert war jedenfalls
0184ein glücklicher Gedanke.


0185Offenbar war es dem Verfasser zunächst darum zu thun,
0186ein möglichst reiches Material zu sammeln und sicherzustellen.
0187Und diese Aufgabe hat er mit der Genauigkeit eines muster-
0188haften Registrators gelöst. Niemand, der von dem Werth
0189solcher Arbeit und von deren Schwierigkeit einen Begriff hat,
0190wird Kreißle’s Thätigkeit unterschätzen.


0191Die Sorgfalt, nichts von dem gesammelten Material
0192verlorengehen zu lassen, hat den Verfasser sogar verleitet, mit-
0193unter sehr überflüssige Dinge aufzunehmen, wenn sie ihm
0194nur irgend einen Zusammenhang mit Schubert zu bieten schie-
0195nen. Es werden uns die „Personalien“ und Familien-Ver-
0196hältnisse keines Menschen erspart, der je in Berührung mit
0197Schubert gekommen, so daß das Buch von unbekannten und
0198unbedeutenden Statisten förmlich wimmelt. Darf das Inter-
0199esse, welches speciell die ältere Wiener Generation für derlei
0200haben mag, hierin wirklich entscheidend sein? Noch freigebiger
0201ist der Verfasser mit dem Abdruck von Briefen. Wenn wir
0202ihm den Abdruck jedes nur auffindbaren Briefes von Schu-
0203bert’s
Hand zugestehen, so zeigen wir uns wol liberal genug.
0204Auch die Briefe von Schwind und Bauernfeld möchten
0205wir, obwol sie überaus häuslichen Inhalts sind, nicht missen,
0206da uns die Persönlichkeit dieser Briefsteller und die Art ihres
0207Verkehrs mit Schubert interessirt.


0208Was soll uns hingegen der vollständige Abdruck der
0209zahlreichen, rein geschäftlichen Briefe von den Musikverlegern
0210Probst, Schott, Brüggemann, Peters etc., deren In[3]-
0211halt sich mit den zwei Worten wiedergeben ließ: Der Ver-
0212leger N. N. nahm die ihm offerirten Schubert’schen Compo-
0213sitionen an, oder er nahm sie nicht an. Was sollen uns fer-
0214ner ganz unbedeutende Briefe dritter Personen an dritte Per-
0215sonen, z. B. des Herrn Jenger an Frau Pachler oder
0216das Schreiben Schober’s an Spaun (S. 228), welches nur
0217in den ersten Zeilen Schubert’s erwähnt, in seinem ganzen
0218weitern Verlauf aber nur von Bagatellen handelt, die keinen
0219Menschen außer Herrn v. Spaun interessiren können. Ueber-
0220dies sind diese Briefe nicht etwa (wie bei Jahn) in den
0221Anhang verwiesen, sondern durchweg in den Text aufgenom-
0222men, dessen Fortgang dadurch auf das ermüdendste gehemmt wird. *)
0228Da der Werth eines Buches doch nicht genau mit dessen
0229Papiermasse zunimmt, wird man Kreißle’s neue Schubert-
0230Biographie im Vergleich mit dessen früherer „biographischen
0231Skizze“ kaum in dem Maße reichhaltiger finden, als sie dicker ist.
0232Ein wesentlicher Fortschritt der neuen Bearbeitung liegt hingegen in
0233der besseren Anordnung und Eintheilung, in den Notizen über die
0234Entstehung und erste Aufführung der wichtigsten Schubert’schen
0235Werke, endlich und ganz vorzüglich in der Beigabe eines voll-
0236ständigen chronologischen Verzeichnisses der Compositionen
0237Schubert’s. Diese Vorzüge werden Kreißle’s Buch überall
0238eine freundliche, achtungsvolle Aufnahme sichern, umsomehr,
0239als auch die geschmackvolle Ausstattung desselben der bewährten
0240Firma Gerold alle Ehre macht.


0241Es bleibt uns nur mehr wenig Raum, um dem Leser
0242von dem biographischen Denkmal zu erzählen, das der ver-
0243dienstvolle Augsburger Domcapellmeister J. M. Schletterer 
0244dem beinahe verschollenen Lieder-Componisten Reichardt ge-
0245setzt hat. Gestehen wir es nur, die erste Empfindung, mit
0246der wir das Buch betrachteten, war — Schrecken. Ein gro-
0247ßer dicker Lexikonband, den man beim Lesen wie eine Altar-
0248bibel auf den Tisch breiten muß, und als Titelblatt: „Johann
0249Friedrich Reichardt. Erster Band“! Werden denn die deut-
0250schen Gelehrten nicht müde, sich selbst um die wohlverdienten Früchte
0251ihrer Arbeit zu bringen? Mit eigener Hand decimiren sie ihren
0252Leserkreis durch jene mißverstandene Gründlichkeit, die oft nur
0253in dem Unvermögen besteht, Wesentliches von Unwesentlichem
0254zu unterscheiden, jenes kurz und dieses gar nicht zu sagen!
0255Schon Jahn’sMozart“ mußte sich den Vorwurf allzugroßer
0256Breite gefallen lassen, und doch handelte es sich da um Mo-
0257zart
und um weit mehr als seine Person.


0258Wenn nun vollends Nohl blos für Beethoven’s „Ju-
0259gendjahre
“ einen starken Band braucht, Kreißle über 600
0260Seiten für Schubert, Schletterer endlich noch eine corpu-
0261lentere Arbeit über Reichhardt als „Erster Band“ bezeich-
0262net u. s. f., dann kann es nicht Wunder nehmen, wenn solche
0263Bücher nicht über den engen Kreis von Musikgelehrten hinaus
0264ins große Publicum dringen, dem sie doch wol zugedacht sind.
0265Und gerade Reichardt (geboren 1751, gestorben 1814) ist
0266durch seine interessante Persönlichkeit und seine überaus reichen
0267Erlebnisse wie geschaffen, ein großes Publicum zu fesseln! Die
0268wichtigsten und buntesten Constellationen der musikalischen, lite-
0269rarischen und politischen Geschichte gruppiren sich auf das
0270anschaulichste um diesen beweglichen, geistreichen Mann. Er ist
0271der rechte Romanheld der neueren Musik, ohne Beihilfe von
0272Elise Polko und Heribert Rau. An die Grenzscheide der al-
0273ten und neuen Zeit gestellt, persönlich befreundet mit allen nam-
0274haften Componisien Deutschlands und Frankreichs, von Ema-
0275nuel Bach, Gluck und Gretry bis auf Beethoven, Cherubini 
0276und Boyeldieu, der Schwiegersohn Franz Benda’s und
0277Schwiegervater Heinrich Steffens’, in lebhaftem Verkehr mit
0278Kant, Hamann und Lavater, sowie mit Goethe, Schil-
0279ler
und allen Koryphäen der Weimarer Glanzepoche, Capell
0280meister Friedrich’s des Großen und König Jerome’s von West-
0281falen, Virtuose, Componist, Dirigent, Theoretiker, Journalist,
0282endlich gar königlicher Salinen-Director, ist Reichardt ein 
0283lebendiges Stammbuch seiner Zeit. Er war Augenzeuge der
0284französischen Revolution in Paris und erlebte, immer gleich
0285frischen Geistes, die Befreiung Deutschlands von der napoleo-
0286nischen Herrschaft. Seine Briefe aus Paris (1802) wie die
0287späteren aus Wien (1809) zählen zu den wichtigsten und in-
0288teressantesten Aufschlüssen über die musikalischen wie über die
0289gesellschaftlichen Verhältnisse jener Zeit.


0290Als Tondichter können wir Reichardt unmöglich so hoch
0291stellen, als sein enthusiastischer Biograph es thut, doch bleibt
0292ihm in seinen Liedern und Opern der Vorzug einer damals
0293ungewöhnlichen Bildung und das geschichtliche Verdienst frucht-
0294barer Anregung. Reichardt erscheint uns ungleich bedeutender
0295durch die Totalität seiner Persönlichkeit, als durch seine Com-
0296positionen. Er war der erste deutsche Musiker, der mit ent-
0297schiedenem Beruf schriftstellerisch thätig war, und der hiedurch
0298prophetisch auf die verwandten Künstlernaturen C. M. We-
0299ber
und Richard Wagner hinweist. Kurz es trifft bei
0300Reichardt Alles zusammen, was einen biographischen Stoff
0301anziehend, reichhaltig und bedeutsam machen kann.**) Wir
0309haben Schletterer’s ersten Band (der leider nur bis zum
0310Jahre 1794 reicht und sich auf die Würdigung des „Musikers“
0311beschränkt) mit warmem Interesse und mit aufrichtigster
0312Achtung für den Forscherfleiß und die Gewissenhaftigkeit des
0313Autors gelesen. Wenn wir auch im freundschaftlichen Interesse
0314für den Verfasser den Wunsch nach einer bündigeren Abfassung
0315des zweiten Bandes nicht zurückhalten konnten, das Erscheinen
0316dieser Fortsetzung erwarten wir mit Zuversicht und lebhaftem
0317Antheil.

Fußnoten
  • *)Ein anderer Zug von „Gründlichkeit“, auf den wir gerne
    verzichtet hätten, findet sich Seite 139, wo uns der Verfasser in Einem
    Athem von der „poetischen Flamme“ Schubert’s für die Comtesse
    Eszterhazy und von dem „Verhältniß“ erzählt, das Schubert im
    Eszterhazy’schen Hause „mit einer Dienerin daselbst“ anknüpfte!
  • **)Reichardt hat eine Selbstbiographie geschrieben und den
    Anfang derselben (die ersten 15 Lebensjahre umfassend) in der Berli-
    ner Musikalischen Zeitung von 1805 veröffentlicht. Die Fortsetzung
    des Manuscripts erhielt Schletterer von der Tochter Reichardt’s,
    der Frau Hofräthin v. Raumer in Erlangen, und konnte somit
    dies höchst interessante Schriftstück hier zum erstenmal vollständig
    veröffentlichen.