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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 152. Wien, Dienstag den 31. Januar 1865

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Concerte.


0002Ed. H. Unsere diesjährige Concertsaison charakterisirt ein
0003auffallendes Zurücktreten der Virtuosen- und Einzel-Concerte
0004hinter die großen cyclischen Productionen der Orchester- und
0005Kammermusik. Sie spiegelt hierin im Kleinen nur den Cha-
0006rakter wieder, den das Concertwesen seit einem Decennium
0007überhaupt angenommen hat, und der eben in jenem entschiede-
0008nen Vorherrschen der großen Formen und Gesammtmittel vor
0009den Leistungen des Einzelnen besteht. Die Concerte haben eine
0010größere Tiefe des Inhalts und Breite der Form gewonnen,
0011und ersetzen durch diese Qualität reichlich, was sie an absoluter
0012Menge einbüßen. Wurde doch diese oft erstaunliche Menge
0013nur durch das Uebergewicht der Virtuosen-Concerte und jener
0014kleinen Einzel-Productionen verursacht, welche, von wenig Nutzen
0015für die Kunst, überdies durch ihre unruhige Beweglichkeit die
0016Theilnahme an größeren, ernsten Kunstleistungen störend beein-
0017trächtigten. Nach längerer Pause sind jüngst zwei Concert-
0018geber aufgetreten, jeder mit einem einzigen Concert: der Sänger
0019Reichardt und die Pianistin Hauffe. Es sind zwanzig
0020Jahre her, seit Herr Alexander Reichardt am Hofopern-
0021theater engagirt war; nach seinem Austritt aus demselben be-
0022suchte er uns noch einmal (1850) als Liedersänger. Die Zeit,
0023welche an Herrn Reichardt’s Aeußern fast spurlos vorüber-
0024gegangen ist, scheint ihre Rechte ausschließlich an seiner Stimme
0025geltend zu machen. Diese Stimme, welche Kraft und Fülle
0026niemals besessen hat, finden wir jetzt auch des Schmelzes und
0027Wohllauts beraubt. Nur im Pianissimo und der geschickten Ver-
0028wendung des Falsetts klingt Reichardt’s Tenor noch einigermaßen
0029angenehm; das mindeste Crescendo oder Forte genügt, um dessen
0030eigenthümlichen Kehl- und Nasenlaut auf das unwillkommenste vor-
0031zudrängen. Herr Reichardt hatte sein Programm vorsichtig gewählt:
0032auf dem Gebiete zärtlicher Lyrik und virtuoser Coloratur. Sein
0033Liedervortrag ist nicht ohne Empfindung und Eleganz, wenn auch 
0034mitunter, wie in Schubert’s „Neugierigen“, ans Süßliche und
0035Manierirte streifend. Wirksamer erschien uns Reichardt’s an-
0036dere Specialität, die leichte, flüssige Coloratur, für welche ihn
0037eine ungemeine Schmiegsamkeit der Kehle und günstige Ver-
0038bindung des Brustregisters mit der Kopfstimme vorzüglich be-
0039fähigen. Herr Reichardt glänzte mit seinem Passagenwerk in
0040dem reichcolorirten Duett aus Rossini’sCenerentola,“ das
0041er mit Fräulein Bettelheim vortrug. Die Fortschritte dieser
0042begabten jungen Künstlerin in der Ausbildung des Mezzavoce
0043und in der Coloratur sind uns dabei auf das angenehmste
0044aufgefallen. Herr Reichardt wurde von dem Publicum sehr
0045freundlich begrüßt und nach jeder Nummer gerufen. Von den
0046sogenannten „Zwischennummern“ hörten wir Reinecke’s gra-
0047ziöses Impromptu (über ein Motiv aus Schumann’s 
0048Manfred“) für 2 Claviere. Die Schwestern Malwina 
0049und Caroline Tietz führten es mit ziemlich schwachem An-
0050schlag, aber so correct, sauber und zierlich durch, daß sie leb-
0051haftesten und wohlverdienten Beifall ernteten. Wenn jedes der
0052beiden Mädchen für sich kaum bedeutende Wirkung zu erzielen
0053vermag, so ist doch ihr überraschend präcises Zusammenspiel
0054von bestem Effect, und sie thun wohl, sich hierin, nach dem
0055Vorbilde der Schwestern Ferni, eine Specialität zu schaffen.


0056Den rühmlichen Erfolg Fräulein Hauffe’s im letzten
0057philharmonischen Concert haben wir bereits gemeldet. Gerecht
0058und vollständig konnte man diese Künstlerin jedoch erst in dem
0059Concerte würdigen, das sie Samstag Abends im Musikvereins-
0060saal gab. Ihr Vortrag des Schumann’schen Concerts bei den
0061Philharmonikern ließ weder schöne Einzelheiten, noch tüchtige
0062musikalische Bildung im Allgemeinen vermissen, aber er schien
0063uns in den beiden ersten Sätzen beeinträchtigt durch eine allzu
0064weichliche, in kleinen Accenten, Rallentandos und Smorzan-
0065dos sich wiegende Auffassung. Die künstlerische Verwandtschaft
0066Louise Hauffe’s mit Clara Schumann, welche, durch physiogno-
0067mische Aehnlichkeit unterstützt, sich unwillkürlich aufdrängt und
0068in Fräulein Hauffe’s Concert im besten Sinne sich bewährte,
0069hielt gerade an jenem Mittag im Kärntnerthor-Theater nicht 
0070Stich. Clara Schumann spielt das C-moll-Concert ihres
0071Gatten vollständig im Tact, das „Andantino gracioso“ leb-
0072hafter, das Ganze mit jener gleichmäßig feinen und scharfen
0073Rhythmik, die alles Verschwommene ausschließt. Der musika-
0074lische Charakter eines Stückes spricht sich keineswegs mit solcher
0075Schärfe aus, daß der ausübende Künstler nicht Spielraum
0076fände für seine eigenthümliche Auffassung, ohne jenen zu ver-
0077letzen. Clara Schumann nahm den ästhetischen Gehalt jener
0078Composition vorzugsweise mit dem Geiste auf, Fräulein Hauffe 
0079überwiegend mit dem Gemüthe. Bei dem überwiegend zarten,
0080weichen Charakter des Schumann’schen Stückes scheint uns
0081letzteres wenigstens gefährlicher. Daß dieser leichte Schatten
0082die Gesammtleistung keineswegs verdunkelte, bewies der
0083reichliche Beifall, — daß er mehr in gefälliger Stimmung
0084als in der eigentlichen Kunstanschauung Fräulein Hauffe’s 
0085seinen Grund hatte, ihr eigenes Concert. Hier leuchteten
0086die reichen Vorzüge der Künstlerin ungetrübt im reinsten Licht.
0087Die Schönheit ihres kraftvollen und bei aller Kraft doch
0088weichen, gesangvollen Anschlags, die sichere, durchgebildete
0089Technik, die richtige und feine Auffassung bei gewissenhafter
0090Correctheit jedes Details wirkten zum erfreulichsten Bilde zu-
0091sammen. Bei Fräulein Hauffe’s Spiel hat man sofort die
0092Empfindung, eine echt künstlerische, wahrhaft musikalische Natur
0093vor sich zu haben, die ebenso fern von Koketterie und puppen-
0094hafter Dressur, als von genialthuender Nachlässigkeit steht.
0095Fräulein Hauffe spielte Schumann’s E-dur-Quartett,
0096Beethoven’s B-dur-Trio und die „Variations sérieuses“
0097von Mendelssohn (ein Programm ohne jedwede gefallsüchtige
0098Concession) durchaus vorzüglich. Nur die Variationen hätten
0099wir etwas gemäßigter im Tempo gewünscht.*) Frau Passy-[2]
0107Cornet sang einige ihrer Vortragsweise sehr fernliegende
0108Lieder von Schumann und die oft gehörte russische „Nachti-
0109gall,“ letztere mit vollständigem Erfolg. Den Ensemblestücken
0110kam die treffliche Mitwirkung der Herren Hellmesberger,
0111Dobihal und Röver zu statten. Fräulein Hauffe erfreute
0112sich eines zahlreichen Auditoriums und einer Aufnahme, wie
0113sie so schmeichelhaft seit lange kein Pianist hier gefunden.


0114Aus der Zahl der kleineren Productionen von halbpri-
0115vatem Charakter nennen wir die im Salon des Hofclavier-
0116machers Ehrbar stattfindenden Compagnie-Concerte der Her-
0117ren Kremser (Piano) und Hofmann (Violine), die sich
0118vielen Beifalls erfreuen, dann das Concert der talentvollen
0119Geschwister Sophie und Friedrich Raczek, deren bedeutende
0120Fertigkeit auf der Violine Aufmunterung und Anerkennung
0121verdient.


0122Die Quartettcyklen von Hellmesberger und von
0123Laub nähern sich ihrem Ende. Beide Künstler scheinen ihrem
0124Hörerkreise den Abschied recht schwer machen zu wollen. Laub 
0125sind wir für die Vorführung von Beethoven’s Quartetten
0126opus 95 und 132 zu besonderem Dank verpflichtet. Cheru-
0127bini’s
 Es-dur-Quartett interessirt mehr als es erfreut und
0128befriedigt. Cherubini’s vergöttertes Vorbild Haydn erscheint
0129hier mit den Elementen einer neuern Romantik, der Quartett-
0130styl mit dem dramatischen in einer Mischung vereinigt, die
0131nicht den Eindruck des Organischen, Ursprünglichen macht. Be-
0132müht, sein Bestes in einem seiner Nationalität und seinem
0133Entwicklungsgang fremden Genre zu geben, fühlt sich Cheru-
0134bini trotzdem durch diese Form genirt. Die lange Ausdehnung
0135der Sätze, besonders des Adagio, spricht hier eher für als
0136gegen diese Vermuthung. Laub dürfte das Werk wahrschein-
0137lich des Scherzo halber gewählt haben, das er und seine
0138drei Genossen mit wahrhaft glänzender Bravour vortrugen
0139und auf Verlangen wiederholten. Fräulein Marie Geisler 
0140spielte mit Laub eine Mozart’sche Sonate. Kein glücklicher
0141Gedanke war es, dies Stück statt des versprochenen D-moll-
0142Trio’s von Schumann einzuschieben, hört es sich doch in seiner
0143planen, spielseligen Weise gar zu veraltet an. Der Virtuosität
0144bietet diese Hausmusik überdies nicht die geringste Aufgabe.
0145Fräulein Geisler konnte demnach nur eine klare, correcte
0146Auffassung und einige Passagen-Geläufigkeit zeigen; dies that
0147sie redlich. Auch mit Hellmesberger möchten wir
0148schmollen, daß er uns statt des versprochenen neuen Clavierquartetts
0149von Rubinstein dessen oftgehörtes B-dur-Trio gab. Das neue
0150Quartett wurde in verschiedenen Städten mit großem Beifall gege-
0151ben, und falls es diesen Beifall nicht verdiente oder in Wien nicht fände,
0152so kann man die Verantwortung ruhig dem Componisten aufbür-
0153den. Rubinstein’s Ruf und unsere Armuth an Novitäten sind
0154dafür wol groß genug. Lobende Erwähnung verdient Herrn
0155Derffel’s sehr beifällig aufgenommener Vortrag der Schu-
0156bert’schen A-moll Sonate in Hellmesberger’s siebenter Soirée.
0157An diesem Abend hörten wir auch ein älteres Streichquartett 
0158von Herbeck, das zum erstenmal von derselben Gesellschaft
0159im Jahre 1857 vorgeführt worden ist. Wir können uns kurz
0160auf dasjenige berufen, was wir damals zum Lobe dieser geist-
0161reichen charakteristischen Composition ausgesprochen. Herbeck’s
0162Quartett hat (besonders in den zwei mittleren Sätzen) wahr-
0163haft bedeutende Partien, gegen welche einige raffinirte Stellen,
0164die vielleicht aus Herbeck’s anhaltender Beschäftigung mit
0165Beethoven’s letzten Quartetten zu erklären sind, wenig in Be-
0166tracht kommen. Das Quartett, ganz meisterhaft gespielt, fand
0167verdiente Anerkennung. Hoffentlich hören wir Herbeck’s neues 
0168Quartett, das ursprünglich angesagt war, im nächsten Winter.
0169Die Last von musikalischer Beschäftigung, welche auf dem für
0170das Wiener Musikleben so rastlos thätigen Componisten
0171ruht, hat ihn an dem letzten Abschluß des Werkes gehindert.
0172Wäre es nicht grausam, ihm noch einen größeren Wirkungs-
0173kreis zuzumuthen? Und dennoch haben wir einen derartigen
0174Wunsch. Er betrifft die Leitung der Kirchenmusik in der Hof-
0175burgcapelle. Herbeck ist bekanntlich durch die Gnade des
0176Kaisers zum Vice-Hof-Capellmeister ernannt, aber so viel wir 
0177wissen, ist sein Einfluß auf die Hofcapelle ein sehr unter-
0178geordneter und zufälliger. Nun scheint uns dieses mit den besten
0179Kräften ausgestattete Institut bezüglich seiner kirchlichen Aufgabe
0180einer Reform in echt künstlerischem Geist bedürftig. Bekanntlich ge-
0181noß die Kirchenmusik in der Burgcapelle stets einen so ausge-
0182zeichneten Ruf, daß jeder in Wien angekommene musikalische
0183Fremde sich zuerst dahin führen ließ. Diesen Liebesdienst er-
0184wiesen wir vor Kurzem auch einem musikkundigen Reisenden.
0185Wer schildert dessen Erstaunen, als er daselbst eine Messe mit
0186sentimentalen Flügelhorn-Solos hörte! Unseres Wissens
0187ist dies profane Instrument, der Liebling Verdi’s und der Re-
0188giments-Capellmeister, bisher in keine deutsche Kirche gekommen,
0189am wenigsten in die kaiserliche Burgcapelle. Die Hauptrolle
0190in dem Repertoir der letzteren scheinen jene äußerst weltlichen
0191Compositionen zu spielen, welche bei den hiesigen Musikern
0192unter dem schelmischen Titel „Eisenbahnmessen“ bekannt sind,
0193da ihr Verfasser sie auf seinen täglichen Sommerfahrten zwi-
0194schen Baden und Wien zu schreiben pflegt. Zwischen Baden 
0195und Mödling soll gewöhnlich ein Satz, zwischen Mödling und
0196Hetzendorf ein zweiter fertig werden, besonders boshafte Leute
0197behaupten sogar, der Componist habe eine eigene Kyrie-Sta-
0198tion, eine Credo-Station u. s. w. Dies halten wir jedoch für
0199eine neidische Erfindung schwerfälligerer Tonsetzer. Keine Er-
0200findung ist aber die Geschichte mit dem Flügelhorn und der
0201von unsern witzigen Orchestermitgliedern erfundene neue Gat-
0202tungsbegriff „Cavalleriemessen“. Hof-Capellmeister Herbeck 
0203hat durch längeren praktischen Kirchendienst, durch mehrere sehr
0204gediegene Kirchen-Compositionen, endlich durch die besten Ora-
0205torien-Aufführungen, deren sich Wien rühmen kann, seinen
0206Beruf dargethan, große kirchliche Aufgaben in echt künstleri-
0207schem Geist zu lösen. Möge es ihm gelingen, diese Kraft auch
0208in voller Freiheit zum Frommen der Hofburgcapelle bewäh-
0209ren zu dürfen.

Fußnoten
  • *)Wir wiederholen dringend den Wunsch, daß bei Clavier-
    Productionen im Musikvereinssaal der Deckel des Pianos ganz ab-
    genommen und nicht blos aufgestützt werde. In dieser hier üblichen
    Praxis wird der unter einem Winkel von 45 Graden geneigte Deckel
    zu einer Schallwand, welche die ganze Tonstärke ins Parterre wirft
    und die Zuhörer im Cercle auf den verdumpften und verschwommenen
    Hall reducirt.