Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 180. Wien, Dienstag den 28. Februar 1865

[1]

Hofoperntheater.

(Fräulein Stehle als Gretchen. — „Der Prophet.“ — Die lustigen Weiber von Windsor.)


0003Ed. H. Es ist etwa vier Jahre her, daß ein junges
0004Mädchen, welches eben seine Lehrzeit in einem Pensionat zu
0005Augsburg vollendet hatte, zu den Eltern heimkehren sollte. Ein
0006langgenährter, übermächtiger Drang zur Bühne ließ aber die
0007Kleine den Heimweg nicht sofort antreten. Jetzt oder nie mußte
0008sich ihr Herzenswunsch, Sängerin zu werden, entscheiden, ein
0009Wunsch, dem die Einsprache der Eltern entgegenstand. Das
0010Mädchen fuhr heimlich nach München und suchte den ihr
0011gänzlich unbekannten General-Musikdirector Lachner auf, da-
0012mit sein Ausspruch über ihr Talent und ihre Zukunft entschei-
0013den möge. Der vielgeplagte Mann mag sich mit einiger Re-
0014signation ans Clavier gesetzt haben, allein mit einem Freuden-
0015ruf stand er auf, nachdem er die Fremde gehört. Sophie
0016Stehle, so hieß das Mädchen, erhielt von Meister Lachner 
0017nicht blos die Bestätigung eines ungewöhnlichen Talentes, son-
0018dern auch sogleich einen Engagements-Antrag zum Münchener
0019Hofoperntheater. Die Zustimmung der Eltern ließ unter sol-
0020chen Verhältnissen nicht auf sich warten, und das junge Mäd-
0021chen, das nie zuvor eine Bühne betreten hatte, war Prima-
0022donna in München. Ihr einziger Gesangslehrer war eine junge
0023Dame in Augsburg gewesen, die, von einem berühmten Sing-
0024meister gebildet, selbst einer bedeutenden Theaterlaufbahn ent-
0025gegenging, als eine unglückliche Entstellung durch Brandwun-
0026den sie davon abschnitt. Sophie Stehle hatte bald eine Reihe
0027lyrischer Partien studirt und eroberte, ohne sich durch die nie-
0028dern Weihen der „Vertrauten“ „Brautjungfern“ u. dgl. durch-
0029arbeiten zu müssen, gleich als Pamina, Zerline, Cherubim, Emme-
0030line, Benjamin, die Herzen der Münchner. Ihre Beliebtheit wuchs
0031plötzlich zur Berühmtheit, als die junge Sängerin Gounodʼs
0032Margarethe“ in München auf die Bühne brachte und mit
0033ungemeinem Erfolge sang.


0034In dieser Rolle trat auch Frl. Stehle am verflossenen
0035Dienstag zum erstenmal vor das Wiener Publicum. Das ge-
0036drängt volle Haus, das dem Gaste mit Spannung entgegensah,
0037schien gleichwol nicht gesonnen, die Ekstase des bairischen Pa-
0038triotismus auf guten Glauben hinzunehmen. Keine Hand rührte
0039sich zum Willkomm, keine Hand nach der Begegnung im zwei-
0040ten Act, selbst der „König von Thule“ fand nur ein Echo freund-
0041lich murmelnder Zustimmung. Nun folgte die Scene mit dem
0042Schmuck, das Garten-Quartett, das Liebes-Duett mit Faust,
0043und auf diesen drei Stufen schwang sich die junge Künstlerin
0044in dreimaligem immer höheren Flug zu so glänzender Wir-
0045kung auf, daß mit dem Schluß des Actes einer der großar-
0046tigsten und echtesten Erfolge errungen war, deren eine deutsche
0047Sängerin sich hier rühmen kann. Und was war es, das mit
0048so elektrischer Schnelligkeit und Gewalt durch die Reihen zuckte?
0049Die in jedem Hörer mit fehlloser Sicherheit aufsteigende Em-
0050pfindung, hier keine gedrillte Opernpuppe vor sich zu haben,
0051sondern ein Talent von Gottes Gnaden, „eine Natur“, wie
0052Goethe gesagt hätte. Man sah die junge Sängerin von
0053ihrer Aufgabe erfüllt und begeistert und in dem dargestellten
0054Charakter vollständig aufgehen. Kein Ton, kein Wort, das
0055nicht aus tiefem Herzensgrund emporquoll, keine Bewegung,
0056die nicht — im Geist und im Gemüth der Künstlerin ausge-
0057reift — mit der überzeugenden Kraft des Erlebnisses hervor-
0058brach. Eine große Gesangskünstlerin wird kaum Jemand in
0059Frl. Stehle erblickt haben, obwol die nach so kurzer und we-
0060sentlich autodidaktischer Thätigkeit von ihr erreichte Stufe die
0061Wahrscheinlichkeit eines weiteren, raschen Fortschreitens anneh-
0062men läßt. Mit der letzten Ausbildung der Gesangstechnik hat
0063es bei unsern Landsmänninnen überhaupt ein zweifelhaft Be-
0064wenden. Von deutschen Sängerinnen haben vielleicht nur Ger-
0065trud Schmehling (Mara) im vorigen und Henriette Sonn-
0066tag
in diesem Jahrhundert an die Höhe großer italienischer
0067Künstlerinnen gereicht. Mein persönliches Erleben reicht nicht
0068so weit hinauf, daß ich mich einer deutschen Sängerin von der
0069ausgebildeten Gesangstechnik einer Viardot, Artôt, Alboni, Tre-
0070belli, Patti etc. entsinnen könnte. Hatte doch selbst das moderne
0071Ideal einer deutschen Sängerin, die Schröder-Devrient,
0072keineswegs über eine vollkommene Gesangstechnik zu verfügen.
0073Es ist hier nicht der Ort, abzuwägen, wie viel die physiologi-
0074schen Grundlagen, wie viel der Charakter unserer Sprache und
0075Musik, wie viel endlich unser zerfahrener, unsicher experimen-
0076tirender Gesangsunterricht an dieser Erscheinung Schuld trägt.
0077Wenn wir einen allgemeinen nationalen Charakterzug deutscher
0078Sänger darin erblicken, mehr durch tiefe Empfindung und dra-
0079matische Charakteristik, als durch vollendete Stimmbildung und
0080Virtuosität zu wirken, so seien damit keineswegs diese Schwä-
0081chen an Frl. Stehle beschönigt, die ja ihre namhaftesten deut
0082schen Colleginnen in der Gesangskunst noch nicht erreicht —
0083nur unberechtigte Maßstabe wünschten wir damit zu beseitigen.
0084Frl. Stehleʼs Gesang bewegt sich in zierlichen, colorirten
0085Gängen etwas schwer und ungleich (was allerdings nicht von
0086dem sehr hübschen Triller gilt, ihre Cantilene ist nicht frei
0087von dem Hinüberziehen oder Schleifen der Töne.


0088Noch dringender möchten wir Fräulein Stehle auf ein
0089Drittes aufmerksam machen, auf die geringe Schattirung und
0090Modulation ihrer Stimme. Der Tonstrom fließt bei ihr fast
0091ununterbrochen in gleicher Fülle und Farbe: eine kräftig schöne
0092Fülle und Farbe, aber doch eine und dieselbe. Durch mannig-
0093faltigere Schattirung des Klangs, durch häufigere Verwendung [2]
0094des Mezza-voce und Pianissimo würde die sinnliche Schön-
0095heit und die Ausdrucksfähigkeit dieses köstlichen Materials noch
0096um Eins so mächtig wirken.


0097Die Stimme Fräulein Stehleʼs ist ein weicher, vol-
0098ler, jugendlich kräftiger Sopran, dessen dunkler, an manche
0099Altstimmen erinnernde Timbre etwas eigenthümlich Gewinnen-
0100des, Ueberzeugendes hat. Bis ins hohe a etwa ist die Stimme
0101gleichmäßig, leicht ansprechend und entwickelt, höher hinauf er-
0102heischt sie einige Anstrengung. Doch weiß Fräulein Stehle 
0103auch da vollständig durchzudringen, wenn es noththut, wie
0104die mit voller Kraft gesungene Kerkerscene im 5. Act bewies.
0105Von unschätzbarem Werth ist Fräulein Stehleʼs correcte, in
0106jeder Silbe deutliche Aussprache, ein Vorzug, den wir in sol-
0107cher Ausbildung kaum bei einer anderen deutschen Sängerin
0108antrafen. Die eigentliche Seele ihrer Kunst, den tiefempfun-
0109denen, warmen Vortrag Fräulein Stehleʼs, haben wir bereits
0110eingangs nach Gebühr hervorgehoben. Hand in Hand mit
0111dieser siegreichen Beredsamkeit ihres musikalischen Vortrags
0112geht eine schauspielerische Begabung und Entwicklung, wie sie
0113bei Opernsängern nur äußerst selten vorkommt. Man kann
0114nicht behaupten, daß Fräulein Stehle durch ihre Gesichtszüge
0115gerade für dramatische Wirkungen begünstigt sei, eher findet
0116sie an der starken Musculatur der Wangen einigen Widerstand.
0117Es gibt hagere Gesichter und hagere Stimmen, die, ohne
0118schön zu sein, dem dramatischen Ausdruck durch ihre Beweg-
0119lichkeit ungemein entgegenkommen, jeden inneren Vorgang wie
0120durch einen dünnen Schleier durchschimmern, jede Empfindung
0121sofort an die Oberfläche treten lassen.


0122Fräulein Stehle, deren ganze Erscheinung allerdings
0123im Thau der Jugend schimmert, ist in ihren physiognomischen
0124Wirkungen fast ausschließlich auf ein lebhaft sprechendes Auge
0125und einen freundlichen kleinen Mund angewiesen. Und dennoch
0126fesselt sie durch Spiel und Mimik nicht weniger als durch 
0127ihren Gesang. Wir haben es hier nicht blos mit schönen Ein-
0128zelheiten zu thun: der ganze Charakter Gretchenʼs war aus
0129Einem Guß, die etwas realistische, mitunter genrehafte Auf-
0130fassung vollkommen am Platz und von lebensfrischer Wahrheit.


0131Am hervorragendsten dünkten uns, wenn wir die Einzel-
0132heiten doch nennen sollen, die Scenen im Garten und im
0133Kerker. Vor Valentinʼs Leiche schien uns Fräulein Stehle et-
0134was zu viel zu spielen, eine Gefahr, vor welcher wir die
0135geistreiche Darstellerin beizeiten warnen möchten. Wenn einer
0136unserer kritischen Collegen die erste Begegnung minder gelun-
0137gen fand und ihm überhaupt kein „Gretchen“ hierin noch
0138ganz genügen konnte, so darf man wol nur unter Hervorhe-
0139bung des mehr als „mildernden“ Umstandes zustimmen, wel-
0140cher in der eigentlichen Schwierigkeit dieser Scene liegt. Wäh-
0141rend im recitirenden Drama Faustʼs Ansprache und Gretchenʼs
0142Erwiderung einander Schlag auf Schlag folgen, muß in der
0143Oper Gretchen durch volle zehn Tacte Andante stille stehen,
0144ehe sie ihre gleichfalls sehr zögernde Antwort beginnen kann.
0145Gerade diesen Moment in so langer musikalischer Dehnung
0146vollkommen passend und im Geiste der Goetheʼschen Scene
0147auszufüllen, dünkt uns eine Aufgabe, die der größten Schau-
0148spielerin zu schaffen gäbe.


0149Ueberblicken wir schließlich Fräulein Stehleʼs Leistung
0150in ihrem Totaleindruck, so sehen wir die Schöpfung eines be-
0151deutenden ursprünglichen Talents vor uns, in welchem jugend-
0152liche Begeisterung mit durchdringender Reflexion, reiche, wenn-
0153gleich nicht völlig ausgebildete Naturmittel mit Geist und
0154Empfindung sich zu unmittelbar ergreifender Wirkung ver-
0155einigen. Wie diese einzelne Leistung sich zu Fräulein Stehleʼs 
0156ganzer Kunstsphäre verhalte, können wir natürlich noch nicht
0157wissen, und mehr als vorschnell wäre es, über die Bedeutung
0158dieser Künstlerin ein letztes Wort aussprechen zu wollen, nach-
0159dem uns kaum das erste Wort vergönnt ist. Wir haben des -
0160halb, in steter Erwartung einer zweiten Rolle Fräulein
0161Stehleʼs, diesen Bericht so lange hinausgeschoben. Es scheint
0162aber leider in dem Räderwerk unseres Opernmechanismus
0163wieder stark zu stocken, sonst hätten nach dem glänzenden Er-
0164folg ihres ersten Auftretens unmöglich volle vier Tage bis zu
0165dem zweiten und gar zehn Tage zwischen der ersten und der
0166zweiten Rolle Fräulein Stehleʼs verfließen können.


0167Ein zweites theatralisches Ereigniß der verflossenen Woche
0168war Fräulein Bettelheimʼs Auftreten als „Fides“ im
0169Propheten“. Fräulein Bettelheim, eines der glänzendsten
0170Talente unseres Operntheaters, zugleich dessen kräftigste,
0171frischeste Frauenstimme, hat sich in wenigen Jahren von den
0172ersten Anfängen zur anerkannten Künstlerin, zu einem der
0173ersten und unentbehrlichsten Mitglieder des Instituts aufge-
0174schwungen. Bisher in das enge Repertoire reiner Alt-Partien
0175eingedämmt, fand Fräulein Bettelheim im „Propheten“ zum
0176erstenmal Gelegenheit, eine dramatische Partie von größter
0177Ausdehnung und Bedeutung zu singen. Die jugendliche Künst-
0178lerin ist den hohen dramatischen und musikalischen Anfor-
0179derungen der „Fides“ in überraschender Weise gerecht worden.
0180Meyerbeer setzte die Rolle bekanntlich für eine Stimme so
0181ungewöhnlichen Umfangs, daß man meistens nur die Wahl
0182hat, sie mit einer kräftigen Höhe und matter, verblasener
0183Tiefe zu hören, oder umgekehrt — unten rund und oben spitz.
0184Bei Fräulein Bettelheim klangen die tiefen und mittleren
0185Chorden schöner, als wir sie je gehört, die in die hohe Sopran-
0186lage hinaufreichenden Töne wurden zwar mit einiger An-
0187spannung und nicht mit der unvergleichlichen Resonanz der
0188tiefern Töne, dennoch aber mit Kraft und Sicherheit ange-
0189schlagen. Fräulein Bettelheim sang die Partie ohne irgend
0190welche Abänderung, bewies somit vollauf, daß ihre Stimme
0191sich auch weit über die eigentliche Alt-Region aufzuschwingen
0192und die Anstrengung größter Rollen auszuhalten vermöge. [3]
0193Die Frage, ob ein solches Heraustreten aus der Stimmlage
0194nicht mit der Zeit schädlichen Einfluß gewinnen könne, hat
0195mit dem Verdienst der jüngsten Leistung Fräulein Bettelheimʼs nichts
0196zu schaffen. Ganz unerwähnt kann diese Gefahr nicht lassen, wer
0197aufrichtigen Antheil an Frl. Bettelheimʼs Zukunft nimmt.
0198Die Natur übt in ihrem musikalischen Haushalt eine unerbitt-
0199liche Oekonomie, was sie an einem Ende sich abtrotzen läßt,
0200das raubt sie dafür an dem andern. Altstimmen, die sich zu
0201Sopranen, Bassisten, die sich zu hohen Baritons hinauftreiben,
0202verlieren die Kraft und Schönheit ihrer tiefen, mitunter auch
0203der ganzen Stimme. Wir erinnern an die Stimme Francilla
0204Pixisʼ, Johanna Wagnerʼs, Staudiglʼs und „die unzäh-
0205ligen Andern, die ihren Tod in gleichem Wagstück fanden.“
0206Wir können sogar die Meinung nicht verhehlen, daß, seit unser
0207trefflicher Bassist Schmid mit Leichtigkeit das hohe Fis (in
0208den „Hugenotten“ sogar das G) anschlägt, seine tiefen Töne
0209nicht mehr ganz in jenem wunderbaren, ehernen Metall er-
0210dröhnen, das ihnen früher eigen war. Was Frl. Bettelheim 
0211betrifft, so weiß sie dies Alles ebenso gut wie wir, und wird
0212gewiß keinen andern als den zweckmäßigsten und vernünftigsten
0213Weg einschlagen.


0214In dieser Zuversicht können wir uns daher des großen
0215und verdienten Erfolges als „Fides“ unbeirrt erfreuen. In
0216der letzten Vorstellung des „Propheten“ waren noch zwei Rol-
0217len neu besetzt. Herr Rokitansky gab den Grafen Ober
0218thal in Spiel und Gesang ganz vortrefflich; in dem Terzett
0219des dritten Actes kam sein guter Triller ihm vortheilhaft zu
0220statten. Weniger erbaut waren wir von Herrn Dalfyʼs 
0221Jonas.“ Herr Campe der frühere Darsteller dieses inter-
0222essanten Schlingels, durchschnitt mit dem Zinkenton seiner schar-
0223fen Tenorstimme die Ensembles (und nur in Ensemblestücken
0224hat Jonas mitzuwirken) weit kräftiger und wußte über-
0225haupt die ganze Figur charakteristischer hinzustellen. Das zahl-
0226reich versammelte Publicum nahm die Vorstellung — so viel
0227von derselben bei der überlauten Conversation in den Logen der
0228linken Seite zu hören war — mit großer Befriedigung auf.


0229Die Wiederaufnahme von Nicolaiʼs komischer Oper:
0230Die lustigen Weiber von Windsor“, mit theilweise neuer Be-
0231setzung, schien dem Publicum viel Vergnügen zu machen. In
0232der That sollte man dies, trotz allʼ seiner Schwächen liebens-
0233würdige Werk niemals völlig vom Repertoire verschwinden
0234lassen. Der Dichter des Stückes, Mosenthal, hat hier auf
0235dem unverwüstlichen Grund der Shakespeareʼschen Fabel ein
0236Textbuch geliefert, das in der Literatur der deutschen komischen
0237Oper äußerst wenige Rivalen hat. Der Componist, Otto
0238Nicolai, gab seinerseits diesem letzten Werk den eigen-
0239thümlichsten und freiesten Aufschwung, dessen sein feines, aber
0240unselbstständiges Talent überhaupt fähig war. Die Ouverture,
0241das erste Frauenduett, das Duett zwischen Falstaff und Herrn
0242Bach“, die Elfenmusik im letzten Finale sind allerliebste
0243Musikstücke, vieler geistreicher, anmuthiger Einzelheiten gar
0244nicht zu gedenken. Wir hören die Oper niemals ohne Ver-
0245gnügen, und doch auch niemals ohne Bedauern. Letzteres gilt
0246der unseligen Zersplitterung und Zerfahrenheit von Nico
0247laiʼs
Talent, das bei einiger Concentration so Erfreuliches,
0248ja seiner Sphäre Bedeutendes hätte leisten können. Da aber
0249Nicolai seine Erfolge in ehrgeiziger Hast auf den verschieden-
0250artigsten Wegen suchte, heute Kirchen- und morgen Theater-
0251musik schrieb, heute italienische Opern, morgen deutsche, heute
0252Tragisches, morgen Komisches, konnte er in allen diesen Fächern
0253es nur zu glücklichen Anfängen und Einzelheiten, in keinem
0254zu etwas Ganzem und Vollkommenem bringen. In den „lusti-
0255gen Weibern“, herrscht ein Durcheinander aller Style und
0256Geschmacksrichtungen, eine Ungleichheit in dem Werth der ein-
0257zelnen Nummern und der Art der Ausarbeitungen, die höch-
0258stens bei dem (weit trivialeren) Flotow ein Seitenstück fin-
0259det. Manche Nummern der „lustigen Weiber“ beginnen in
0260echt deutscher, mitunter ganz Mozartʼscher Weise, um alsbald
0261einem wälschen Opernsatz, einer französischen Romanze, oder
0262auch einer Polka Platz zu machen. Die Stimmen Spohrʼs
0263und Verdiʼs, Weberʼs und Auberʼs, Lortzingʼs und Donizettiʼs
0264ertönen bunt durcheinander.


0265Wie konnte derselbe Mann, der in der Ouverture eine
0266so feine Instrumentirungskunst entwickelt, in der Oper selbst
0267jeden Augenblick den rohesten Lärm begehen, mit Posaunen
0268und großer Trommel die Stimmen decken und den eigent-
0269lichen Lustspielton vernichten? Wie vermochte der Componist
0270des trefflichen ersten Frauenduetts unmittelbar darauf die
0271matte, triviale Arie der Frau Fluth folgen zu lassen? Einige-
0272mal sinkt Nicolai aus feiger Gefallsucht so tief (z. B. in dem
0273Liebesduett mit obligatem Violinconcert), daß sein unberufe-
0274ner Mitarbeiter, Herr Proch, ihn förmlich mit der Hand
0275erreicht.


0276Frau Dustmann sang die „Frau Fluth“ äußerst sorg-
0277fältig und spielte mit einer frischen Laune, die bei einer stets
0278in ernsten Partien beschäftigten Künstlerin auf das ange-
0279nehmste überraschte. Der lebhafte Beifall, den Frau Dust-
0280mann
fand, war um so ehrenvoller, als „Frau Fluth“ be-
0281kanntlich zu den beliebtesten Rollen der Wildauer gehörte.
0282Wir sind nach diesem glücklichen Versuch überzeugt, daß mehr
0283als Eine Rolle aus Fräulein Wildauerʼs Repertoire in Frau
0284Dustmann eine sehr gute Repräsentantin finden würde. Fräu-
0285lein Tellheim gab zum erstenmale die kleine, überdies noch
0286zusammengestrichene Rolle der „süßen Anna“; wir können
0287nicht viel mehr von ihr melden, als daß sie sehr hübsch aus-
0288sah. Die vorzüglichen Leistungen der Herren Schmid und
0289Mayerhofer, dann Fräulein Bettelheimʼs sind bekannt.