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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 207. Wien, Dienstag den 28. März 1865

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Concerte.


0002Ed. H. Der „Akademische Gesangverein“ hatte
0003die glückliche Idee, uns in seinem sehr zahlreich besuchten
0004Concert nicht blos eine umfangreiche neue Composition, son-
0005dern zugleich einen neuen Componisten leibhaftig vorzuführen.
0006Scenen aus der Frithjofssage“ heißt die Tondichtung und
0007Max Bruch der Componist. Als Jüngling mit dem Preis
0008der Frankfurter „Mozart-Stiftung“ gekrönt, wurde Bruch zur
0009weiteren Ausbildung Ferdinand Hiller in Köln anvertraut.
0010Nachdem er sich mit einigen kleineren Compositionen hervor-
0011gethan, glückte es ihm, die Erlaubniß Em. Geibel’s zur
0012Composition der „Loreley“ zu erhalten. Geibel, der diesen
0013Operntext bekanntlich für Mendelssohn-Bartholdy gedichtet
0014und in großer Furcht vor schlechten Componisten sorgsam ge-
0015hütet hatte, gab diesem jüngsten Bewerber um seine Loreley 
0016Gehör. Sein Vertrauen ward nicht getäuscht, denn wo Bruch’s
0017Oper bisher gegeben wurde (in Mannheim, Köln, Hamburg etc.),
0018erwarb sie sich nebst der unbedingten Achtung der Kritik den
0019lebhaftesten Beifall des Publicums. Seither erschienen von
0020Max Bruch ein „Gesang der heiligen 3 Könige“ und eine
0021Flucht der heiligen Familie“ (beides wirksame Concertnum-
0022mern), ferner „Zehn Lieder“ und eine sehr hübsche Bearbei-
0023tung von „12 schottischen Liedern“ für eine Singstimme.
0024Aus allen diesen Compositionen (sie sind größtentheils in dem
0025trefflichen Verlage C. Sander’s in Breslau erschienen) sprach
0026ein feingeartetes Talent, das, in edler, ernster Richtung fort-
0027strebend, bereits eine seltene Herrschaft über die musikalischen
0028Formen und Mittel übte. In den „Frithjofsscenen“ für Soli,
0029Männerchor und Orchester bekamen wir nun das neueste und 
0030nach allgemeinem Urtheil beste Werk des jungen Componisten
0031selbst zu hören.


0032Es sind sechs Stücke aus Esaias Tegner’s bekanntem
0033Gedicht, die dramatischen Hauptmomente der Erzählung.
0034(1. Frithjof’s Heimfahrt. 2. Ingeborg’s Brautzug. 3. Der
0035Tempelbrand. 4. Frithjof’s Abschied von Nordland. 5. Inge-
0036borg’s Klage. 6. Frithjof auf der See.) Die Composition ge-
0037hört jener Form und Ausdrucksweise an, die unter Mendels-
0038sohn’schem Einfluß Schumann in seinen Chorballaden, Hil-
0039ler
in der „Loreley“, Gade in „Erlkönigs Tochter“ ausge-
0040bildet haben. Namentlich den beiden Letzteren ist Bruch mu-
0041sikalisch nahe verwandt. Er hat ein feines Verständniß für
0042alle Wendungen seines Gedichts und weiß für jede Situation
0043charakteristische und wirksame, wenn auch nicht immer eigen-
0044thümliche Klänge zu finden. Sein Ohr prüft wählerisch und
0045stößt schlechterdings alles Rohe und Triviale von sich, seine
0046Hand formt und feilt auf das sorgsamste. Der Charakter der
0047Musik ist durchwegs deutsch, nicht sowol in dem urkräftigen
0048Sinn Beethoven’s als in dem zarteren, weichlicheren der
0049Mendelssohn’schen Schule. Der durchaus wohlgefügte Bau
0050neigt mehr zu bequemer Breite, als zu straffer Concentration.
0051Ueberall zeigt sich große Formgewandtheit, Sicherheit und ge-
0052naue Kenntniß des musikalischen Effects. Die sinnliche Wir-
0053kung ist nicht verschmäht, weder die der überraschenden Klang-
0054mischung, noch die derbere der Schallkraft, überall erscheint
0055sie jedoch gerechtfertigt durch den musikalischen und den dra-
0056matischen Zusammenhang. Im Ganzen empfangen wir aus
0057Bruch’s Musik mehr den Eindruck einer feinen und gründli-
0058chen Bildung, als den einer kräftigen, eigenthümlichen Indi-
0059vidualität.


0060Bruch behandelt den „Frithjof“ in Form und Färbung
0061durchaus dramatisch, selbst in den rein lyrischen Scenen wird 
0062der ruhige Fluß der Empfindung häufig unterbrochen. Dies
0063Untertauchen der Lyrik in die Unruhe des Dramatischen fin-
0064det in den „Frithjofsscenen“ ihren formalen Ausdruck, ins-
0065besondere in jener zwischen Recitativ und Arioso schwanken-
0066den Melodienbildung, die wir aus Schumann’s Balladen und
0067noch markirter aus R. Wagner’s Opern kennen. Wir ge-
0068stehen, nur an einem sehr sparsamen Gebrauch dieser Misch-
0069form Gefallen zu finden; lange fortgesetzt, verfällt sie unleid-
0070licher Monotonie und macht den Hörer, der nach abgeschlos-
0071senen Melodien, nach wirklichen Themen verlangt, unruhig.
0072Hierin liegt das einzige wesentliche Bedenken, das wir gegen
0073Bruch’s Composition auszusprechen haben. Wo dieser schwan-
0074kende Gesangstyl, das uferlose Melodisiren ohne eigentliche
0075Melodie, festeren musikalischen Gebilden Platz macht, da bie-
0076ten uns die „Frithjofsscenen“ die meiste Befriedigung. Da-
0077hin gehört vor Allem Ingeborg’s erster Gesang auf dem cha-
0078rakteristischen Hintergrund des düstern Hochzeitsmarsches, dann
0079die ausdrucksvollen ersten Strophen von „Ingeborg’s Klagen.“
0080Der „Tempelbrand“ ist von einschlagendem Effect, werthvoller
0081scheint uns trotzdem der kurze einleitende Priesterchor in
0082Es-moll. Den Chorsatz für Männerstimmen behandelt Bruch 
0083vortrefflich, mit großer Vorliebe verwendet er nach Mendels-
0084sohn’s Vorbild in der „Antigone“ das Unisono der Stimmen
0085in vorwiegend recitativischen Gängen. Ein tieferes Eingehen
0086ins Einzelne müssen wir uns für heute versagen und betonen
0087nur noch die Einheit des Styls und der Stimmung, welche
0088die wechselvolle Scenenreihe zu einem wahrhaften Ganzen zu-
0089sammenfaßt. Das Publicum nahm die Novität äußerst günstig
0090auf und zeichnete nach jeder Nummer den Componisten und
0091die Mitwirkenden aus. Ein großes Verdienst an dem Erfolge
0092hatte Frau Dustmann, welche — vortrefflich bei Stimme —
0093den Part der „Ingeborg“ sehr ausdrucksvoll sang. Das Au[2]-
0094ditorium fand in dieser Leistung einen neuen Anlaß, sich über
0095das nun entschiedene Verbleiben der geschätzten Künstlerin am
0096Hofoperntheater zu freuen. Herrn Hrabanek’sFrithjof“
0097besaß die gebührende nordische Kraft, der wir nur etwas mehr
0098Mäßigung und Schattirung gewünscht hätten. Das Orchester
0099des Hofoperntheaters mit Herrn Hellmesberger als Solo-
0100spieler und der akademische Gesangverein wirkten redlich zu-
0101sammen, um Herrn Bruch (der sein Werk selbst dirigirte) zu
0102einem erfolgreichen Debut in Wien zu verhelfen.


0103Die andere, aus vier Chören bestehende Abtheilung des
0104Concertes leitete der tüchtige Chormeister des Vereins, Herr
0105Weinwurm. Lachner’sSturmesmythe“, die wir bereits
0106aus den Concerten des Männergesang-Vereins (1862) kennen,
0107hat uns diesmal ebensowenig als damals erbaut. Schon die
0108Wahl des Lenau’schen Gedichts dünkt uns unglücklich; eine
0109bildertriefende, unnatürlich reflectirende Personification der
0110Wolken als weinende Töchter der eingeschlummerten Mutter,
0111des Meeres nämlich. Dazu nun eine höchst anspruchsvolle
0112und dennoch sehr dürftige Musik. Nicht hervorragend, aber
0113recht stimmungsvoll ist C. M. Weber’sSchlummerlied“
0114über Verse von Castelli. Wir hoffen, daß nicht auf jedes
0115schlechte Gedicht verstorbener Poeten eine entsprechende Ver-
0116längerung des Fegefeuers gesetzt ist. Das „Schlummerlied“
0117wurde mit hübscher Schattirung vorgetragen, das „altfran-
0118zösische Weihnachtslied“ hingegen etwas schleppend. Den
0119Schluß der Abtheilung und ihren größten Treffer machte
0120Engelsberg’s anmuthiges und melodienfrisches „Pagenlied“
0121aus Shakespeare’sWie es euch gefällt.“ „Wie es ihnen
0122gefiel,“ gaben die Hörer durch anhaltenden da capo Ruf zu
0123erkennen, dem auch bereitwillig Folge geleistet wurde.


0124Das Programm des „vierten Gesellschafts-Con-
0125certs
“ war interessant in jeder Nummer, wenn auch nicht 
0126in jeder erfolgreich. Berlioz’ Ouverture zu „König Lear“,
0127op. 4 (seit des Componisten Anwesenheit hier nicht wieder
0128gehört), fesselte durch einen Zug von Großartigkeit und Pathos,
0129welcher mitunter an Beethoven erinnert. Leise rührende Kla-
0130gen und grelle Verzweiflungsrufe sprechen hier mit ergreifen-
0131der Wahrheit zum Hörer. Das Ganze wirkt trotzdem mehr
0132befremdend und beunruhigend, als ästhetisch erfreulich und
0133erhebend.


0134Wie in den meisten, insbesondere den frühesten Werken
0135Berlioz’, liegt auch im „Lear“ Erzwungenes, Leeres und selbst
0136Triviales dicht neben den gewaltigsten Impulsen; ein leiden-
0137schaftlich bewegtes inneres Leben bringt es zu erschütternden
0138Ausrufen, aber zu keiner zusammenhängenden Sprache. Trotz
0139aller von Herbeck darauf verwendeten Mühe war das Or-
0140chester dieser schwierigen Aufgabe nicht vollständig gewachsen.


0141Es folgte die „Kamarinskaja“ von Glinka, das erste
0142Werk dieses Componisten, das überhaupt hier zur Aufführung
0143gekommen. Michael v. Glinka (geb. 1804, † 1857) ist
0144bekanntlich der erste Tonsetzer, der eine national-russische Oper
0145geschrieben („Das Leben für den Czar“), die das ganze ge-
0146bildete Rußland in nachhaltiges Entzücken versetzte. Glinka 
0147war unstreitig ein bedeutendes Talent, das, musikalisch durch
0148und durch impregnirt mit den Nationalweisen seines Volks,
0149auf diesem Wege originell wurde. Das Wenige, was wir
0150von Glinka kennen, zusammengehalten mit dem ganzen un-
0151stäten Lebenslauf dieses reichen Cavaliers, berechtigt indeß zu
0152der Annahme, daß sein Talent einen starken Rest von Dilet-
0153tantismus nie gänzlich überwunden habe. Die „Kamarins-
0154kaja“ ist eine Orchester-Phantasie über zwei russische Volks-
0155weisen (Hochzeitslied und Kosakentanz). Einige sehr hübsche
0156Contrapunktirungen dieser Themen und die bis zum Glän-
0157zenden pikante Instrumentirung interessiren den Hörer; als 
0158Ganzes ist das Stück zu inhaltslos und zu unförmlich, um
0159einen bestimmten Totaleindruck hervorzubringen. Das Publi-
0160cum schien die „Kamarinskaja“ lediglich als nationales
0161Curiosum ohne inneren Antheil hinzunehmen. Am selben
0162Tage fiel dieselbe Composition im „Volksgarten“ förmlich
0163durch, obwol sie trefflich einstudirt und überdies ganz getreu
0164in der nationalen Weise wiedergegeben war, deren Studium
0165Herrn Johann Strauß von seinem russischen Aufenthalt
0166her speciell zu statten kam.


0167Beethoven’s Tripel-Concert in C-dur, op. 56, er-
0168scheint von Zeit zu Zeit als gerngesehener Gast. Es ist viel
0169äußerliche Spielseligkeit und veralteter Putz darin, mit Beet-
0170hoven’s großen Werken (zum Theil in nächster chronologischer
0171Nachbarschaft) muß man es nicht vergleichen. Allein der lie-
0172benswürdigste, echt musikalische Geist strömt so wohlthuend
0173durch diese von Meisterhand gefügte Form, daß man in ver-
0174gnügtem Behagen unermüdet lauscht und bewundert. Die
0175Herren Hellmesberger, Schlesinger und Dachs spiel-
0176ten das Concert unter reichlichem Beifall; Hellmesberger 
0177durchwegs vortrefflich, Schlesinger so weit die anhaltende un-
0178natürlich hohe Lage des Violoncellpartes ihn nicht in Colli-
0179sion mit der Reinheit des Tons brachte. Der Clavierpartie
0180hätte eine kräftigere und geistvollere Auffassung nicht geschadet.
0181Der Gesang war durch zwei Vocalchöre und Esser’s 
0182Ballade „Des Sängers Fluch“ vertreten. Esser hat dies effect-
0183volle Paradestück Pischek’s für eine Altstimme mit Beglei-
0184tung des Orchesters arrangirt. Die lange, anstrengende Bal-
0185lade, von Schumann auf mehrere Singstimmen vertheilt,
0186muß hier von einer Frauenstimme allein, im Kampf gegen
0187eine starke Orchesterbegleitung und fast ohne Ruhepunkt durch-
0188geführt werden. Frl. Bettelheim sang uns die langsame
0189Einleitung und den Schluß vollkommen zu Dank, die beweg [3]-
0190teren Sätze, vor Allem der Fluch, klangen zu polternd und
0191zerhackt, dabei undeutlich in der Aussprache. Daß die junge
0192Sängerin dieser anstrengenden Aufgabe so tapfer Stand hielt,
0193ist anzuerkennen und der ihr enthusiastisch gespendete Beifall
0194sicherlich wohlverdient. Aufrichtig freuen können wir uns sol-
0195cher Erfolge nicht, die unseres Erachtens auf Kosten der
0196Stimme errungen sind. Die beiden Vocalchöre („Schwedisches
0197Volkslied“ und „die Waldvögelein“ von Mendelssohn) bil-
0198deten der Ausführung und dem Erfolge nach die Glanz-
0199nummern des Concerts. Kaum dürfte irgendwo ein gemisch-
0200ter Chor die Klangschönheit und feine Schattirung aufzuwei-
0201sen haben, welche unser „Singverein“ unter der Leitung
0202Herbeck’s erreicht hat.