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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 214. Wien, Dienstag den 4. April 1865

[1]

Italiensche Oper.

(„I Lombardi“ von Verdi.)


0003Ed. H. Die italienischen Sänger, sonst untrügliche
0004Herolde von Veilchenduft und Frühlingswärme, sind heuer
0005zwischen Schneebarricaden frierend bei uns eingezogen. Auch
0006mit ihrer ersten Vorstellung, den „Lombardi alla prima
0007crociata“, haben sie die leidige Kälte nicht besiegt. Das
0008Wiener Publicum, das diesen Verdiʼschen Kreuzzug bereits vor
0009mehr als einem Decennium ohne sonderliches Vergnügen mit-
0010machte, wird sich kaum danach gesehnt haben, neuerdings unter
0011den Polkaklängen der Regimentsbande zum heiligen Grab zu
0012marschiren. Die „Lombardi“ erschienen in der Scala unmit-
0013telbar nach dem „Nabucco“ und vor dem „Ernani,“ also zu
0014einer Zeit, wo Italien, aber nur Italien, Giuseppe Verdi 
0015als ein neues glänzend aufsteigendes Gestirn feierte — im
0016selben Jahre (1843), wo sein „Nabucco“ in Wien mißfiel
0017und von der Kritik mit verächtlichem Hohn zurückgewiesen
0018wurde.


0019Die Italiener hatten Verdi gleich bei seinem ersten
0020Auftreten als eine epochemachende Erscheinung enthusiastisch
0021begrüßt und damit wenigstens insofern Recht gehabt, als
0022Verdiʼs Musik sich seither auf allen europäischen Opernbühnen
0023durchsetzte und seit 20 Jahren das italienische Repertoire ohne
0024Rivalen beherrscht. Es fiele einem Deutschen schwer, in „Nabucco“
0025oder den „Lombardi“ die Elemente jenes ganz neuen und ori-
0026ginellen Styls herauszufinden, den die Italiener sofort daran
0027priesen. Wir bemerken kaum einen wesentlichen Unterschied
0028zwischen diesen ersten Opern Verdiʼs und den gleichzeitigen 
0029eines Mercadante, Pacini, Donizetti, höchstens ein derberes
0030Dreinfahren, mit kecker Rhythmik und Instrumentirung. Die
0031Italiener, die, mit den feineren Unterschieden ihrer eigenen
0032Musik natürlich genauer vertraut, in zwei einem deutschen
0033Ohr kaum unterscheidbaren Opern verschiedene Stylrichtungen
0034nachweisen (gerade wie die Neger sich untereinander sehr
0035unähnlich vorkommen, während sie für den Europäer alle Ein
0036Gesicht haben), die Italiener bewiesen an den ersten Ver-
0037suchen Verdiʼs jedenfalls die feinere Spürnase. Eine Mai-
0038länder Correspondenz im „Sammler“ vom Jahre 1839 be-
0039richtet über die Aufführung von Verdiʼs erster Oper
0040Oberto, Conte di S. Bonifacio“ in der Scala und
0041huldigt im Ton prophetischen Entzückens dem „neuen
0042Genie.“ Die Entscheidungsgründe klingen uns ebenso
0043unbegreiflich, als das Urtheil selbst. „Verdi,“ so schreibt
0044der Correspondent, „hat den rechten Weg eingeschlagen,
0045den Weg der Rührung, der reineren Gefühle. So wie Bel-
0046lini, so meidet auch Verdi jedes ohrenbetäubende Geräusch.
0047So haben Wenige begonnen! — Das Fortschreiten hängt nur
0048von ihm ab.“ Nun, daß Verdi seither bedeutend fortgeschrit-
0049ten, müssen selbst die Gegner ihm bezeugen; sein Talent ist
0050an Eigenart und Ausdehnung gewachsen, seine Arbeit wurde
0051unter dem Einfluß französischer, sogar deutscher Musik ernst-
0052hafter und gewählter. Seine besten neueren Opern müssen
0053wir, so Vieles darin uns auch abstößt, im Großen und Gan-
0054zen gelten lassen, oder wenn sie uns im Großen und Gan-
0055zen auch abstoßen, wir müssen ihre Einzelheiten gelten lassen.
0056Den „Lombardi“ fehlt das spätere kosmopolitische Element
0057Verdiʼs, die Rücksicht auf französische und deutsche Hörer noch
0058gänzlich, sie sind nur von einem national-italienischen Publicum
0059zu genießen. Schon das Libretto — Herr Themistokles 
0060Solera verdient einen Kranz von Stechpalmen dafür —
0061bereitet uns in seiner Abgeschmacktheit und Unverständlichkeit eine
0062arge Geduldprobe. Im ersten Act war es uns unmöglich,
0063zu enträthseln, was der eine Bruder und was der andere
0064wolle, wer die Mutter und wer die Tochter sei, woher die
0065Feindschaft und wofür die Rache. Nur das Eine wird schließ-
0066lich klar, daß Pagano (hinter der Scene) seinen Vater um-
0067bringt, anstatt seinen Bruder und über diesen Mißgriff un-
0068tröstlich Mailand verläßt. Im 2. Act finden wir die ganze
0069Gesellschaft in — Antiochien wieder, ohne daß Einer (auch
0070nicht das Publicum) weiß, wie der Andere hingekommen.
0071Bruder Arvino zieht als Kreuzritter gen Jerusalem, Bruder
0072Pagano lebt als Eremit in einer Höhle, Giselda (des Ersteren
0073Tochter) herrscht als Favoritin im Serail des Sultans. Als
0074neue Personen erscheinen der in Giselda verliebte antiochische
0075Prinz Oronte und seine Mutter, eine langweilige alte Dame,
0076die nur da ist, um sich die Liebesgeschichte ihres Sohnes in
0077Arienform vorsingen zu lassen. Im 3. Act ist Alles auf dem
0078Kreuzzug begriffen: der Eremit Pagano, noch immer uner-
0079kannt, führt Arvino und dessen Krieger, Giselda folgt ihnen
0080als Nonne, Oronte als Kreuzritter. Während wir im 2. Act
0081die christliche Giselda als Sultanin fanden, sehen wir jetzt Oronte 
0082als christlichen Cavalier; sie haben sich für ihre Liebe neue Klei-
0083der, aber keine neuen Melodien beigeschafft. Oronte wird tödtlich
0084verwundet, von Giselda in eine Höhle geführt und von Pa-
0085gano getauft; seine Seele steigt auf einer langen und schwie-
0086rigen Violincadenz zum Himmel auf. Was soll nun im vier-
0087ten und letzten Act geschehen? Nur Pagano kann noch aus-
0088helfen, indem er sich gleichfalls verwunden läßt, stirbt und
0089von den Seinen — merkwürdig spät — erkannt wird. Zu-
0090vor hat noch Giselda eine Vision, sie sieht himmlische Geister [2]
0091(durch ein Tableau dargestellt) und hört die Stimme des ver-
0092ewigten Oronte (von ihm selbst nach Art des Trovatore-
0093Ständchens in der zweiten Coulisse gesungen). „Es war kein
0094Traum!“ ruft sie nach dem Verschwinden dieser Erscheinungen,
0095und singt das lustig-freche Allegro in F („Non fù sogno“)
0096das, später in „Ernani“ eingelegt, dem Hörer gar wohlbekannt
0097entgegen klingt. Wir hören also hier eine Nonne ihre reli-
0098giösen Gefühle mit denselben Tönen ausdrücken, in welchen
0099die feurige Elvira ihre Leidenschaft für den Banditenjüngling
0100austobt. Dieses Allegro ist eine der ersten Originalknospen
0101des späteren specifischen Verdi-Styls; es beginnt, als wenn Je-
0102mand plötzlich durch das Fenster hereinspringend uns eine
0103schallende Ohrfeige versetzte.


0104Die Musik zu den „Lombardi“ ist theils roh und tri-
0105vial, theils matt und langweilig, ein abgestandener Trank,
0106gegen den „Traviata“ und „Trovatore“ wie Rheinwein schme-
0107cken. Nur wenige Nummern heben sich vortheilhaft heraus,
0108wie die A-dur-Arie des Oronte im zweiten Act („La mia
0109letizia infondere“) und das Finalterzett im dritten Act
0110(„Qual voluttà trascorrere“). Hin und wieder gibt es auch
0111ein kleines Arioso, das, an sich unbedeutend, durch die Stimme
0112und die Kunst des Sängers zu einiger Wirkung gelangt.
0113Wahrhaft kannibalisch und von höchster unbeabsichtigter Komik
0114sind die Männerchöre mit Begleitung der Regimentsbanden.
0115Eine schöne „Cultur“, die diese Kreuzritter nach Osten tragen!


0116Die Aufführung der Oper war sehr lobenswerth, trug
0117jedoch mehr den Charakter des Anständigen als des Glänzen-
0118den. Imposante Stimmmittel, Temperament und dramatische
0119Gestaltungskraft bringt keiner der drei Hauptdarsteller mit,
0120weder Frau Lotti della Santa (Giselda), noch die Herren
0121Graziani (Oronte) und Angelini (Pagano). Alle drei 
0122aber schätzen wir als tüchtig geschulte Künstler, welche ihrer
0123Mittel vollständig Herr sind, allen Unarten und Roheiten
0124ferne stehen und vor Allem — singen können. Die Blüthen-
0125zeit ihrer Stimme liegt hinter ihnen, seit dem vorigen Jahre
0126jedoch hat diese, wie wir mit Vergnügen bemerkten, eine wei-
0127tere Einbuße bei keinem von ihnen erlitten. Herr Graziani 
0128nimmt in dieser Trias entschieden die erste Stelle ein; seine
0129gewinnende Persönlichkeit, sein wohllautendes Organ und die
0130edle, liebenswürdige Grazie seines Vortrags erzielten auch
0131diesmal den besten Eindruck und sicherten ihm ungetheilten
0132Beifall. Unmittelbar nach den Herren Ferenczy, Wachtel 
0133und Steger klang uns Grazianiʼs Gesang doppelt wohl-
0134thuend. Schade nur, daß man den Sänger und das Ge-
0135sungene oft so schwer auseinanderbringt! Herr Angelini 
0136ist ganz der frühere tüchtige, starre Sänger, die rauhe Tu-
0137gend vom vorigen Jahr. Bei Frau Lotti della Santa 
0138machen sich die Schäden des Organs am meisten geltend; in
0139der Höhe klingt ihre Stimme, namentlich im Forte, scharf
0140und gellend, an Leidenschaft und schauspielerischem Talent
0141fehlt es überdies dieser Sängerin vollständig. Dennoch schla-
0142gen wir ihre Vorzüge keineswegs niedrig an. Die Solidität
0143und Sicherheit ihrer Technik, ihr guter Geschmack und ein
0144durchgehender Zug von Anspruchslosigkeit und bescheidener
0145Zurückhaltung nehmen für Signora Lotti ein, mit ihr we-
0146nigstens versöhnend, wo sie nicht entzücken kann. Die kleineren
0147Rollen wurden von Fräulein Dillner und den Herren
0148Guidotti, Milesi und Lay sorgfältig durchgeführt. Herr
0149Hellmesberger erregte mit dem virtuosen Vortrag des
0150Violin-Concerts im 3. Acte (ein „Solo“ schlechtweg kann
0151man das kaum mehr nennen) stürmischen Beifall.