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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 223. Wien, Donnerstag den 13. April 1865

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Letzte Concerte.


0002Ed. H. Zweimal im Jahre verstummen in Wien die
0003weltlichen Klänge, und die Musik zieht im ernsten Priester-
0004talar zum Concertsaal. Die geistliche Musik in ihrer perio-
0005dischen Wiederkehr bezeichnet bei uns zwei bedeutungsvolle Zeit-
0006wenden: sie begräbt das Jahr und hebt den Frühling aus der
0007Taufe. Zu letzterer Feier erschien die Musica sacra heuer
0008in dreifacher Vertretung: in den Concerten des „Haydn“, des
0009„Singvereins“ und der „Sing-Akademie.“ Am stärksten mit
0010dem Irdischen zusammenhängend, halb weltlich zum minde-
0011sten, gab sich der Pensionsverein „Haydn“, der anstatt des
0012gewöhnlichen Oratoriums diesmal, wie schon wiederholt in
0013neuester Zeit, ein zusammengesetztes Concert darbrachte. Durch
0014diese „gemischten Akademien“ im Burgtheater schließt die
0015Tonkünstler-Societät gleichsam einen Ring von ihrer jüngsten
0016zu ihrer frühesten Periode. Im letzten Viertel des vorigen
0017Jahrhunderts repräsentirte dieser Verein — unsere erste
0018stabile Concertgesellschaft — so ziemlich das ganze öffentliche
0019Concertwesen in Wien; er begriff demnach seine Stellung
0020vollkommen, indem er neben den Oratorien „gemischte Aka-
0021demien“ in reicher Anzahl vorführte, und darin Symphonien
0022und Ouverturen, ausgezeichnete Gesangskünstler und Virtuosen,
0023die das bürgerliche Publicum sonst nicht hätte zu hören be-
0024kommen. Mit dem Erscheinen der beiden großen Cantaten
0025von Haydn, an denen die Begeisterung der Hörer nicht er-
0026müdete, war das Programm der Burgtheater-Akademien auf
0027Jahrzehnte bestimmt, als naturgemäßer Wechsel zwischen
0028Schöpfung“ und „Jahreszeiten.“ Ueberdies hatte bald dar-
0029auf die Gründung eigener Concert-Institute („Gesellschaft der 
0030Musikfreunde“, die „Concerts spirituels“) der Symphonie,
0031der Kammermusik und dem edleren Virtuosenspiel sichere Pfleg-
0032stätten bereitet, mit welchen zu rivalisiren die „Tonkünstler-
0033Societät“ sich weder verpflichtet noch verlockt fühlen konnte.
0034Sie siedelte sich demnach förmlich im Oratorium fest. Nun
0035geschah es wieder in neuester Zeit, daß das schmerzlich em-
0036pfundene Bedürfniß nach einem großen Chor-Institute durch
0037die Gründung des „Singvereins“ und der „Sing-Akademie“
0038endlich volle Befriedigung fand. Das Vorrecht auf Oratorien-
0039Musik ging dadurch der Tonkünstler-Societät verloren, welche
0040neben diesen neuen Chorvereinen in dem wichtigsten Punkte in
0041Schatten trat. Dieser Concurrenz war nicht obzusiegen, nur
0042auszuweichen, und das konnte am passendsten durch eine aber-
0043malige Auffrischung des Repertoires im Sinne der früheren
0044„gemischten Akademien“ geschehen. So scheint uns denn die
0045neue Wendung der Tonkünstler-Concerte im Burgtheater
0046keineswegs blos in Willkür oder Zufall begründet.


0047Das diesjährige Osterconcert des „Haydn“ enthielt
0048MendelssohnʼsLobgesang“ und eine Reihe kleinerer
0049Stücke. In ersterem waren die Frauenstimmen durch Frau
0050Wilt und Fräulein Schmidtler (einer Enkelin Joseph
0051Weigelʼs) vortheilhaft besetzt, während der Gesang unseres
0052vielverdienten Tenorveterans Erl nur unter dem Schutz einer
0053frommen Pietät unangefochten passirte. Es folgte Mozartʼs 
0054reizendes D-moll-Concert, dasselbe, welches gerade vor achtzig
0055Jahren (1785) Mozart selbst an der nämlichen Stelle pro-
0056ducirt hatte. Diesmal spielte es Herr Dachs. Die beiden
0057Virtuosen-Brüder Doppler glänzten mit einer „Phantasie
0058über ungarische Volkslieder“. Das Stück, aus sehr originel-
0059len National-Melodien gefällig gewunden, wurde so bewunde-
0060rungswürdig ausgeführt, daß wir von der sprichwörtlichen
0061Zwei-Flöten-Langweile nicht das Mindeste verspürten. Den 
0062Glanzpunkt des Concertes bildete Fräulein Artôt, welche
0063in rühmenswerther Collegialität einen Beitrag von nicht we-
0064niger als drei Gesangsvorträgen spendete. Es waren die bei-
0065den Chopinʼschen Mazurkas und die F-dur-Arie der Su-
0066sanna aus „Figaroʼs Hochzeit“ — bekannte Leistungen der
0067großen Künstlerin, welche auch diesmal nicht hinter sich selbst
0068zurückblieb, ebensowenig als das Publicum im Ausdrucke sei-
0069ner enthusiastischen Zustimmung. Den Beschluß machte Schu-
0070bertʼs
 H-moll-Marsch in LisztʼsArrangement. Wir hätten
0071es kaum geglaubt, daß die Farbenpracht selbst dieser In-
0072strumentirung jemals so verblichen und schäbig aussehen
0073könnte, als es hier in Folge der unacustischen Localität der
0074Fall war. Gegen diesen schadenfrohen genius loci des Burg-
0075theaters, der sich in Gestalt eines dämpfenden Federbetts auf
0076die Klangmassen legt, vermag ein Vorgeiger wie Hellmes-
0077berger
und ein Dirigent wie Esser nichts auszurichten.
0078Wir haben wiederholt den großen Fortschritt gerühmt, den die
0079Tonkünstler-Societät seit ihrer Reorganisation als „Haydn“
0080(1862) gegen die früheren Aßmayer- und Randhartin-
0081ger
-Productionen gemacht hat. Aber die wichtigste Reform
0082ist seit diesen drei Jahren noch immer nicht in Angriff ge-
0083nommen: die Uebertragung der Concerte ins Hofoperntheater.
0084Die Vorstände des „Haydn“ fühlen die Dringlichkeit dieser
0085Maßregel gewiß so gut und besser als wir — warum ge-
0086schieht also noch immer kein entscheidender Schritt für eine
0087Reform, welcher die Liberalität des Allerhöchsten Hofes gewiß
0088keine Schwierigkeiten entgegenstellen wird? Die bloße histo-
0089rische Pietät fürʼs Burgtheater als Urstätte der „Tonkünstler-
0090Societät“ dünkt uns mit so schwerer musikalischer Beschädi-
0091gung doch zu theuer erkauft.


0092Palmsonntag um die Mittagsstunde gab die „Sing-
0093Akademie“ unter Direction des Herrn Weinwurm ein [2]
0094Concert im Musikvereinssaal. So wäre denn dies einst viel-
0095verheißende Institut per tot discrimina rerum wieder zu
0096einem Dirigenten und einer stattlichen Mitgliederzahl gelangt.
0097Wir freuen uns dieser Auferstehung, welche mit der Zeit
0098hoffentlich die jetzt noch sehr merklichen Spuren längeren
0099Todtliegens abstreifen wird. Einige Vorträge, wie die in-
0100teressanten zwei Madrigale von John Dowland, gelangen
0101ganz befriedigend, Anderes, wie der Ostergesang von Leis-
0102ring
und das Magnificat von Durante, haben wir besser
0103gehört. Unser Interesse concentrirte sich hauptsächlich auf
0104SchumannʼsRequiem“.*) Es ist in Textauffassung,
0109Styl und technischer Behandlung ein ergänzendes Seitenstück
0110zu der „Messe“ dieses Tondichters, nur, wie uns bedünkt, in
0111günstigerer Stunde geschaffen. Schumannʼs Muse hatte
0112zu jener traurigen Zeit, da sie selbst der „ewigen Ruhʼ“ be-
0113reits entgegenwallte, der glücklichen Schöpferstunden nur wenige.
0114Die geniale Ursprünglichkeit, die gleichmäßige Lebenskraft, die
0115seine früheren Tondichtungen durchdringt, muß man in
0116Schumannʼs Requiem nicht erwarten. Dennoch scheint es
0117uns ein sehr merkwürdiges Werk und mehr als dies, ein
0118tiefempfundenes, edles und eigenthümliches. Die muthige,
0119dabei von eitler Originalitätssucht unberührte Ueberzeugungs-
0120treue, mit welcher Schumann auch in der Kirchenmusik
0121seinen eigenen Weg beibehält, sein eigenes Fühlen und Den-
0122ken ausspricht, unbekümmert um traditionelle Normen und
0123Vorbilder, erfüllt uns mit Verehrung und Freude. Mag
0124man auch Vieles in dem Requiem modern nennen, wir 
0125haben nichts Unwürdiges, nichts Unwahres darin vernommen;
0126Schumann zeigt, daß auch ein „moderner Mensch“ würdevoll
0127und herzlich mit seinem Gott sprechen kann. Man ver-
0128gleiche ihn nicht mit Bach und Beethoven in ihren Kirchen-
0129Compositionen, Schumann strebt diese schwindelnde Höhe
0130nicht entfernt an, und eben weil er sich für die Kirche nicht
0131größer streckt, als er gewachsen ist, weil er auch im Gebete
0132kein Anderer als Er selbst zu sein sich anstrengt, spricht sein
0133Requiem“ uns so innig, überzeugend und menschlich-schön
0134zu Gemüth. Schumann sucht die Wirkung seiner Kirchen-
0135musik weder in erstaunlichem polyphonen Aufbau, noch in
0136dramatischer Malerei und neuen Klangeffecten. Der Gesang,
0137dem das Orchester sich durchwegs bescheiden unterordnet, fließt
0138einfach und sinnig dahin, mitunter freilich auch stockend oder
0139spärlich, dafür in andern Momenten zu voller, eigenthüm-
0140licher Schönheit sich aufschwingend. Der Ausdruck des Gan-
0141zen reizt mehr zu elegischer Einkehr, zu sanfter Wehmuth,
0142als zur Strenge und Erhabenheit. Schumannʼs Requiem 
0143ist kein musikalisches Mausoleum, dessen steinerne Züge uns
0144die furchtbare Majestät des Todes vor Augen stellen, es ist
0145ein Rosmarinstengel, aus dessen Duft Grabgedanken mit der
0146geheimnißvollen Macht schmerzlicher Erinnerung zu uns auf-
0147teigen, vielleicht Niemanden an den kalten Triumph der
0148Unsterblichkeit erinnernd, aber Jeden an das, was er selbst
0149verlor.


0150Eine eingehende Schilderung dieses Werkes müssen wir,
0151stofflich bedrängt, wie wir sind, uns für ein andermal ver-
0152sparen. Wir möchten sie überdies lieber an eine Aufführung
0153knüpfen, die dem Hörer ein ganz vollkommenes Bild der
0154Composition entgegenbringt. Herr Chormeister Weinwurm 
0155hat das Requiem zwar mit unverkennbarer Sorgfalt ein-
0156studirt, allein die kurze Zeit, die darauf verwendet werden
0157konnte, die spärliche Besetzung der Streichinstrumente, der
0158für große Klangmassen unzureichende Raum des Musikvereins,
0159endlich die (mit Ausnahme Herrn Panzerʼs) mangelhafte
0160Ausführung der Solopartien bildeten eine Summe von
0161Hemmnissen, unter welchen der Totaleindruck des Ganzen
0162unmöglich ganz rein bleiben konnte.


0163Der Männergesang-Verein hatte mit seinem letz-
0164ten Concert nicht den gewohnten glänzenden Erfolg. Zwar
0165ließ der Vortrag der Chöre nichts von jener Präcision und
0166Tonfülle vermissen, durch welche der von Herbeck so erfolg-
0167reich geleitete Verein mit Recht berühmt ist. Aber von den
0168vorgetragenen Compositionen erhoben sich nur wenige über
0169das Niveau geschickter Routine, brachten es nur wenige zu
0170einer herzhaften Wirkung. Selbst distinguirte Componisten
0171sagten uns an diesem Tage nur mit gewählten Worten, daß
0172sie uns eigentlich nichts zu sagen hätten. Den meisten Bei-
0173fall fand Engelsbergʼs frischer, poetisch angehauchter Chor:
0174Der wandernde Dichter“, der wiederholt werden mußte.
0175Außerdem wurden die letzten Strophen eines „kärntnerischen
0176Volksliedes“ und der „Waldandacht“ von Abt wiederholt. Der
0177letztgenannte süße Brei verdankte diesen Erfolg zumeist Herrn
0178Przihodaʼs zartem Vortrag des Tenorsolos. Zwei von
0179Herrn Panzer schön vorgetragene Gesangstücke („Abschied“,
0180von Karl Löwe, und „die Uhr“, von Hoven), dann ein
0181Violinsolo Herrn Hellmesbergerʼs waren dankenswerthe
0182Ausfüllnummern.


0183Lange hat uns kein Concert so gemüthlich angesprochen,
0184wie die Production der Zöglinge des Conservatoriums.
0185Schon die äußere Physiognomie dieses Concerts hatte etwas
0186familienhaft Anmuthendes. Die Stunde war 4 Uhr, der [3]
0187Saal vollgepropft, die Zuhörer von freudiger Theilnahme
0188und zum größten Theil auch von persönlichem Interesse an
0189diesem oder jenem Zögling bewegt. Dazu der ungewohnte,
0190frühlingsheitere Anblick eines aus lauter jungen Leuten be-
0191stehenden Orchesters, zwei hübsche Mädchen vorn bei der
0192ersten Violine, mehrere Soldaten im weißen Waffenrock an
0193den nächsten Pulten und an der Spitze der zweiten Violinen
0194ein allerliebster schwarzäugiger Geiger in Taschenformat, der
0195neunjährige Sohn Hellmesbergerʼs der unter väterlicher
0196Direction sein erstes Orchesterdebut machte. War das eine
0197Wonne, mit der die jugendliche Schaar anʼs Musiciren ging!
0198Wie sicher und lebendig ging Alles von statten! Nach den
0199ersten acht Allegrotacten der „Oberon“-Ouverture legte Hell-
0200mesberger
den Taktstock nieder, und das ganze Tonstück
0201flog ohne Schwankung stürmisch zum Schlusse. Die von
0202zwölf Zöglingen unison vorgetragene Violinsonate von Seb.
0203Bach war eine achtunggebietende Leistung, desgleichen die
0204Durchführung von R. Volkmannʼs D-moll-Symphonie, einer
0205interessanten, charaktervollen Composition, welche eingehender
0206zu würdigen uns die nächste Saison Gelegenheit bieten wird.
0207Kurz, diese anspruchslose Zöglingsproduction hat uns mit den
0208besten Hoffnungen für den musikalischen Nachwuchs erfüllt, zu-
0209gleich mit der höchsten Achtung vor der Conservatoriums-Leitung J.
0210Hellmesbergerʼs, dem hierin die Direction der „Gesellschaft
0211der Musikfreunde“ mit angelegentlicher Bereitwilligkeit an die
0212Hand geht. — Die Gesangschule des Conservatoriums steht
0213bekanntlich nicht auf gleicher Höhe mit dem Instrumentale.
0214Die Classe der Frau Palffy-Cornet, deren vielversprechende
0215Schülerin Frl. Waldmann unleugbare Fortschritte zeigte,
0216leistet Besseres als jene der Frau Marschner.


0217Wir können uns dem Urtheil mehrerer competenter Kri-
0218tiker nur anschließen, welche bereits ihr Bedauern über die
0219Verbildung einer so schönen Stimme wie die Frl. Seeho-
0220ferʼs
ausdrückten. Ein so werthvolles Material, getragen von
0221zweifellosem Talent, müßte unter guter Leitung bereits die
0222größten Fortschritte aufweisen, anstatt das Gegentheil. Dies
0223Bedenken darf jetzt um so freimüthiger ausgesprochen werden,
0224als auch zahlreiche andere Schülerinnen der Frau Marschner 
0225im Lauf der letzten Jahre zu dem gleichen ungünstigen Rück-
0226schluß auf die Methode dieser Lehrerin nöthigten.


0227Noch ein bescheidenes Blümchen aus dem Beet der „letz-
0228ten Concerte“ verdient Erwähnung: die Abendunterhaltung,
0229welche Fräulein Hermine Stadler (unter beifälliger Mit-
0230wirkung der Herren Hrabanek und Kremser) im Ehr-
0231bar
ʼschen Claviersalon gab. Die junge Pianistin hat einen
0232elastischen Anschlag, bedeutende Geläufigkeit und einen lebhaf-
0233ten, unaffectirten, nur hin und wieder etwas überstürzenden
0234Vortrag. Sie kann eine der besten Clavierspielerinnen wer-
0235den — eine der hübschesten ist sie bereits.


0236Zu den bedeutendsten Ereignissen der Saison gehörte
0237die letzte Aufführung von Seb. BachʼsMatthäus-Pas-
0238sion
“ durch die „Gesellschaft der Musikfreunde“ und deren
0239Singverein“. So wohlverdient das Lob war, das seiner-
0240zeit die „Sing-Akademie“ für die gleiche Production erntete,
0241es erscheint nur als ein relatives neben der meisterhaften
0242Aufführung, die wir Herrn Hofcapellmeister Herbeck ver-
0243danken. Die Chöre — sie gehören zu den schwierigsten Auf-
0244gaben in der gesammten Vocalmusik — wurden mit unüber-
0245trefflicher Genauigkeit, Zartheit und Kraft vorgetragen. Kaum
0246wissen wir, ob wir den schwierigen, reichsfigurirten Chören
0247und Doppelchören, oder dem zarten, einfach innigen Vortrag
0248der Chorale den Vorzug geben sollen. Vortrefflich war auch 
0249die Raschheit, mit welcher alle Theile — Recitative, Chöre,
0250die sogenannten „turbae“ etc. — Schlag auf Schlag einan-
0251der folgten, ein präcises Ineinandergreifen des complicirten
0252Räderwerks, worin Herr Herbeck durch Herrn Nottebohmʼs 
0253verständnißvolle Clavierbegleitung tüchtig unterstützt wurde.
0254Von den Solisten erregte das lebhafteste Interesse der als
0255Gast mitwirkende königlich hannoveranische Hofopernsänger
0256Herr Gunz, früher Mitglied des Kärntnerthor-Theaters.
0257Dieser in Deutschland jetzt überaus beliebte Sänger hat die
0258ganze Frische, den jugendlichen Schmelz seiner angenehmen
0259Tenorstimme sich vollständig erhalten und dabei in der Ge-
0260sangskunst die überraschendsten Fortschritte gemacht. Er sang
0261den schwierigen, in unnatürlich hoher Lage sich gesangwidrig be-
0262wegenden „Evangelisten“ (den wenige Tenoristen ohne Abän-
0263derungen bewältigen) buchstäblich getreu, mit deutlichster Aus-
0264sprache, reiner Intonation und würdigem, mitunter sehr
0265empfindungsvollem Ausdruck. Daß er die Recitative rascher
0266und fließender sang, als es in der gewöhnlichen schleppenden
0267Praxis geschieht, verdient ein besonderes Lob. Frau Wilt,
0268die Herren Panzer und Förchtgott standen Herrn Gunz 
0269mit ihren trefflichen Leistungen würdig zur Seite. Wären die
0270beiden jungen Altistinnen, deren ursprünglich schöne Mittel
0271durch schlechte Tonbildung entstellt und durch geistige Besee-
0272lung nicht gehoben sind, auf gleicher Höhe gestanden, so hätte
0273die (äußerst zahlreiche und aufmerksame) Hörerschaft sich
0274eines völlig ungetrübten gleichmäßigen Genusses erfreut. Dem-
0275ungeachtet wird Jedermann sich dieser großartigen Aufführung
0276dankbar und befriedigt erinnern, die im Wesentlichen das
0277Rühmlichste geleistet und das musikalische Jahr in großem
0278Styl abgeschlossen hat.

Fußnoten
  • *)Das Requiem ist als op. 148 unter Schumannʼs nachge-
    lassenen Werken erschienen, und zwar bei Rieter-Biedermann 
    in Winterthur, einer Firma, die um den Nachlaß Schumannʼs 
    und um gute Musik überhaupt sich große Verdienste gesammelt hat.