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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 296. Wien, Dienstag den 27. Juni 1865

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Musikalische Plauderei.


0002Ed. H. Wir hätten keine Musik im Sommer? Welche
0003Täuschung. Allerdings keine Musik, über die man schrei-
0004ben muß, keine „Afrikanerin“ oder „Isolde“, aber Musik,
0005die man hören muß, mag man wollen oder nicht. Sie wu-
0006chert im Sommer wie ein giftiges Unkraut in Südamerika.
0007O Leierkasten! Ihr privilegirten Peiniger des menschlichen
0008Gehörs, ihr gesetzlich befugten Quäler aller Ruhebedürftigen
0009und Kranken, Aller, die da studiren und geistig arbeiten —
0010wie lange noch werdet ihr uns vom Morgen bis zur Nacht
0011mißhandeln dürfen? Zehn Jahre sind es, seit wir, und An-
0012dere vor uns, das letztemal mit Spott und bitterem Ernst
0013gegen diese einer Residenzstadt so unwürdige Stadtplage
0014loszogen. Wir thaten es ziemlich hoffnungslos, denn, wie
0015vorherzusehen, wehrten sich die Ritter jedes durch Alter „ehr-
0016würdig“ gewordenen Scandals für ihre lieben Drehorgeln,
0017und ereiferten sich unsere Humanitätsbolde gegen die Abstel-
0018lung einer Ohrenqual, welche wenigstens 10 bis 12 Fami-
0019lien zugleich peinigt, aber 4 bis 5 Köchinnen amüsirt. Daß
0020unsere lange zurückgedrängten Seufzer jetzt wieder Luft be-
0021kommen, daran ist niemand Anderer Schuld als der Statt-
0022halter von Böhmen. Dieser einsichtsvolle Menschenfreund
0023(„ein zweiter Daniel!“) soll nämlich beschlossen haben, die
0024Zahl der orgelnden Gehörsmörder in Prag zu vermindern
0025und mit Schonung der bestehenden „Rechte“ keine weiteren
0026zu ertheilen. So soll dieses mittelalterliche Institut allmälig
0027einfrieren. Böhmen, du Conservatorium von Europa, möge
0028dein Beispiel fruchtbar sein! Das Land, welches unsere
0029Musik und unsere Musikantenschaar seit jeher so reichlich ver-
0030mehrte, würde sich um uns kaum weniger verdient
0031machen, gäbe es diesmal das Signal zur Verminderung 
0032unserer musikalischen Zwangsgenüsse.


0033Ich weiß nicht, ob die Quantität unserer Wiener Dreh-
0034orgeln sich von Jahr zu Jahr vermehrt, ihre Qualität aber
0035wird immer gefährlicher. Was waren jene ehemaligen klei-
0036nen Flötenwerke, jene tragbaren Vorrathskäschen alter Lan-
0037nerʼscher Walzer gegen die jetzigen mauererschütternden Dreh-
0038kolosse, die auf vier Rädern in Begleitung eines Directors
0039und mehrerer Regisseure ihren musikalischen Großhandel trei-
0040ben! Die vormärzlichen Leierkästen verhielten sich zu den
0041„vervollkommten“ von heute, wie Stubenfliegen zu giftigen
0042Scorpionen. Ein erschütterndes Klaggeschrei dringt plötzlich
0043wie ein Schwert in mein Ohr. Es ist der Sturm aus der
0044Wilhelm-Tell-Ouverture, den ein sehr „vervollkommter“
0045Leierkasten mit riesigem „vollem Werk“ und sechs Trompe-
0046ten im Leib vor meinem Fenster andreht. Ich eile, das
0047Fenster zu schließen — zweimal täglich erscheint diese musi-
0048kalische Guillotine mit ihrem Tell-Sturm, ihrer Don-Juan-
0049Ouverture, ihrem Tannhäuser-Marsch! Ich kenne das
0050wüste, alte Weib, das mit gleichgiltiger Bulldoggmiene fort-
0051orgelt, während der „Director“, rechts und links die Kappe
0052ziehend, nach allen Fenstern hinauf begehrende Bücklinge
0053schneidet! Wenn, wie zu erwarten steht, die Vervollkomm-
0054nung dieser Torturwerkzeuge so weit gediehen sein wird, daß
0055sie uns das Mozartʼsche Requiem und Beethovenʼs C-moll-
0056Symphonie ins Haus bringen, dann wird jeder Mensch von
0057einigem Gehör und Ehrgefühl auswandern müssen.


0058Will und kann man die Leierkästen nicht geradezu auf-
0059heben, so möge man sie wenigstens in der inneren Stadt
0060verbieten oder außerordentlich beschränken. Hier bringt es
0061die Enge der Straßen mit sich, daß man immer mehrere
0062Drehorgeln, ein halb Dutzend Claviere und verschiedene Ge-
0063sangsübungen zugleich hört. Es ist thatsächlich so weit ge-
0064kommen, daß man in der innern Stadt den Frühling und
0065Sommer bei festverschlossenen Fenstern zubringen muß. Leier-
0066kästen sollten im engeren Sinn des Wortes eine Landplage
0067sein. Wie auf flachem Lande das Hausiren überhaupt einen
0068Sinn hat, so auch das Hausiren mit Musik. Dorfbewohnern,
0069die nur des Sonntags Musik hören, mag es willkommen
0070sein, wenn eine verstimmte Pfeifenlade ihnen den seltenen
0071Genuß einiger Opern- oder Walzermelodien ins Haus bringt.
0072Da jubeln die Kinder, da tanzen die Mägde und ich weiß
0073nichts Wichtiges, was dadurch gestört würde. Anders im
0074Innern einer Residenzstadt. Hier quillt ohnehin von Früh
0075bis in die späte Nacht Musik aus allen Thüren, allen Fen-
0076stern. Aus jeder Kneipe, jedem öffentlichen Garten ertönt
0077Abends Gesang und Musik, treffliche Militärbanden durch-
0078ziehen die Stadt, die häusliche Musik-Consumtion ist ins
0079Ungeheuerliche angewachsen. Und nun privilegiert man noch
0080eine Unzahl ohrenmörderischer Drehorgeln, die nach Belieben
0081zu zweien und dreien sich in einer engen Straße aufpflanzen
0082und Hunderte von ruhig arbeitenden Menschenkindern peinigen
0083dürfen! Das Einzige, was gegen den allgemeinen Wunsch
0084nach Abstellung dieser Calamität immer wieder eingewendet
0085wird, ist: daß diese Musikhausirer ja Erwerbsteuer zahlen.
0086Desto schlimmer. Bettler fertigt man mit einem Almosen
0087ab, oder nimmt keine Notiz von ihnen, falls man nicht will.
0088Wer kann aber von dem aufdringlichen Geheul der „vervoll-
0089kommten“ Leiermänner keine Notiz nehmen? Das sind be-
0090waffnete
Bettler. Würde man Leute gegen Erlag einer
0091Erwerbsteuer etwa berechtigen, Jeden, der ihnen begegnet, zu
0092kitzeln oder zu zwicken? Ich finde keinen erheblichen Unter-
0093schied zwischen diesem und dem wirklichen Privilegium der
0094Leierzunft, einer ganzen Residenzbevölkerung das (ohnehin
0095so lärmgequälte) Gehör vollends zermatern zu dürfen.


0096Schreiber dieser Zeilen wohnt in einer Straße der in-
0097neren Stadt, welche als eine „ruhige und angenehme“ ge-
0098rühmt wird. Wol wäre sie ruhig und angenehm, hätte nicht
0099der Musikdämon sie zu einem seiner beliebtesten Stations-
0100plätze erkoren. Von den Leierkästen will ich nicht mehr reden,
0101die sich hier regelmäßig ablösen, oder auch gleichzeitig auf
0102geringe Distanz „werkeln“, der eine die Wilhelm-Tell-Ouver-
0103ture mit Trompeten-Register, der andere den „Trovatore“
0104mit fortwährendem „Tremolo“ auch einer neuen sauberen
0105„Vervollkommnung“. Vor ihnen ist keine Rettung, sie haben
0106kein Gefühl.


0107Aber mit den nicht steuerpflichtigen, vornehmeren Wer-
0108kelmännern im ersten und zweiten Stock meiner unglücklichen
0109Gasse möchte ich noch ein bescheidenes freundnachbarliches
0110Wort sprechen. Eigentlich sind es Werkefräulein, musika-
0111lische Satanellas, ohne Zweifel jung und hübsch, überaus ge-
0112bildet, aber von sehr weitem musikalischen Gewissen, liberal-
0113stem Gehör und stets verstimmtem Clavier. Während die
0114Fräulein mir gegenüber den ganzen lieben Tag alle Offen[2]-
0115bachʼschen Operetten, Beethovenʼs „Sonate pathètique“,
0116Straußʼsche Walzer, den Bacio und die Zampa-Ouverture 
0117nacheinander abthun, blutet über ihnen ein junges Opfer
0118musikalischer Dressur unter langsamen Tonleitern und Uebun-
0119gen. Rechts von mir begrüßt ein Fräulein mit (leider aus-
0120giebiger) Sopranstimme den anbrechenden Morgen mit italie-
0121nischen Arien aus „Lucia“ und „Lucrezia". Es scheint ihr Appetit
0122zum Frühstück zu machen, und Donizetti ist ja ohnedies schon
0123todt. Einige Häuser weiter wird das Familiensouper regel-
0124mäßig durch vierhändiges Abschlachten von Ouverturen ein-
0125geleitet. Ist gerade Mondschein, so stöhnt auch eine Phys-
0126harmonika ihren Weltschmerz in dies liebliche Ensemble. Das
0127wäre nun Alles recht und gut — bei geschlossenen Fenstern.
0128Aber warum kommt solchen gebildeten und kunstsinnigen Ge-
0129müthern niemals, gar niemals der Gedanke, es könnten diese
0130außerordentlichen Musikproductionen andern Leuten in der
0131Straße doch vielleicht nicht immer erwünscht sein? Liegt nicht
0132in diesem unaufhörlichen Musiciren bei offenen Fenstern
0133auch eine Art Barbarei, ähnlich jener der Drehorgelmänner?
0134Musikalisches Faustrecht — im ersten Stock oder vor dem
0135Hausthor. Ist die Nächstenliebe nicht stark genug, die Fenster
0136zu schließen, so sollte es doch die Eitelkeit sein. Denn was
0137soll man von der musikalischen Empfindung und Bildung
0138eines Pianisten halten, der bei offenem Fenster im ersten
0139Stock ein Adagio in C-moll spielt, während unten eine
0140Drehorgel von 20 Pferdekraft ihn mit einem H-moll-Csardas
0141übertönt und vis-à-vis aus gleichfalls weitgeöffnetem Fenster
0142eine kräftige Sängerin ihr Verlangen nach einem „Bacio“
0143in Des-dur proclamirt? Meine werthen Fräulein, bedenken
0144Sie doch!


0145Am verflossenen Samstag Abend — es war obendrein
0146ein prachtvoller, warmer Abend — hörte ich ausnahmsweise
0147keinen Ton in meiner Gasse. Das kam daher, weil ich mich
0148zu Hietzing in der „Neuen Welt“ befand. Die Sommer-
0149Liedertafel, welche der Akademische Gesangverein alljähr-
0150lich in dem schönen Garten der „Neuen Welt“ abhält, hat
0151sich bereits guten Ruf gemacht und übt eine bedeutende An-
0152ziehungskraft auf das musikalische Wien. Es geht da immer
0153hübsch und lustig zu, die jungen, frischen Stimmen jubeln noch
0154einmal so fröhlich durch die würzige Abendluft, und sind sie
0155ermüdet, so ergreift Fahrbachʼs Militär-Capelle, in ihrer
0156Weise nicht minder beredt, das Wort. Die Production von
0157Samstag Abend, welche mehrere Novitäten, einige tiefgemüth-
0158liche kärntische Volkslieder, endlich Herrn Weinwurmʼs 
0159preisgekrönten Chor „Germania“ brachte, bewies neuerdings,
0160daß der Akademische Gesangverein unter seinen zahlreichen
0161Wiener Rivalen sich die erste Stelle nach dem Männergesang-
0162Verein errungen hat.


0163Unter den Novitäten waren zwei Compositionen von
0164E. S. Engelsberg die hervorragendsten. Das „Ständ-
0165chen“, ein kurzes achtzeiliges Gedicht von Julius Mosen, ist
0166vom Componisten äußerst stimmungsvoll wiedergegeben: ein
0167Tenorsolo (von Herrn Schultner zart vorgetragen) bewegt
0168sich in schöner, warm empfundener Melodie über leisen, breit-
0169gezogenen Accorden des Männerchors. Dadurch ist mit Ver-
0170meidung der abgenützten „Brummstimmen“ ein ähnlicher Effect
0171in edlerer Weise erzielt. Das „Ständchen“ gefiel sehr, obwol
0172es für den Vortrag im Freien viel zu zart ist; wir hoffen
0173es im nächsten Winter im Concertsaal zu hören. Viel um-
0174fangreicher und buntfärbiger war der zweite von Engels-
0175berg
gedichtete und componirte Chor „Roman-Capitel
0176mit unpassenden Mottos
“, eine Art gesungener Qua-
0177drille in sechs Sätzen. Die Antithesen der ironischen „Mot-
0178tos“, die im Zusammenhang mit den „Roman-Capiteln“
0179selbst gesungen werden, sind witzig, allerdings auch etwas ge-
0180wagt und ohne gedrucktes Programm kaum verständlich.*) Um
0187so erfreulicher war der glänzende Erfolg der ebenso frisch er-
0188fundenen als effectvoll gearbeiteten Composition.


0189Das Publicum, das keinen der guten Witze und keine
0190der allerliebsten Melodien sich entgehen ließ, verlangte die
0191Wiederholung der „Roman-Capitel“, welche wie ihre Vorgän-
0192ger, die „Ballscenen“, „Narren-Quadrille“ und „Doctor
0193Heine“, bei den deutschen Gesangvereinen bald heimisch wer-
0194den dürften.


0195Das „Jagdlied“ trägt folgendes Motto:
0196„Nichts Schönʼres an sonnigen Tagen, /
0197Als muthig den Adler zu jagen! /
0198Mein letzter, ich glaubʼ, /
0199War mit Eichenlaub /
0200Ein rother der vierzehnten Classe.“ /

Fußnoten
  • *)So setzt Engelsberg vor ein zärtliches Liebeslied das Motto:
    (frei nach Darvin):
    „Diese Gans ist meine Schwester, /
    Dieses Schaf ein Vetter dein, /
    Und mit jenem Hirsch, mein Bester, /
    Dürftest du verschwägert sein.“ /