Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
No 523 Wien, Dienstag den 13. Februar 1866

[1]

Concerte.


0002Ed. H. Es war gegen Ende des Jahres 1846, als
0003Robert und Clara Schumann nach ihrem ersten Concert im
0004Musikvereinssaale von einigen wenigen Getreuen nach Hause
0005geleitet wurden. Die Stimmung war allerseits nicht die beste.
0006Weder den mäßigen Besuch des Saales hatten wir erwartet,
0007noch die mäßige Zustimmung, womit das Publicum Schu-
0008mannʼs
 B-dur-Symphonie (von ihm selbst dirigirt) und sein
0009A-moll-Concert (von Clara gespielt) entgegennahm. Es waren
0010dies die ersten in Wien aufgeführten Compositionen von Schu-
0011mann, bekanntlich zwei seiner größten und schönsten. Zog
0012man von der Summe des Beifalls den kleinen Minoritäts-
0013Fanatismus der „Getreuen“ und die persönliche Höflichkeit
0014ab, so blieb ein Erfolg übrig, der sich eigentlich nur für
0015mikroskopische Betrachtung eignete. So sehr die begleitenden
0016Freunde bemüht waren, ihrem Entzücken den wärmsten Aus-
0017druck zu leihen und damit einen schwachen nachträglichen
0018Sciroccohauch auf die Kühle des Publicums zu fächeln — das
0019Künstlerpaar hatte nur zu richtig beobachtet, und Frau Clara,
0020die nicht den eigenen, sondern nur den Lorbeer ihres Gatten
0021im Auge hatte, verrieth eine bedenkliche Traurigkeit. „Sei
0022guten Muthes,“ sprach Schumann ihr tröstend zu, „in zehn
0023Jahren wird das ganz anders sein.“ Er hatte richtig prophe-
0024zeit und sogar den Zeitpunkt ziemlich genau getroffen, von
0025dem eine allgemeinere Anerkennung und Verbreitung der
0026Schumannʼschen Musik in Wien datirt werden kann.


0027Schumann war nach einer fast zehnjährigen eclatanten
0028Thätigkeit als Componist und Schriftsteller und trotz eines
0029früheren Aufenthaltes in Wien, wo er mehrere Tondichtun-
0030gen herausgegeben hatte, den Wienern ein unbekannter Mensch
0031geblieben. Als er im Jahre 1846 mit seiner Gattin Wien 
0032besuchte, sprach man von ihm nur als von dem „Mann der
0033Clara Wieck“, und seine wenigen Verehrer zitterten vor
0034einer möglichen Wiederholung jenes Vorfalls bei einem aus-
0035wärtigen Hofconcert, wo eine hohe Person nach Claraʼs Produc-
0036tion sich mit der huldreichen Frage an ihren Gatten wendete:
0037„Sind Sie auch musikalisch?“ Es wollte fast scheinen, als
0038sei Schumann auch noch im Jahre 1846 vergeblich in Wien 
0039gewesen. Allein das Samenkorn war dennoch nicht im Winde 
0040verweht, es ruhte und wuchs im Herzen der kleinen Davids-
0041bündler-Gemeinde, die hier (der Sache, wenn auch nicht dem
0042Namen nach) entstanden war, um nach den befruchtenden
0043Stürmen von 1848 allmälig zu Aller Nutzen und Freude
0044sichtbar aufzugehen. Langsam genug geschah dies allerdings.
0045Man erinnere sich, wie zaghaft die „Gesellschaft der Musik-
0046freunde“ erst im December 1854 ein Werk von Schumann 
0047vorführte (die C-dur-Symphonie), wie langsam man (1856 
0048und 1857) zur B-dur- und D-moll-Symphonie vorschritt
0049und sich endlich 1858 an die „Peri“ wagte, die längst in
0050ganz Deutschland beliebt, ja sogar in Amerika wiederholt auf-
0051geführt war. Hellmesberger hatte längst den „letzten
0052Beethoven“ öffentlich gespielt und wagte sich noch nicht an
0053Schumann; im November 1852 brachte er das erste 
0054Schumannʼsche Quartett, und erst volle sechs Jahre später
0055das dritte. Am unbegreiflichsten war die lange Vernachlässi-
0056gung Schumannʼs von Seite der Pianisten. Dreyschock,
0057Willmers, Evers, Schulhoff und andere gefeierte Vir-
0058tuosen concertirten in Wien in den Jahren 1850 bis 1855 (!),
0059ohne ein einziges Stück von Schumann in ihr Programm
0060aufzunehmen.*)


0067Wenn Karl v. Lützow kürzlich in einem Aufsatz über
0068die Wiener Baugeschichte den „verspäteten Charakter“ derselben
0069betonte, so können wir diesen treffenden Ausdruck ganz analog
0070auf das frühere Musikleben Wiens anwenden. Wie Schu-
0071mann
, so hatte vor ihm Mendelssohn, nach ihm Ri-
0072chard Wagner einen sehr verspäteten Einzug bei uns ge-
0073halten; Wien nahm von diesen Männern erst Notiz, nachdem
0074sie ein Jahrzehnt in ganz Deutschland bekannt und gefeiert
0075waren. Dafür hat Wien seine musikalische Verspätung jederzeit
0076durch eine desto wärmere und anhaltendere Pflege des ein-
0077mal Erkannten wieder gutgemacht, so daß Clara Schumann 
0078das Wiener Publicum heute mit Recht als das theilnehmendste
0079und verständigste rühmen und ihm selbst die schwerfaßlichsten
0080Compositionen ihres Gatten mit voller Zuversicht vorführen
0081darf. Bei der qualitativ und quantitativ so bedeutenden Aus-
0082bildung des musikalischen Dilettantismus und speciell des
0083Clavierspiels in Wien kann die Concertgeberin mit größerer
0084Sicherheit als irgendwo anders annehmen, daß ein ansehn-
0085licher Theil ihrer Zuhörer auch mit den noch nicht öffentlich
0086gespielten Compositionen Schumannʼs bekannt sei. So hat
0087Frau Schumann in ihrem letzten Concert zum erstenmal die
0088Humoreske“ op. 20 vollständig und mit glänzendem Er-
0089folg vorgetragen. Das Stück gehört der ersten Periode Schu-
0090mannʼs an, in welcher die wunderbarste Inspiration mit ju-
0091gendlich wilder Gährung im Streite lag oder richtiger zu
0092unwiderstehlichem Zusammenwirken sich verband. Trotz ihres
0093Singular-Titels und der Abwesenheit bestimmter Unter-
0094Abtheilungen (wie sie die „Keisleriana“ und „Davidsbündler-
0095tänze“ haben) bildet die „Humoreske“ nicht eine untrennbare
0096Einheit, sondern eine Reihe von sechs (wenn man will sieben)
0097Charakterstücken, verschieden nach Tonart, Tempo und Aus-
0098druck. Wahrscheinlich bezog sie der Componist durch einen be-
0099stimmten poetischen oder psychologischen Zusammenhang näher
0100aufeinander, als deren rein musikalische Verbindung uns jetzt
0101errathen läßt. Die Factoren des Humors sind darin mehr
0102selbstständig auseinandergelegt, als verschmolzen, und zwar
0103waltet der sentimentale vor dem launigen, das Idealmoment
0104vor dem Realmoment vor. Gegenüber solchen höchst subjectiven
0105Ergüssen einer in ihrem Reichthum schwelgenden Phantasie
0106verstummt das nachschildernde Wort — genug, daß wir
0107innigere Herztöne, blitzendere Geistesfunken, berauschendere
0108Klänge in keiner anderen Composition Schumannʼs erlebten.
0109Hat man dies merkwürdige Stück auch nur einmal gehört,
0110so wird man, seltsam befremdet und bezaubert, den Eindruck
0111schwerlich wieder loswerden. Beschäftige man sich aber jahrelang
0112damit, und man wird immer neue Schönheiten und die alten
0113jedesmal schöner finden.


0114Wie schon der Titel „Humoreske“ andeutet und der
0115Inhalt vollauf bestätigt, stand der Componist damals unter
0116der heftigsten Einwirkung eines Dichters, der auf Schumannʼs
0117musikalische Phantasie, sowie auf seinen literarischen Styl einen
0118entscheidenden Einfluß geübt hat: wir meinen Jean Paul.
0119Von diesem Einfluß hat sich Schumannʼs Musik allerdings
0120später befreit, als sie in jene Phase der Abklärung und
0121Formschönheit trat, die wir als seine zweite Periode bezeichnen.
0122Aber an seiner persönlichen Begeisterung für Jean Paul ließ
0123Schumann selbst in späteren Jahren nicht mäkeln; der wort[2]-
0124karge, freundlich vor sich hin sinnende Mann konnte in sol-
0125chem Falle sehr heftig werden. So gaben einmal die Musiker
0126und Kunstfreunde Hamburgs dem als Gast anwesenden Schu-
0127mann ein Festsouper. Nachdem der erste Toast auf das ge-
0128feierte Künstlerpaar ausgebracht und in allgemeinem Jubel
0129allmälig verhallt war, erhob sich Schumann, um etwas
0130Außerordentliches zu begehen, nämlich zu sprechen. Athemlose
0131Stille. Der Redner pries das glückliche Zusammentreffen die-
0132ses Festes mit einem Tage, welcher Deutschland zwei der
0133größten Genies geschenkt habe: es sei heute der 21. März,
0134der Geburtstag Sebastian Bachʼs und Jean Paulʼs,
0135dieser unsterblichen Beherrscher der Musik und der Poesie!
0136Er erhob sein Glas, und die Gesellschaft that mit freudigem
0137Zuruf Bescheid. Allein der Dämon der Kritik, der oft am
0138nächsten, wenn die Begeisterung am höchsten, war auch bei
0139diesem Künstlermal gegenwärtig und erhob sich langen Halses
0140und funkelnden Blickes in Gestalt des geistreichen Grädener,
0141damals Directors der Hamburger Sing-Akademie. Den Ruhm
0142Jean Paulʼs, so sprach er, wolle er nicht antasten, noch irgend-
0143welche Sympathien für diesen Dichter; allein dagegen müsse in
0144einem Kreise deutscher Musiker protestirt sein, daß Jean Paul 
0145mit dem gewaltigen Sebastian Bach in Einem Athem genannt und
0146als ein Ebenbürtiger verehrt werde. Grädener war eben im besten
0147Zuge, diesen Gedanken weiter auszuführen, als Meister Robert 
0148schon aufgesprungen und ohne ein Wort zu sagen zum Saal
0149hinausgestürzt war. Vergebens suchte man ihn, und der Rest
0150des Abends verfloß in sehr herabgemunterter Stimmung. Am
0151folgenden Morgen eilte Grädener (aus dessen Munde wir
0152die Geschichte haben) mit einigen musikalischen Würdenträgern
0153zu Schumann, den man mittelst aller erdenklichen Erklärungen
0154endlich versöhnte.


0155Die „Humoreske“ kann, ganz abgesehen von ihrer enor-
0156men technischen Schwierigkeit, überhaupt nur von Jemandem
0157gespielt werden, der sich, verwandten Geistes, vollständig in
0158diese eigenthümliche Gedankenwelt hineingelebt hat. Wie sehr
0159Frau Schumannʼs Kunst hier am rechten Platze und von
0160ganz einziger Wirkung war, braucht kaum erst gesagt zu wer-
0161den. Möchte sie unseren Wunsch nach einer Wiederholung der
0162Humoreske“ im Laufe ihrer Concerte erfüllen! Was Frau
0163Schumann außerdem von Compositionen ihres Gatten vor-
0164trug, ist aus ihren früheren Productionen bekannt: die D-dur
0165Novellette Nr. 2, das „Nachtstück“ in F-moll, op. 12 (beides 
0166wol in allzu raschem Tempo), endlich das liebliche Schlummer-
0167lied aus den „Albumblättern“.


0168Das dritte Concert der Frau Schumann erzielte eine
0169harmonischere Gesammtwirkung als das zweite, welches, an
0170sich zu langwährend, überdies zu viel ernste, düstere Stücke
0171aufeinanderfolgen ließ. Alle acht Lieder aus Schumannʼs 
0172Frauenliebe und Leben“ hinter einander zu singen, war ein
0173interessantes Experiment, an dessen günstigem Erfolg Fräulein
0174Bettelheim ein großes Verdienst hatte. Im Allgemeinen
0175scheint uns die Häufung vieler, namentlich gleichartiger Com-
0176positionen von Schumann in Concerten nicht rathsam; speciell
0177gegen den genannten Cyklus erheben sich überdies noch andere
0178Bedenken. Die Auseinanderfolge zweier umfangreicher Par-
0179tien Variationen (von Beethoven op. 36 und von Ernst
0180Rudorff) verstieß gleichfalls gegen die Gesetze musikalischer
0181Oekonomie. RudorffʼsVariationen für zwei Pianoforte“
0182(von Frau Schumann mit Fräulein v. Asten gespielt)
0183haben uns trotz mancher geistreichen Figuration und manchen
0184sinnigen melodischen Zuges einen unerquicklichen Eindruck hin-
0185terlassen. Sie sind eine directe Nachbildung Schumannʼs
0186und die Nachahmer Schumannʼs beginnen uns, im Lied wie
0187in der Claviermusik, peinlich zu werden. Ist es an sich schon
0188bedenklich, eine so ganz individuelle, bis zum Krankhaften sub-
0189jective Erscheinung wie Schumann zu copiren, so wirkt es
0190vollends verstimmend, wenn seine Nachahmer sich mit conse-
0191quenter Beharrlichkeit gerade an jene Eigenheiten und Ma-
0192nieren ihres Vorbilds festklammern, welche an diesem selbst
0193mitunter schon bedenklich sind. Dahin gehört der Mißbrauch
0194mit Synkopen und Vorhälten, mit Dissonanzen, rhythmischen
0195und harmonischen Härten. Rudorff scheint es besonders
0196auf die Synkopen und rhythmischen Verschiebungen aller Art
0197abgesehen zu haben, und zwar mit solchem Erfolg, daß man
0198mitunter nicht errathen kann, wohin der gute und der schlechte
0199Tacttheil falle, ob man Perioden von vier zu vier oder von
0200drei zu drei Tacten höre u. s. w. Wir erinnern beispiels-
0201weise gleich an das Thema mit seinen langsamen Triolen,
0202an das synkopirte Hinken der zweiten Variation und Aehn-
0203liches. Den günstigen Eindruck des 6/8-Tact-Allegrettos, das
0204einen freundlichen, lebhaften Abschluß des Ganzen bilden
0205könnte, erwürgt der Componist mit eigener Hand, indem er
0206noch ein unerwartetes langathmiges Adagio hinzufügt, das
0207natürlich viel distinguirter „aussieht“. — Sehr schön spielte 
0208Frau Schumann Schubertʼs B-dur-Sonate; auf gleicher
0209Höhe stand ihr Vortrag des Adagio in Beethovenʼs B-dur-
0210Trio (op. 95), während uns die andern Sätze nicht immer
0211die volle Energie und den kräftigen Humor der Tondichtung
0212wiederzugeben schienen. Endlich ist noch die meisterhafte Aus-
0213führung eines Scarlattiʼschen Sonatensatzes und der be-
0214kannten E-dur-Variationen von Händel hervorzuheben.


0215Einen erhöhten Reiz gewann das dritte Concert Frau
0216Schumannʼs durch einige Gesangsvorträge des Herrn Wal-
0217ter
, welche das Auditorium entzückten.


0218Vergebens hatten wir uns gefreut, Frau Schumann ein
0219neues Clavierquintett von J. Brahms in Hellmesber-
0220gerʼs
letzter Quartettsoirée vortragen zu hören. Ohne daß es
0221irgend eine Aufklärung darüber erhalten hätte, wurde das
0222Publicum mit einer alten Sonate von Mozart (für Clavier
0223und Violine) für die versprochene Novität entschädigt. Wir
0224bedauern diese Aenderung um so lebhafter, als Frau Schu-
0225mann einen großen Werth darauf legte, das Brahmsʼsche
0226Quintett dem Wiener Publicum vorzuführen, und als von
0227unseren tüchtigen Clavierspielern wol keiner gerade für
0228Brahmsʼ Compositionen ein gleiches Verständniß mit
0229gleicher Liebe vereinigt. Warum das Quintett trotzdem weg-
0230blieb, sowie das als Ersatz vorgeschlagene A-dur-Quartett von
0231Brahms — wir wissen es nicht. So viel wissen wir aber und
0232geben es Herrn Hellmesberger zu beherzigen, daß das
0233Publicum auf das monatelang vorher veröffentlichte Programm
0234ein Recht hat. Es ist sehr schön, interessante Novitäten ins
0235Programm zu setzen, nur muß man sie auch wirklich spielen.
0236Abgesehen von dieser Reclamation, ist der achten Quartettsoirée
0237alles Rühmliche nachzusagen. Volkmannʼs G-moll-Quartett 
0238und Beethovenʼs B-Quartett op. 130 wurden ganz vorzüglich
0239ausgeführt, so daß der Beschluß des ganzen Cyklus kaum
0240glänzender sein konnte. Wenige Tage später konnte sich Herr
0241Hellmesberger auch an der Spitze des von ihm geleiteten
0242Conservatoriums dem Publicum in rühmlicher Weise
0243präsentiren. Die jungen Musiker, die Geiger vor Allem, hiel-
0244ten sich sehr wacker und ernteten ebenso rauschenden Beifall,
0245als ein junger vortrefflicher Clavierspieler, Herr J. Rubin-
0246stein
, dessen Vortrag des schwierigen ersten Clavierconcerts
0247von Liszt verdientes Aufsehen erregte.

Fußnoten
  • *)Als ein bekannter in aristokratischen Kreisen gefeierter Wie-
    ner Virtuose einmal interpellirt wurde, weßhalb er Schumannʼs
    Compositionen ganz ignorire, erwiderte der große Clavierpauker:
    „Warum soll ich in meinen Concerten Sachen von Schumann 
    spielen? Seine Frau spielt auch nichts von meinen Compo-
    sitionen.“