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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 539. Wien, Donnerstag den 1. März 1866

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Meyerbeer’s „Afrikanerin“. I.


0002Ed. H. Henri Murger, der humoristische Poet des
0003„Kunst-Zigeunerthums“ in Paris, führt uns in einem seiner
0004Gedichte an das Bett eines genußmüden Roué, der sein Te-
0005stament machen will. Es liege ihm nichts am Leben, versi-
0006chert er dictirend seinem Notar, nur Eines beklage er: „Je
0007suis de ceux, qui ne verront plus l’Africaine!“
0008Wir freuen uns, daß endlich der 27. Februar 1866 ähnliche
0009betrübende Scenen in Wien unmöglich gemacht hat. Die
0010Afrikanerin“ ist leibhaftig sammt Linienschiff, Giftbaum und
0011allem übrigen Zubehör im Hofoperntheater erschienen und
0012hat, wie vorauszusetzen, entschieden durchgeschlagen. Es war
0013ein colossaler Genuß, den wir an diesem Abend überstanden
0014haben, so colossal, daß wir ihn in gleicher Ausdehnung uns
0015kein zweitesmal verlangen. Oder ist es eine Kleinigkeit, von
0016halb sieben Uhr bis ein Viertel vor Elf in der drücken-
0017den Hitze eines vollgepfropften Theaters ununterbrochen der
0018rauschendsten Musik, den bewegtesten Scenen, dem blendendsten
0019Wechsel neuer Decorationen, Costüme und Aufzüge ungebeugt
0020Stand zu halten?


0021Von einem ästhetischen Aufnehmen und Genießen kann
0022man kaum mehr sprechen, wo es sich in erster Linie um die
0023Frage des „Aushaltens“ handelt, und deßhalb beeilen wir
0024uns, um eine ausgiebige Kürzung der „Afrikanerin“ dringend
0025zu bitten. Die Componisten der großen fünfactigen Opern
0026wüthen gegen ihr eigens Fleisch; trotz aller nachträglichen
0027Reductionen bewirken sie doch nur, daß das Publicum ent-
0028weder erst zum zweiten Act erscheint, wie in Paris, oder vor
0029dem fünften fortgeht, wie in Wien. Mitunter werden sogar
0030beide Mittel combinirt. Nun ist aber ein vorzeitiges Ermü-
0031den und Abstumpfen der Zuhörer in der „Afrikanerin“ von
0032ganz besonderem Nachtheil, weil gerade die beiden letzten Acte
0033dieser Oper die weitaus besten sind. Man wird sich zu einer
0034recht heroischen Operation der drei ersten Acte entschließen
0035müssen, wenn man den Eindruck der beiden letzten retten
0036will, und deßhalb entschließe man sich lieber rasch. Im ersten 
0037Act sind zahlreiche kleinere Striche möglich, im zweiten wür-
0038den wir ohneweiters das „Schlummerlied“ opfern, als einen
0039der schwächsten Momente der Partitur, sowie unserer sonst
0040so verdienstvollen „Selica“. Auch das darauffolgende See-
0041und Landkarten-Duett vertrüge ein verkleinertes Format. Der
0042dritte Act könnte mit dem Gebet „O grand saint Domini-
0043que“ beginnen, gleich zur Ballade Nelusco’s übergehen und
0044von dem Duett zwischen Vasco und Diego blos den Einlei-
0045tungs- und den Schlußsatz bringen. Im vierten Acte kann
0046kaum etwas wegbleiben, wol aber im fünften der sehr ge-
0047quälte Cis-moll-Satz des Frauen-Duetts. Durch diese Am-
0048putationen wäre die „Afrikanerin“ etwa um eine Stunde ge-
0049kürzt und ihre Lebenskraft um Jahre verlängert.


0050Vergegenwärtigen wir uns die Handlung der Oper in
0051ihren wesentlichsten Umrissen. Der Dichter (Scribe) knüpft
0052sie an die welthistorischen Entdeckungsfahrten der Portugiesen
0053längs der Küste von Afrika, welche, bereits im Anfang des
005415. Jahrhunderts begonnen, durch Bartolomeo Diaz 
0055und Vasco de Gama ihren höchsten Glanz erreichten.
00561486 kam Diaz an das südliche Vorgebirge von Afrika, das
0057er von seinen gefährlichen Stürmen das „stürmische Vorge-
0058birge“ nannte. 1495 rüstete König Emanuel der Große ein
0059neues Geschwader aus. Am 7. Juli 1497 fuhr Vasco de
0060Gama
mit drei kleinen Schiffen aus dem Hafen von Lissa-
0061bon; im November kam er um das stürmische Cap, dem er
0062im Vorgefühl der nahen Entdeckung Indiens den Namen
0063der „guten Hoffnung“ gab. Er segelte die Ostküste Afrikas
0064entlang, kam nach Melinda, wo er europäische Cultur, einen
0065asiatischen Menschenschlag und indische Schiffe fand. Von
0066hier führte ihn ein mohammedanischer Pilot über den indischen
0067Ocean nach Calecut auf der Küste von Malabar (Vorder-
0068indien), wo er im Mai 1498 seine Anker warf. Die Hand-
0069lung der Scribe’schen „Afrikanerin“ lehnt sich an diese Vor-
0070gänge und fällt in die Jahre 1497 und 1498. Bartolomeo
0071Diaz ist gescheitert, Vasco de Gama kehrt allein von der
0072Fahrt zurück und verlangt neue Unterstützung. Der königliche
0073Rath in Lissabon verhandelt über dieses Begehren; der erste
0074Act führt uns mitten in die feierliche Berathung. Vasco 
0075(Herr Walter) erzählt seine Erlebnisse und führt als le-
0076bendige Beweise zwei Sklaven, Selica (Fräulein Bettel-
0077heim) und Nelusco (Herr Beck), aus jenen unbekannten
0078Ländern vor. Durch die Intrigue seiner mächtigen Gegner,
0079des Senats-Präsidenten Don Pedro (Herr Hrabanek)
0080und des Admirals Diego (Herr Rokitansky), wird
0081Vasco mit seinen Plänen vom königlichen Rath zurückgewie-
0082sen. Don Diego haßt in ihm den bevorzugten Liebling von
0083Pedro’s schöner Tochter Ines (Fräulein Murska), um
0084deren Hand er selbst sich bewirbt. Der Groß-Inquisitor (Herr
0085Draxler) und die hohe Geistlichkeit schlagen sich aus or-
0086thodoxen Gründen mit Fanatismus auf Seite dieser Gegner:
0087weil Vasco behauptet, es gebe auch jenseits von Afrika Län-
0088der und Menschen, wird er von der Inquisition mit dem
0089Banne belegt und ins Gefängniß geworfen.


0090Der zweite Act spielt im Kerker. Vasco schlummert;
0091Selica, die ihn leidenschaftlich liebt, wacht bei ihm und ver-
0092hindert den Meuchelmord, den der wilde Nelusco an seinem
0093weißen Nebenbuhler begehen will. Da tritt Ines ein, von
0094Diego begleitet, und überbringt Vasco’s Begnadigung; sie
0095hat die Freiheit des Geliebten mit dem schwersten Opfer er-
0096kauft, durch ihre Vermälung mit Diego. Dieser hat sich der
0097Pläne Vasco’s bemächtigt und verkündigt triumphirend, daß
0098der König ihm drei Schiffe zu der Entdeckungsreise bewil-
0099ligt habe. Vasco bleibt verzweifelnd und allein zurück, nach-
0100dem er in voreiliger Großmuth Selica und Nelusco als
0101Sklaven an Ines verschenkt hat.


0102Der dritte Act spielt auf hoher See, in den Cajüten
0103und auf dem Verdeck von Diego’s Schiff. Es ist das letzte
0104von den drei Fahrzeugen, das ihm geblieben ist; der treulose
0105Nelusco, dessen Führerschaft Diego sich anvertraut hat, lenkt
0106es den Klippen der ihm bekannten Insel (Madagascar?) ent-
0107gegen. Vasco hat inzwischen ein Schiff auf eigene Hand
0108ausgerüstet und dem Admiral einen Vorsprung abgewonnen;
0109er eilt zu Diego, ihn vor dem unvermeidlichen Schiffbruch
0110zu warnen. Eben will Diego seinen großmüthigen Neben-
0111buhler zum Dank für dessen Warnung erschießen lassen, als
0112das Schiff krachend auf eine Klippe auffährt und zahllose
0113Indianer mit wildem Kriegsgeschrei den Bord erklimmen, die
0114ganze Besatzung theils niedermetzelnd, theils gefangen nehmend.
0115In Selica erkennen sie ihre Königin und tragen sie triumphi-
0116rend ans Land.

[2]


0117Im vierten Acte sehen wir die Eingeborenen der räthsel-
0118haften Insel ihrer jungen Königin huldigen. Vasco, der
0119einzige von den noch übriggebliebenen portugiesischen Män-
0120nern, soll geopfert werden; Selica rettet ihn vor dem bar-
0121barischen Fremdengesetz, indem sie sich als seine Gattin erklärt
0122und Nelusco zur Beschwörung dieser Angabe zwingt. Die
0123Königin will hierauf Vasco frei von dannen ziehen lassen,
0124er aber schwört ihr ewige Liebe und Treue und führt sie,
0125von Priestern und Bajadèren geleitet, zur Hochzeitsfeier,
0126während aus der Ferne die Stimme Ines’ und der portu-
0127giesischen Frauen ertönt, welche zum Opfertod geführt werden.


0128Im Anfang des fünften Actes stehen sich die beiden Neben-
0129buhlerinnen, Ines und Selica, gegenüber, in großmüthiger
0130Resignation wetteifernd. Ines, die im Garten eine heimliche
0131Zusammenkunft mit Vasco gehabt, kann es Selica nicht ver-
0132hehlen, daß dieser nur durch Pflicht und Dankbarkeit sich an
0133die Königin gefesselt fühle. Selica gibt großmüthig Ines 
0134und Vasco frei und läßt sie durch Nelusco nach dem portu-
0135giesischen Schiffe geleiten, das noch vor Anker liegt. Sie selbst
0136beschließt zu sterben, und begibt sich auf das Vorgebirge, wo
0137der Blüthenduft des Manzenillobaumes sein tödtliches Gift
0138aushaucht. Während am Horizont die Flagge von Vasco’s
0139absegelndem Schiff auftaucht, kehrt Nelusco zu Selica zurück,
0140zu spät, um sie zu retten. Er gibt sich den Tod zu ihren
0141Füßen.


0142Wer von dem Textbuch einer großen Oper Höheres ver-
0143langt, als die Geschicklichkeit musikalischer und decorativer
0144Gelegenheitsmacherei, der muß Scribe’s „Afrikanerin“ entschie-
0145den für ein mittelmäßiges Werk erklären. Gegenüber den hand-
0146greiflichen Mängeln und Schwächen dieses Librettos kommt
0147die Kritik höchstens in die Verlegenheit, wo anzufangen. Die
0148früheren Textbücher Meyerbeer’s trugen allerdings auch schwer
0149unter der Last unmotivirter äußerlicher Effecte und innerer
0150Widersprüche, aber es lag ihnen doch eine bestimmte leitende
0151Idee zu Grunde, sie arbeiteten, gleichviel mit welchen Mit-
0152teln, von einem Centrum zur Peripherie hin. In der „Afri-
0153kanerin“ wird augenscheinlich von einer bunten Peripherie aus
0154— der Schilderung exotischer Länder und Menschen — das
0155Centrum gesucht. Die Handlung hat keine zusammenhaltende
0156ideelle Einheit. Die Oper exponirt sich in großen historischen 
0157Verhältnissen; die Interessen des Staates, der Wissenschaft,
0158der Weltcultur stehen allein im Vordergrund und machen
0159sich gegen den Fanatismus der Unwissenheit und Ortho-
0160doxie geltend. Noch im zweiten und dritten Acte ist Vasco 
0161der kühne Seefahrer, wenngleich sein Heldenthum durch
0162jämmerliche Nebenumstände schon einen gemischten Eindruck
0163macht. Zwischen den drei ersten und den beiden letzten Acten
0164klafft aber in der dramatischen Entwicklung ein förmlicher
0165Riß. Die weltgeschichtlichen und nationalen Interessen sind
0166abgethan, wie die Portugiesen in Diego’s Schiff, und die
0167Handlung verschrumpft zu einer rein individuellen Liebes- und
0168Großmuthsgeschichte. Den Charakteren fehlt Energie, logische
0169und sittliche Wahrheit. Der historische Vasco de Gama ist
0170zum gewöhnlichen Opernhelden zugerichtet und benimmt sich
0171selbst als solcher ungewöhnlich gewöhnlich. Er wird weniger
0172zwischen zwei Welttheilen als zwischen zwei Frauen hin- und
0173hergeworfen, von denen er stets diejenige liebt, mit welcher er
0174sich gerade allein befindet. Schon im Kerker behandelt er
0175Selica mit einer leidenschaftlich erhitzten Dankbarkeit —
0176„Du bleibst bei mir in Leid und Freud’, bald wird
0177uns lachen die glücklichste Zeit,“ ruft er aus, Selica 
0178ans Herz drückend. Zwei Minuten später verschenkt der
0179Edle seine Selica ohneweiters und unaufgefordert als
0180Sklavin an Ines. Im dritten Acte betritt er tollkühn
0181das Schiff seines Feindes, nur um die blauäugige Ines 
0182zu retten. Der vierte gehört wieder den schwarzen Augen.
0183Da taumelt Vasco förmlich in Liebesgluth für Selica. „Nur
0184mein! Ewiglich! Vor meinem Gott, vor deinem Gott!“ und
0185was der schönen Dinge mehr sind. Am selben Tage fährt er
0186sans adieux mit Ines ab und überläßt Selica ihrem Schick-
0187sal. Edler und verständiger ist jedenfalls die zweite Haupt-
0188person, Selica, die aber erst am Schluß handelnd eingreift,
0189eine thränenreiche Personification passiver Liebe und Groß-
0190muth. Dieser Charakter stürzte den Dichter und noch mehr
0191den Componisten in einen andern ungelösten Widerspruch.
0192Die „Afrikanerin“ soll in ihrem ganzen Wesen als Gegensatz
0193zu den Europäern erscheinen, ein ungebändigtes Naturkind,
0194naiv, großherzig, exotisch. In der Ausführung reducirt sich
0195diese Charakteristik beinahe auf die braune Schminke Selica’s
0196und den wallenden Federschmuck; was sie thut, spricht und singt, 
0197ist im Grunde so europäisch als möglich, so sentimental und
0198modern wie Fides, Bertha, Valentine und ihre andern Schwestern
0199aus der Rue Lepelletier. Schärfer individualisirt ist von allen
0200Personen nur Nelusco, treu und zartfühlend gegen seine
0201Herrin, tückisch und grausam gegen alle Uebrigen, eine Art
0202tätowirter Marcell. An die Charakteristik des alten Huge-
0203notten reicht aber Nelusco nicht entfernt hinan, er bleibt
0204vielmehr bei allem Ansatz zur Originalität ein Zwitter, in
0205welchem die Elemente afrikanischer Bestialität und modern
0206hinschmelzender Empfindsamkeit unvermittelt neben einander
0207liegen und wie zwei verschiedene Instrumente von demselben
0208Spieler willkürlich gewechselt werden. Ines ist ein ganz all-
0209gemein gehaltener, passiver Charakter rein musikalischer Natur.
0210Was die Uebrigen betrifft, so sind sie an ihren rechten Platz
0211gestellt, aber mehr ausfüllende als selbstständige Figuren, die
0212im Verlauf der ersten drei Acte sämmtlich aus dem Stück
0213verschwinden.


0214Allen Charakteren, wie der ganzen Handlung sieht man
0215auf den ersten Blick an, wie der Dichter sie keineswegs aus
0216einem lebendigen Keime wahr und einfach entwickeln wollte,
0217sondern nur darauf bedacht war, möglichst viele contrastirende
0218Situationen, aufregende Momente und spannende, raffinirte
0219Details aneinanderzureihen. Was bleibt also an der gan-
0220zen dramatischen Dichtung? Eine Anzahl effectvoller, bunt
0221wechselnder Scenen, geschickt verbunden und hübsch versifi-
0222cirt*) — also das geringste Maß dessen, was wir überhaupt
0238von erprobten Bühnentalenten fordern können und müssen.

Fußnoten
  • *)Manche Stellen des Originals haben mehr Wärme und
    Wohlklang, als man gewöhnlich in Operntexten antrifft. Dies gilt
    namentlich von Selica’s letzter Scene, der wir folgende Verse ent-
    nehmen:
    „O temple magnifique, o dôme du feuillage, /
    Qui balancez au loin vos funèbres rameaux, /
    Je viens chez vous, je viens cherche l’orage /
    Le calme, le sommeil et l’oubli de mes maux, — /
    Car votre ombre éternelle est l’ombre des tombeaux. /
    La haine m’ abandonne; mon coeur est désarmé. /
    Adieu, je te pardonne! Adieu, mon bien-aimé!“ /
    Schade, daß die Schlußworte des unsichtbaren Chors in der
    deutschen Uebersetzung gar so zauberflötend davon abstechen:
    „In der Liebe ew’gem Reich /
    Sind sich Alle, Alle gleich!“ — /