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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 592. Wien, Dienstag den 24. April 1866

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Deutsche Oper.


0002Ed. H. Nichts Besseres vermöchten wir unseren deut-
0003schen Sängern für so manchen uns bereiteten Genuß zu wün-
0004schen, als daß keine der italienischen Vorstellungen an ihnen
0005ungehört und ungenützt vorübergehen möge. Wer es bislang
0006nicht gewußt oder nicht geglaubt, was den deutschen Sängern
0007fehlt, dem wird es durch die sich ununterbrochen aufdrängende
0008Vergleichung mit den Italienern jetzt zur Klarheit gediehen
0009sein: die Herrschaft über die Gesangstechnik. Nicht an ein-
0010zelne Künstler des Hofoperntheaters denken wir dabei, ja nicht
0011einmal an dieses, andere Bühnen noch weit überragende In-
0012stitut selbst, sondern an die deutschen Sänger überhaupt. Was
0013für prachtvolle Stimmen finden wir bei ihnen, welche Schätze
0014an musikalischen und dramatischen Anlagen — und dennoch,
0015welch mangelhafte, dilettantische Ausbildung dieser Kunstmit-
0016tel. An allgemeiner wissenschaftlicher Bildung dürften unsere
0017Landsleute den französischen und italienischen Sängern größten-
0018theils überlegen sein, in der für den Künstler unentbehrlichsten, der
0019technischen, stehen sie weit hinter ihnen zurück. Die italieni-
0020schen Künstler treiben das Singen als eine Kunst, eine schwie-
0021rige, ernste Kunst, die sorgsam erlernt sein will; die deutschen
0022begnügen sich meist mit der Stimme, dem Talent, der Rou-
0023tine und einer vornehmen Abneigung gegen Gesangsstudien.
0024Die technische Ausbildung des Materials — nicht das Letzte,
0025aber das Erste und Unentbehrlichste in aller Kunst — liegt in
0026dem ernsten Willen eines Jeden; deßhalb soll die Kritik an
0027einem so auffallenden Beispiel wie unsere italienische Oper
0028nicht stillschweigend vorübergehen. Wir zum mindesten glau-
0029ben mit solchem Fingerzeig eine Pflicht zu erfüllen, wohl wis-
0030send, daß er uns keine Rosen tragen wird.


0031Das Lob der Gewissenhaftigkeit und ernsten Berufstreue, 
0032das den Deutschen allgemein gespendet wird, erleidet in Be-
0033zug auf die deutschen Bühnenkünstler einige Einschränkung.
0034„Ich kenne keine fremde Bühne, welche an sorgfältiger Vor-
0035bereitung des Kunstmaterials unsere deutsche Bühne nicht
0036überträfe,“ sagt Laube in seinem trefflichen Essay über
0037Anschütz. Der Ausspruch dieses erfahrenen Kenners
0038(dessen dramaturgische Perlen leider nur dann auftauchen,
0039wenn das Burgtheater einen großen Künstler verliert), ist
0040durch seine Collegen Devrient, Gutzkow etc. an mehr als
0041Einem Orte bekräftigt. Welcher deutsche Schauspieler erschrickt
0042nicht, wenn er liest, daß von einem Conversationsstück, wie
0043Mademoiselle de Belle-Isle“ im Théâtre Français seiner-
0044zeit 52 Proben gemacht wurden, und selbst die kleinen
0045Vaudevilles auf den Boulevards nie unter sechzehn bis zwanzig
0046Proben aufgeführt werden? Wie vielen deutschen Schauspie-
0047lern dürfte man zumuthen, zwanzig- und dreißigmal zu pro-
0048biren, wie man einen Brief zu erbrechen, sich aufs Sofa zu
0049legen, grüßend in einen Salon zu treten hat? Und doch
0050mußte, trotz der natürlichen Geschicklichkeit, welche hierin die
0051Franzosen voraus haben, jeder ihrer bedeutenden Künstler an
0052der Aneignung solcher Details, also am Handwerk, gewissen-
0053haft arbeiten. Ein weit größerer Abstand noch, als zwischen
0054deutschen und französischen Schauspielern, besteht in diesem
0055Punkte zwischen den Sängern der deutschen und der italienischen
0056Bühne. Wir möchten hier lieber das Publicum zur eigenen
0057Beobachtung einladen, als selbst sprechen. Man höre heute
0058eine italienische Vorstellung und morgen eine deutsche am
0059Hofoperntheater. Unsere italienischen Gäste glänzen durch voll-
0060endete Bildung des Materials bei keineswegs imposanten
0061Stimmen; die deutschen durch Stimmen voll Kraft und Fülle,
0062die jedoch ob ihrer mangelhaften Technik nicht die Hälfte der
0063Wirkung erreichen, welche sie bei gleicher Pflege und Ausdauer
0064erreichen könnten. Bei den Italienern größte Sicherheit und
0065Gleichmäßigkeit die ganze Rolle hindurch, bei den Deutschen 
0066ein ungleicher Wechsel glänzender und mittelmäßiger Momente,
0067Beides mit einem leichten Anflug von Zufälligkeit. Dort
0068bejahrte Tenoristen, deren Stimme durch sorgsame Pflege
0069den schönsten Wohllaut bewahrt hat, hier junge Sänger mit
0070vorzeitig brüchigem, unsicheren Organ. Bei Franzosen und
0071Italienern Alles gefeilt, in sich fertig und wirksam, bei den
0072Deutschen das Meiste in kühnem Sichhineinstürzen bald er-
0073reicht, bald verfehlt. Mit diesen allgemeinen Bemerkungen
0074wollen wir natürlich weder rühmliche Ausnahmen leug-
0075nen, noch den Sängern allein die Schuld an diesem
0076weithin herrschenden Zustande aufbürden. Das deutsche
0077Publicum macht leider an die Gesangskunst seiner Opern-
0078sänger, auch der kostspieligsten, geringe Ansprüche und erläßt
0079diesen die jahrelangen mühevollen Studien, die es von jedem
0080erträglichen Instrumental-Virtuosen fordert. So haben wir
0081einerseits das Publicum als Mitschuldigen. Andererseits ist
0082die Vernachlässigung technischer Meisterschaft ein Charakter-
0083zug, der sich analog auch in anderen Gebieten deutscher
0084Kunst äußert, und manchmal unsere genialsten Erfinder und
0085Denker weit hinter dem Einflusse zurückbleiben läßt, welcher
0086ihren Ideen gebührt, und den ihre französischen, italienischen
0087englischen Collegen gerade durch technische Meisterschaft so
0088oft erringen. Unter den gefeierten deutschen Malern soll es
0089welche geben, die nicht eine Hand correct zeichnen können.
0090„Es gibt Maler und Malenkönner,“ erwiderte einmal
0091gereizt einer der geistreichsten von ihnen, „ich bin Maler.“
0092Wir glauben, man solle Beides sein. In der Oper gibt es
0093Sänger und Singenkönner, — Letztere sind selten Deutsche.


0094Verlassen wir für heute dies Thema, um dem erfolgrei-
0095chen Gastspiele Fräulein Stehleʼs einige Worte zu widmen.
0096Was wir im verflossenen Jahre an dieser hochbegabten Sän-
0097gerin Vorzügliches kennen gelernt und gerühmt haben, er-
0098freute uns auch diesmal wieder: ein jugendfrisches, kräftiges
0099Organ, deutlichste Aussprache, Sinnigkeit und Leidenschaft, [2]
0100endlich ein intensives dramatisches Talent. Gewiß eine Ver-
0101einigung von Gaben, die für sich schon äußerst werthvoll
0102und an einer ganz neu auftauchenden Erscheinung von bei-
0103nahe blendender Wirkung ist. Dieser Anerkennung mußten wir
0104leider im vorigen Jahre jedesmal einiges Bedauern über die
0105lückenhafte, naturalistische Gesangsbildung Fräulein Stehleʼs 
0106beimischen. Wir konnten nach ihren effectvollsten Rollen nicht ver-
0107schweigen, daß hier die Gesangskunst nicht auf der Höhe des Talentes
0108stehe. Die schwere, dumpfe Tonbildung, der Mangel an
0109Klangschattirungen, die Ungelenkheit der Coloratur, das
0110Hinüberziehen der Intervalle mittelst falscher Vorschläge, die
0111Gewaltsamkeit der hohen Töne — alles das haben wir in
0112Fräulein Stehleʼs Gesang nach Jahr und Tag unverändert
0113wiedergefunden. Die Hoffnung, die wir am Schluß ihres
0114letzten Gastspieles aussprachen: es möge uns die reichbegabte
0115Künstlerin bald als Meisterin im Gesang wiederkehren, hat
0116sich bis jetzt nicht erfüllt. Ja, ihre Senta (eine neue
0117Partie) stand als Gesangsleistung sogar entschieden unter je-
0118der ihrer vorjährigen Rollen. Hier wurde das seufzende
0119Hinüberschleifen der Töne, verbunden mit jenen nachdrückli-
0120chen Accenten, welche Fräulein Stehle in gefühlvollen Stel-
0121len liebt, manchmal zur förmlichen Wehklage. In der Bal-
0122lade vom „fliegenden Holländer“ (Fräulein Stehle sang
0123sie, um für das G bequem Athem zu schöpfen, thatsächlich
0124im Sieben- statt im Sechsachteltact) mißlang die einfache
0125Verbindung der drei Noten F, G, F im Refrain jedesmal,
0126in dem großen Duett mißlang das hohe H jedesmal. Die
0127Es-dur-Romanze des Pagen in „Figaroʼs Hochzeit“ zeigte
0128denselben Mangel an ruhiger, correcter Tonverbindung wie
0129im vorigen Jahre. Wir sprechen hier absichtlich gar nicht
0130vom eigentlichen Coloratur- und Bravourgesang, weit enfernt,
0131von einer deutschen „dramatischen Sängerin“ italienische Vir-
0132tuosität zu erwarten. Warum jedoch eine Sängerin von
0133Stimme, Gehör und musikalischer Bildung nicht sollte eine 
0134viertactige einfache Melodie ebenso correct vortragen können,
0135wie unsere Italiener, ist nicht einzusehen. Wie auffallend
0136stachen in dem kleinen Quintett aus „Così fan tutte“ (im
0137Mozart-Concert) die wenigen Noten Calzolariʼs und Everar-
0138diʼs
von der Primstimme Fräulein Stehleʼs ab! Diese
0139Sänger und „Singenkönner“ sind eben nicht verloren, so-
0140bald man ihnen Spiel, Costüm und leidenschaftliche Effecte
0141nimmt. In Fräulein Stehleʼs Leistungen hingegen muß oft
0142die Leidenschaftlichkeit des Vortrags, die materielle Schönheit
0143der Stimme, das geistreiche Spiel über die Mängel des Ge-
0144sanges täuschen; daß diese Kräfte in Rollen wie Selica,
0145Margarethe, Senta, mitunter schon zu großen Wirkungen
0146hinreichen können, räumen wir ebenso gerne ein, als daß
0147Fräulein Stehle diese Wirkungen jedesmal in durchschlagen-
0148der Weise wirklich erzielt hat.


0149Das glänzende Darstellungstalent der Künstlerin haben
0150wir im vorigen Jahre rühmend hervorgehoben, doch nicht
0151ohne die freundschaftliche Warnung, Fräulein Stehle möge sich
0152vor der Häufung und Ausklügelung mimischer „Intentionen“ und
0153vor dem Fehler des Zuvielspielens hüten. Daß diese Besorg-
0154niß nicht ganz ungegründet war, zeigten diesmal Gretchenʼs
0155Schluchzen in der Domscene, die lange, stumme Bravour-
0156mimik vor dem Eintritt des Holländers, die realistischen
0157Uebertreibungen des Pagen Cherubim und ähnliche geistreiche,
0158aber übertriebene Effecte, die wir Dawisonerien nennen möch-
0159ten. Es gehört unstreitig viel Talent dazu, um derlei machen
0160zu können, aber auch schon ein bedenklich künstelndes Talent,
0161um sie wirklich zu machen. Daß solche Details zum großen
0162Theil auf dem Wege der Reflexion nachträglich hineingezeich-
0163net sind, glauben wir unter Anderm aus der „Afrikanerin“
0164zu entnehmen, welche Fräulein Stehle erst ein einzigesmal (in
0165Mannheim) gespielt hat und von allen ihren Rollen am ein-
0166fachsten und natürlichsten darstellt. Die Selica, dem Stimm-
0167umfang Fräulein Stehleʼs wohl anpassend, ist eine sehr verdienst-
0168liche Leistung voll schöner Effecte und ihr Erfolg um so gewichti-
0169ger, als jede Nachfolgerin der Bettelheim hier einen schwe-
0170ren Stand findet. Die Rolle sagt der natürlichen Stimmlage
0171Fräulein Bettelheimʼs durchaus nicht zu, findet aber in der wun-
0172derbar charakteristischen Persönlichkeit dieser Sängerin eine
0173unschätzbare Kraft, während man nur schwer an die afrika-
0174nische Herkunft Fräulein Stehleʼs glauben kann. Was ihrer
0175Selica noch fehlt, ist die fremdartig-dämonische Färbung;
0176das gefühlvolle deutsche „Gretchen“ blickte durch das (über-
0177dies allzu lichte) Braun der Schminke deutlich hervor. Bedeu-
0178tender und effectvoller war die Leistung jedenfalls, als die
0179kurz vorhergegangene der Frau Kainz-Prause, deren be-
0180neidenswerth schöne Stimme den erkältenden Eindruck eines
0181alltäglichen Spieles und eines phlegmatischen, in fortwähren-
0182den Ritardandos ausruhenden Vortrages nicht beseitigen
0183konnte.*)


0187Wir hoffen, Fräulein Stehle und ihre einsichtsvollen 
0188Freunde werden unsere Bemerkungen nicht übelnehmen. Zu
0189innig sind wir von ihrem großen Talent und künstlerischen
0190Ernst überzeugt, um nicht zu glauben, daß Fräulein Stehle 
0191noch weiteren Fortschreitens fähig sei und dasselbe redlich be-
0192absichtige. Gratuliren wir der jungen Sängerin, daß sie noch
0193kein fait accompli ist! Vollständigkeitshalber sei zum Schluß
0194noch constatirt, daß Fräulein Stehle in jeder ihrer Rollen
0195enthusiastischen Beifall erntete und sehr oft gerufen wurde.
0196Ja, es fanden sich meistens sogar einige ästhetische Barbaren,
0197welche ihr mitten in einer ergreifenden Scene ein Ungeheuer
0198von Kranz oder Blumenstrauß auf die Bühne schleuderten.
0199Derlei blühende Halbmenschen würden wir ohne Gnade aufs
0200Theater führen lassen und im Zwischenacte dem versammel-
0201ten Publicum zeigen.

Fußnoten
  • *)In der gegenwärtigen Besetzung der „Afrikanerin“ ist die
    Leistung Fräulein Rabatinskyʼs (Ines) mit aufmunterndstem
    Lobe zu erwähnen.