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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 721 Wien, Samstag den 1. September 1866

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Waffenruhe am Clavier. II.

Abbé Liszt. Abbé Vogler.


0003Ed. H. Wir hatten diesmal nichts Neues zu vier Hän-
0004den, sondern wechselten einander einzeln am Clavier ab: ein
0005Spieler, ein Hörer. Mehrere Clavier-Compositionen aus
0006Liszt’s neuester geistlicher Periode erregten vorzugsweise unser
0007Interesse; kann doch Niemand, der je mit dem merkwürdigen
0008Mann verkehrte, selbst dem nachwirkenden Zauber seiner
0009Persönlichkeit sich entwinden. Und eben diese Persönlichkeit
0010beschäftigte uns auch heute lebhafter als deren musikalische
0011Spenden.


0012Die Hefte durchblätternd, erinnerten wir uns eines Brie-
0013fes von Alexander v. Humboldt an Varnhagen, worin
0014Ersterer ungefähr ausspricht, er sei alt genug geworden, um
0015selbst über das Ungereimteste nicht mehr zu erstaunen. „Nur,“
0016so schließt der Brief, „nur der ungarische Ehrenmönch bleibt
0017mir räthselhaft.“ Jene von Humboldt angespielte Ehrenauf-
0018nahme Liszt’s in den Status eines ungarischen Klosters,
0019das sich ihm äußerst gastfrei erwiesen hatte, war nicht viel
0020mehr als ein Act der Höflichkeit von beiden Seiten, ohne
0021bindende Consequenzen. Warum sollte der phantasievolle Me-
0022tamorphosenmann, der in Jena im deutschen Studenten-
0023wamms, in Pest im verschnürten Magyarenrock mit Säbel
0024und Sporen, anderswo wieder anders auftrat, nicht auch
0025einmal den poetischen Contrast des Klosterhabits empfinden
0026und sich für einen Tag zum Capuziner träumen? Als jedoch
0027Liszt vor etwa einem Jahre in Rom wirklich die Weihen
0028empfing, machte es mit Recht einige Sensation, denn nach
0029seinem Lebenslauf und Temperament schien der berühmte 
0030Pianist nicht eben vorzugsweise zum Geistlichen prädestinirt.
0031Indeß — wer vermöchte in das Innerste eines Menschen-
0032herzens zu blicken! Wer wäre vermessen genug, über einen
0033Schritt zu urtheilen, der nur über einen Abgrund von Ge-
0034müthskämpfen hinweg denkbar ist und verleugnungsstark ein
0035Leben in zwei Hälften bricht?


0036Wir hatten ernstlich versucht, uns diesen Schritt aus
0037Liszt’s Wesen psychologisch zu erklären, und gelangten dahin,
0038ihn auffallend zwar, aber nicht unbegreiflich zu finden. Wäre
0039es denn wirklich so unnatürlich, daß ein leicht erregbarer,
0040phantastischer Mensch, der, seit seiner Kindheit von einem
0041Triumph zum andern geworfen, in einem wildbewegten Leben
0042alle Genüsse, Ehren und Aufregungen bis zum Uebermaß
0043durchgekostet hat, sich in seinem 55. Jahre schmerzlich über-
0044sättigt und unbefriedigt fühle? Daß er von dem rauschend-
0045sten Weltgenuß in den Gegensatz einer ascetischen Frömmig-
0046keit verfalle und den Blick von dieser ihm nur zu bekannten
0047Welt nach einer andern, ungekannten wende? Wir glaubten
0048in der That, Liszt sehne sich, mit der weltlichen Tracht auch
0049alles weltliche Trachten abzulegen, und werde, unbekümmert um
0050den Schmerzenschrei der feinen Gesellschaft, fortan in frommer
0051Beschaulichkeit ausruhen. Was geschah, war gerade das Um-
0052gekehrte. Liszt, der sich vor seiner Priesterweihe eine zeitlang
0053hinter den Sixtinischen Weihrauchwolken verborgen gehalten,
0054tritt rasch und munter in die sündhafte Welt heraus. Er eilt
0055von Rom nach Pest als König eines ihm vorbereiteten Mu-
0056sikfestes, dirigirt dort im geistlichen Kleid seine „Heilige Elisa-
0057beth“ und entzündet durch sein Clavierspiel das magyarische
0058Publicum. Hierauf stürzt er sich in den künstlerischen Stru-
0059del von Paris, bringt seine Festmesse mit großem Pomp zur
0060Aufführung und soll dort sogar — wie witzig ist das Leben!
0061— durch sein heiliges Clavierspiel ein Frauenzimmer zur
0062Tugend bekehrt haben.


0063Das Weltkind Liszt spielte wunderbar, der Abbé spielt
0064Wunder.


0065Liszt hat seit seiner Priesterweihe ziemlich viel Clavier-
0066stücke publicirt: Transscriptionen aus Mozart’s Requiem 
0067und aus Pergolese’s geistlichen Melodien, eine Hymne an
0068den Papst, endlich zwei „Legenden“ für Clavier, die uns be-
0069sonders charakteristisch erscheinen. Sie behandeln ein Wunder
0070des heiligen Franz von Assisi („La prédication aux
0071oiseaux“) und eines vom heiligen Franz de Paula („St.
0072François de Paule marchant sur les flots“). Wie uns
0073das französische Vorwort ausführlich erzählt, traf Franz von
0074Assisi einst auf der Heerstraße eine Menge Vögel und hielt
0075ihnen eine Predigt. Die Vögel hörten aufmerksam zu und
0076rührten sich nicht vom Flecke, obgleich der Heilige, unter
0077ihnen wandelnd, sie mit dem Talar streifte; erst nachdem er
0078ihnen den Segen ertheilt, flogen die Vögel genau in Kreuzes-
0079form nach den vier Weltgegenden davon.


0080Dem heiligen Franz de Paula versagten einst in Mes-
0081sina einige Schiffer die Aufnahme in ihr Boot; der Heilige
0082achtete nicht darauf und ging trockenen Fußes über das
0083Meer. Zur ersten Legende bemerkt Liszt gar bescheiden, daß
0084seine geringe Geschicklichkeit und vielleicht die engen Grenzen
0085des musikalischen Ausdruckes im Clavier ihn genöthigt hät-
0086ten, hinter der wunderbaren Ueberfülle der Vogelpredigt sehr
0087zurückzubleiben, weßhalb er „le glorieux pauvret du
0088Christ“ um Vergebung anfleht.


0089Sieht man nach alledem die beiden Musikstücke selbst
0090an, so findet man zwei gewöhnliche brillante Concert-Etüden,
0091deren eine als musikalisches Motiv das Vogelgezwitscher, die
0092andere das Meeresbrausen nachahmend fortspinnt. Die Stücke
0093sind dankbar für den Virtuosen und nicht ohne pikantes
0094Dissonanzengewürz; natürlich sorgt die Vogelpredigt für die
0095Bravour der rechten Hand, der Wogenspaziergang für die [2]
0096der linken. Diese Compositionen könnten natürlich ebensogut
0097„Les amours des oiseaux“ und „Souvenir des bains
0098d’Ostende“ heißen, und hätten vor zehn Jahren wahrschein-
0099lich auch so geheißen. Vielleicht führt uns Liszt nach und
0100nach auch die übrigen Heiligen in derselben gefälligen Ma-
0101nier vor. Vorläufig müssen wir bekennen, daß diese Appreti-
0102rung des Heiligenscheins für den Concertsaal, diese getriller-
0103ten und gehämmerten Mirakel uns einen unsäglich kindischen
0104Eindruck machen.


0105Wir waren, wie gesagt, wirklich der Meinung, der Abbé
0106Liszt werde seine Weltentsagung ernsthaft nehmen und den
0107musikalischen Salonbestrebungen von ganzem Herzen Adieu
0108sagen. Haben wir hierin geirrt, so war noch ein zweiter Weg
0109denkbar: die vollständige Trennung des Künstlers vom Geist-
0110lichen. Manche seiner Freunde äußerten wiederholt die Mei-
0111nung, Liszt habe durch die neue Standeswahl hauptsächlich
0112eine vollständige materielle Unabhängigkeit erreichen wollen.
0113So wenig wir dieser Motivirung beifallen möchten, welche
0114zu Liszt’s allezeit nobler, uneigennütziger Denkart nicht wohl
0115stimmt, so wenig hätten wir, falls sie wahr ist, ein Recht,
0116ohneweiters darüber abzuurtheilen. Mannichfache, uns unbe-
0117kannte, vielleicht sehr erhebliche Umstände mögen hier zusam-
0118mengewirkt haben, und Umstände sind, nach Rahel, die
0119Minister der Götter. In diesem zweiten Fall (daß nämlich
0120nicht Glaubensbedürfniß, sondern triftige äußere Motive
0121Liszt dem geistlichen Stande zuführten) wäre es uns nur
0122natürlich erschienen, wenn er als Componist der Kunst-
0123welt gegenüber seine Geistlichkeit gar nicht betont, sondern
0124als eine rein innere, häusliche Angelegenheit ignorirt hätte.
0125Er wäre für den Vatican der neue Abbé, für die Musik-
0126welt der alte Liszt geblieben, derselbe Liszt, welcher mit sei-
0127nen Symphonien Shakspeare, Goethe und Byron, mit seinen
0128Clavierstücken lediglich die moderne Virtuosität gefeiert hat. 
0129Wir hätten ihm den Muth zugetraut, seine Musik unton-
0130surirt zu lassen. Gerade diese Verquickung geistlicher Titel mit
0131weltlichem Inhalt, dieses Abbé-Spielen und Liszt-Sein, oder
0132Liszt-Spielen und Abbé-Sein, ist es, was uns an der neuesten
0133Phase des ausgezeichneten Mannes nicht recht behagen will.
0134Die Salon-Bigotterie der „Legenden", zusammengehalten mit
0135der Hast des Componisten, sich dem ungarischen, französischen,
0136deutschen Publicum im Abbémäntelchen vorzuführen und so mit
0137einem neuen Reiz ausgestattet, die langgemiedene Oeffentlich-
0138keit wieder aufzusuchen, mußte die Vertheidiger seines wahren
0139geistlichen Berufes befremden. Wenn seine „Heilige Elisabeth“
0140ein aus frommer Begeisterung entsprossenes, zur Ehre Gottes
0141geschaffenes Werk ist, warum sträubt sich Liszt gegen die von
0142unseren Musikfreunden so sehr gewünschte Aufführung der-
0143selben in Wien? Dem Künstler bieten doch die ausführenden
0144Kräfte und die musikalische Bildung Wiens zum mindesten
0145nicht geringere Garantien als Pest; und dem frommen Die-
0146ner der Kirche kann unmöglich das Herz daran hängen, ob
0147der äußere Erfolg des Werkes überall von vornherein so ge-
0148sichert sei, wie er es in Ungarn war. So vereinigt sich nicht
0149Weniges zu dem Anscheine, als pfropfe Liszt weltliche Rei-
0150ser auf geistlichen Stamm.


0151In dieser seltsamen Stellung und Thätigkeit hat Abbé
0152Liszt in der Musikgeschichte einen Vorgänger von frappanter
0153Aehnlichkeit: den berühmten Abbé Vogler. Es nimmt uns
0154Wunder, diese Doppelgängerschaft noch nirgends hervorgeho-
0155ben zu finden. Abbé Vogler (geboren 1749, † 1814) war
0156ein Mann von unbestreitbarer Genialität und glänzender
0157Vielseitigkeit; eine Erscheinung, mit der verglichen zu werden
0158Liszt sicher nicht zur Unehre gereicht. Berühmt als Schrift-
0159steller und Componist, als Clavier- und Orgelvirtuose, spielte
0160Vogler durch sein geistreiches, originelles Wesen eine glän-
0161zende Rolle in der Gesellschaft und übte auf seine Schüler 
0162und Verehrer eine Art Zauber. In der schildernden,
0163poetisirenden Tendenz seiner Musik deutet er gewissermaßen
0164auf die Zukunftsmusik; er spielte auf der Orgel den „Tod
0165Herzog Leopold’s in den Fluthen“, die „Belagerung von
0166Jericho“ u. dgl. Seinen Verehrern war Vogler geradezu ein
0167Wundermann, seinen Gegnern ein geistreicher Charlatan.
0168Vogler’s Erfolge in Wien in den Jahren 1803 und 1804 
0169repräsentirten für jene Zeit ungefähr den Liszt-Enthusiasmus
0170unserer Tage. Da dirigirte er heute ein Oratorium im Wie-
0171dener Theater, gab morgen ein Orgelconcert und celebrirte
0172am dritten Tage mit größtem Pomp ein Hochamt in der St.
0173Peterskirche, während eine Messe seiner Composition vom
0174Chor herabbrauste. Der eitle Abbé war stets mit einem breit-
0175schößigen schwarzen Frack, schwarz-atlassenen Beinkleidern, ro-
0176then Strümpfen und Schuhen mit gelben Schnallen ange-
0177than. Das Großkreuz des Ludwig-Ordens trug er links auf
0178der Brust und rechts hinten das schwarzseidene Abbémäntel-
0179chen. Ein gewisses Maß von Charlatanerie konnte Abbé
0180Vogler in keinem seiner Fächer entbehren, namentlich wußte
0181er seinen künstlerischen Nimbus trefflich durch den geistlichen
0182zu erhöhen.


0183Forkel’s Almanach erzählt, wie Vogler, „wenn er bei
0184Jemandem spielt, zuvor sein Betbuch hinschickt, und nach-
0185dem er eine Weile dagewesen ist, plötzlich aufsteht, in ein an-
0186deres Zimmer geht, wo er keine Seele neben sich leidet, und
0187da aus seinem Buche betet“.


0188Zu solch eitlem Comödienspiel wird Liszt — unseres
0189Erachtens der aufrichtigere und bedeutendere Künstler — ganz
0190gewiß nie herabsinken. Aber die äußere Aehnlichkeit und die
0191innere Verwandtschaft zwischen diesen zwei merveilleusen Na-
0192turen ist unverkennbar, und so leisten uns beide Abbés glei-
0193cherweise den Dienst, einer den anderen zu erklären.