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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 746. Wien, Donnerstag den 27. September 1866

[1]

Blaubart.“

Komische Oper in 3 Acten und 4 Bildern von J. Offenbach.


0003Ed. H. Ueber Offenbach’s „Blaubart“, der kürzlich im
0004Theater a. d. Wien zum erstenmale in Scene ging, hat ein
0005Mitarbeiter dieser Zeitung bereits sein Urtheil nach der Ge-
0006neralprobe abgegeben. Es lautete ungefähr dahin, daß der
0007Text schlecht und die Musik nicht gut sei. Auch in dieser
0008Kürze läßt der Ausspruch an Rundung und Vollständigkeit
0009wenig zu wünschen übrig, und wir würden uns der Mühe
0010einer nachträglichen Ausführung desselben überhoben sehen,
0011wenn nicht der Umstand, daß gerade Offenbach solchen
0012Sumpfweg wandelt, ein Wort des Bedauerns verdiente.
0013Offenbach hat bekanntlich vor zehn Jahren in einem kleinen
0014Local der Champs Elysées seine Carrière begonnen, mit ein-
0015actigen Singspielen, die von drei bis vier Darstellern gege-
0016ben, von einem winzigen Orchester begleitet und von allem
0017scenischen Prunk entblößt waren. Die vom Ausstellungspalast
0018heimkehrenden Spaziergänger besuchten das jugendliche Thea-
0019ter anfangs als eine Curiosität, fühlten sich aber bald von
0020den pikanten, einschmeichelnden Melodien, von der graciösen
0021Heiterkeit dieser anspruchslosen Operetten immer mehr ge-
0022fesselt. Der Name des bishin unbekannten Componisten ver-
0023breitete sich schnell, durch kein anderes Hilfsmittel als sein
0024eigenes Verdienst, und nach wenigen Jahren waren die Offen-
0025bach’schen „Bouffes“ erklärte Lieblinge der Theaterwelt. Das
0026deutsche wie das französische Publicum ergötzte sich gleich-
0027mäßig an den anmuthigen Genrebildchen: „Die Hochzeit bei
0028Laternenschein“, „Das Mädchen von Elifonzo“, „Fortunio’s
0029Lied“, „Herr und Madame Dénis“, „Daphnis und Chloë“,
0030Die Zaubergeige“ etc., ja sämmtliche Bühnen, die das Sing-
0031spiel und die kleine komische Oper cultiviren, leben seit jener
0032Zeit vorzugsweise von Offenbach’s Melodien. Ein so
0033großer Erfolg mit so bescheidenen Mitteln ist ohne
0034eine gewisse künstlerische Bedeutung des Gebotenen undenkbar.
0035Wir haben seinerzeit gerne das Verdienst dieser anspruchs-
0036losen Compositionen hervorgehoben, einmal, weil es über-
0037haupt nichts so Kleines ist, eine Unzahl netter Singspiele
0038voll Melodie und heiterem Esprit aus dem Aermel zu 
0039schütten, sodann weil uns das hochmüthige Nasenrümpfen
0040der Kritik am wenigsten für Deutschland passend schien, das
0041auf diesem Felde seit Menschengedenken selbst nichts leistet.
0042Damals, als Offenbach klein anfing, war er am größten.
0043In dem Maße, als er später sein Talent in die Breite zog
0044und zu großen, lärmenden Opern zwang, wurde es schwächer
0045und kleiner. Zwei seiner größeren Stücke, „Orpheus“ und
0046Helena“, zeigten ihn musikalisch noch frisch und erfindungs-
0047reich, die melodiösen Reize und die glückliche parodistische
0048Komik der Musik überdeckten das Unzureichende der musika-
0049lichen Bildung Offenbach’s und verhalten diesen burlesken
0050Götter- und Helden-Opern überall zu großem Erfolge. Nur
0051floß dieser Erfolg — und dies scheint uns bemerkenswert
0052— durchaus nicht mehr so rein aus dem musikalischen 
0053Verdienste der beiden Novitäten, wie früher bei den einacti-
0054gen Singspielen: die Reizmittel äußeren Prunkes und einer
0055theils lüsternen, theils frechen Sinnlichkeit wirkten hier als
0056bedenkliche Factoren schon mit. Den früher genannten klei-
0057nen Operetten lag stets — sie mochten noch so flüchtig con-
0058cipirt, noch so knapp eingerahmt sein — ein bestimmter, ein-
0059heitlicher Gedanke zu Grunde, sie hatten „einen Sinn“, das
0060Komische steigerte sich allenfalls bis zum Possenhaften, ließ aber
0061nach Muster des älteren französischen Singspiels dem Ernst,
0062der Empfindung, ja der Rührung angemessenen Raum. Letztere
0063Elemente fallen im „Orpheus“ und der „Helena“
0064schon gänzlich hinweg, das Grotesk-Komische, die üp-
0065pige Sinnlichkeit und die schneidende Parodie be-
0066haupten hier allein das Feld in seiner ganzen Breite.
0067Demungeachtet läßt sich nicht leugnen, daß in bei-
0068den Travestien noch eine bestimmte dramatische Idee thätig
0069ist, welche ihren Stoff einheitlich aufbaut und geschickt glie-
0070dert. Dies ist nicht mehr der Fall bei zwei anderen größeren Sing-
0071spielen Offenbach’s, welche sich dem absoluten Blödsinne hin-
0072geben und dadurch als die wahren Vorläufer des „Blaubart“
0073erscheinen, wir meinen „Die Seufzerbrücke“ und „Ge-
0074novefa von Brabant
“ (Magellone). Den Inhalt dieser
0075Stücke bildet jener carnevalstolle, gemüthlose, sich zu Exces-
0076sen peitschende Unsinn, der sich vor jedem vernünftigen Mo-
0077ment fürchtet und uns ein sittliches Interesse an den han-
0078delnden Personen geradezu unmöglich macht. Musikalisch
0079konnten diese zwei gesungenen Narrenhäuser noch allerlei Hüb-
0080sches und Wirksames aufweisen, auch hatten sie die verblüf-
0081fende Neuheit der Gattung für sich — mildernde Umstände,
0082die dem „Ritter Blaubart“ nicht zu statten kommen. „Blau-
0083bart
“ ist die äußerste Potenzirung eines Genres, welches
0084Offenbach nach jenen beiden Versuchen nicht wieder hätte be-
0085treten sollen. Der souveräne Unsinn, die Frivolität und Häß-
0086lichkeit haben in diesem Libretto ihren letzten ästhetischen
0087Schleier abgeworfen, und da Offenbach’s Talent, im Zustand
0088erschreckender Verarmung, nicht mehr vermag, diese Blößen
0089musikalisch zu verdecken, so bleibt als Total-Eindruck des
0090Blaubart“ nur Ueberdruß und Langweile.


0091Seltsam, daß Offenbach im Anfang seiner Carrière, als
0092die Noth ihn leicht hätte dazu treiben können, dem Publicum
0093unwürdige Concessionen zu machen, einfach und aufrichtig
0094schrieb, während er jetzt, wo sein gesicherter Ruf ihm volle
0095künstlerische Freiheit gewährt, sich wie ein geschminkter Clown
0096geberdet. Wir dächten, Offenbach’s Partituren hätten nunmehr
0097auch seine Kasse hinreichend gefüllt und der Componist könnte
0098ruhig daran gehen, fortan etwas für seinen künstlerischen Namen
0099zu thun. Offenbach’s Talent ist durch übermäßiges und gehetztes
0100Produciren ohne Frage vor der Zeit ermattet und zerfahren,
0101es bedarf unumgänglich der Ruhe und Concentration, um —
0102nicht etwa ideale Höhen — sondern nur jene Stufe wieder
0103zu erreichen, die es anfangs innegehabt. Die wählerische, ge-
0104wissenhaftere Arbeit hätte nun zu ersetzen, was an Jugend-
0105frische etwa unwiederbringlich verloren ging. In der Partitur
0106des „Blaubart“ ist fast nichts mehr originell und beinahe
0107Alles trivial. Sie ist kein neuer „Offenbach“, sondern eine
0108Ausbeutung des alten. Dabei hat die pikante Grazie der
0109früheren Offenbach’schen Melodie jenem widerlichen cadaverösen
0110Lächeln Platz gemacht, das man mitunter im Ballet an alten
0111Tänzerinnen beobachten kann. An die fein instrumentirende
0112Hand von ehemals erinnern nur mehr Einzelheiten (wie das
0113hübsche Decrescendo des Marsches zu Anfang der Ouverture);
0114die Triangel, die große Trommel, gestimmte Glocken und
0115Holzgeklapper führen nunmehr das große Wort im Orchester.
0116Noch wollen wir an Offenbach nicht verzweifeln, in seiner
0117unerhörten Productivität hat er nicht selten nach einer miß-
0118lungenen Arbeit eine überraschend glückliche gebracht — aber
0119sein „Blaubart“ ist ein Memento mori; noch ein oder zwei
0120solche Werke, und der Componist steht am Leichenstein seines [2]
0121musikalischen Rufes. Es ist aber nicht einmal so sehr die be-
0122klagenswerthe Armuth an Erfindung, was wir ihm diesmal
0123verübeln, als die Unwürdigkeit des ganzen Genres. Das
0124Libretto der Herren Meilhac und Halévy soll eine Trave-
0125stie der Blaubartsage sein.*) Es wird dazu eigentlich erst im
0133dritten Acte; der erste ist an die Blaubartgeschichte nur durch
0134einen losen Faden willkürlich geknüpft, und der zweite Act
0135hängt mit den beiden andern so ganz und gar nicht zusammen,
0136daß er unbeschadet der dramatischen Entwicklung wegbleiben
0137könnte. Schon die Exposition flickt sich aus lauter altem
0138Trödel zusammen: eine als Kind ausgesetzte und wiedergefun-
0139dene Prinzessin, ein Prinz als Schäfer verkleidet, die Krönung
0140einer ausgelassenen Bauernmagd als Rosenkönigin u. dgl.
0141Musikalisch scheint uns der erste Act noch der natürlichste
0142und frischeste. Das Liebesduett fließt ohne neue Gedanken,
0143aber rasch und anmuthig dahin, in den Couplets des Hof-
0144Chemikers steckt viel gute Wirkung, jedenfalls mehr als die
0145holprige deutsche Uebersetzung und Herrn Rott’s unzureichen-
0146der Gesang davon aufkommen lassen. Auch das Auftreten
0147Blaubart’s läßt sich gut an, nur wird der Eindruck durch
0148den albernen Refrain: „Bla, bla, bla, Blaubart“ (wozu die
0149Trabanten geheimnißvoll hineinzusummen haben) verdorben.
0150Ueberhaupt greift Offenbach im „Blaubart“ auffallend häufig
0151zu solchen komischen Nothbehelfen. Nirgends aber unterscheidet
0152sich der urwüchsige, natürliche Einfall so schnell und instinctiv
0153vom Ausgeklügelten und Erzwungenen, als im Bereich der
0154Komik, und so antwortet denn auch nur selten ein herzliches
0155Lachen auf die angestrengten musikalischen Witze im „Blau-
0156bart“. Der zweite Act schildert den Hof eines dünkelhaften
0157Despoten, der seine Höflinge tyrannisirt, auch nach Laune
0158köpfen läßt, aber vor seiner Frau und Tochter zittert — Alles
0159unsäglich matt und verbraucht. Die Couplets des Kammer-
0160herrn Oskar (Herr Friese) und der Königin (Fräulein
0161Meyer) klingen nicht einmal mehr Offenbachisch, 
0162sondern wie aus einer alten Wiener Posse. Im Fi-
0163nale müssen die Höflinge dem König nach dem Tact
0164die Hand küssen. Herr Suppé und Genossen haben
0165dieses rhythmische Schmatzen bereits in Duettform verwendet,
0166nun bringt Offenbach solch musikalischen Unflath gar im gan-
0167zen Chor! Der dritte Act enthält in seiner ersten Hälfte die
0168eigentliche Blaubartgeschichte. Ritter Blaubart hat das stall-
0169duftige Rosenmädchen Boulotte aus dem ersten Act geheiratet
0170und will sie nun, wie seine früheren fünf Weiber, aus dem
0171Rechtstitel des Ueberdrusses hinrichten. Die Scene in dem
0172schwarz ausgeschlagenen Verließ, wie das geängstigte Weib,
0173um Gnade bittend, sich zu Blaubart’s Füßen windet, dann
0174Gift nehmen muß und hinsinkt, endlich als vermeintlich todt
0175von Blaubart mit kaltem Hohn beschaut und befühlt wird —
0176die Scene hat für unser Gefühl so viel des unvertilgbar
0177Gräßlichen, daß einige eingestreute Spässe und Lerchenfelder
0178Kraftwörter es nicht paralysieren können. Der Eindruck ist
0179himmelweit verschieden von der befreienden Macht echter
0180Komik und herzlich vergnügten Lachens. Offenbach’s Musik,
0181die den zweiten Act hindurch gänzlich lahm gelegen, rafft sich
0182in dem großen Duett (Blaubart und Boulotte) zu einigen
0183gelungenen Momenten auf. Sie helfen uns leider nicht darüber
0184hinweg, daß das Duett, meist im pathetischen Styl der Gro-
0185ßen Oper gehalten, den Ernst der Scene eher verstärkt als
0186aufhebt und so das Unpassende der ganzen Situation nur
0187fühlbarer macht.


0188Wir wollen einräumen, daß eine rücksichtslosere, das
0189Aeußerste wagende Komik in Spiel und Gesang hier Man-
0190ches bessern und die zwischen Grauen und Spaß unleidlich
0191schaukelnde Situation vielleicht völlig auf Seite des letzteren
0192zu reißen vermöchte, wie von der Pariser Darstellung behaup-
0193tet wird — etwa ein Blaubart à la Nestroy oder Scholz,
0194nicht à la Dawison und Roger, wie der Swoboda’sche.
0195Und dennoch kann man es hier den Darstellern kaum ernst-
0196lich verübeln, daß sie noch zu viel Discretion und Schön-
0197heitssinn besitzen, um sich zur vollständigen Carricatur zu
0198verzerren.


0199Auf die Mordscene folgt wieder der Spaß. Aber welch
0200salzlos kindischer Spaß! Der Hof Chemiker Popolani, ein
0201wissenschaftliches Genie, das unsere Redtenbacher, Schröt-
0202ter
und Hlasiwetz weit hinter sich läßt, treibt der erstarr-
0203ten Boulotte die Wirkungen des Giftes mittelst der Elektrisir-
0204Maschine aus. Auf diese Art hat der Würdige bereits fünf
0205Frauen Blaubart’s gerettet und allmälig als liebliche Hand-
0206bibliothek zu eigenem Gebrauche in einem Seitenflügel des
0207Schlosses verborgen. Mit Champagnergläsern in der Hand
0208kommen diese Wunder der modernen Chemie nun zum Vorschein
0209und singen mit Boulotte ein Trinklied, das (von Holzgeklap-
0210per im Orchester begleitet!) jedenfalls unter den zwanzig bis
0211dreißig Trinkliedern Offenbach’s die unterste Stelle ein-
0212nimmt. Der Vorhang fällt und ein vierter Art führt uns
0213zu den Hochzeitsfeierlichkeiten an König Bobèche’s Hof.
0214(Wann wird, beiläufig gefragt, die willkürliche Confusion von
0215„Bild“ und „Act“ einmal aufhören, und wieder Act heißen,
0216was ein Act ist?) Blaubart’s Frauen erscheinen als Zi-
0217geunerinnen maskirt auf dem Feste, jagen Blaubart den nö-
0218thigen Schreck ein und vermälen sich sofort mit den vom
0219König vermeintlich gemordeten, aber gleichfalls „chemisch“ re-
0220staurirten fünf Cavalieren; Boulotte versöhnt sich mit Blaubart,
0221als wäre nichts Unangenehmes zwischen ihnen vorgefallen.
0222Das einzig Amüsante in dem Act ist ein von Herrn Swo-
0223boda
und Herrn Szika sehr drollig getanztes Duell.
0224Dieser wirksame und wenigstens neue Unsinn vermag jedoch
0225kaum mehr das Gähnen der Zuschauer gegen den Schluß
0226dieser „komischen Oper“ aufzuhalten, welche in ihrer Gänze
0227noch etwas länger dauert als die „Hugenotten“ oder die
0228Afrikanerin“ im Kärntnerthor-Theater.


0229Die Stimmung des Publicums schien uns im Ganzen
0230sehr lau, der stellenweise hervorbrechende Beifall galt vorzüg-
0231lich den äußerst anziehenden Leistungen der Herren Swoboda 
0232(Blaubart) und Blasel (König Bobèche), denen sich mit wirk-
0233samer Komik die Herren Jäger (Cavalier Alvarez) und Rott 
0234(Popolani) anschlossen. Die Costüme waren nach allerliebsten
0235Zeichnungen von Franz Gaul glänzend ausgeführt; von den
0236neuen Decorationen machte namentlich die erste (Landschaft
0237mit Blaubart’s Schloß) schöne Wirkung; auch die Verdienste
0238des Capellmeisters J. Hopp um die musikalische Ausführung
0239verdienten alle Anerkennung — und so fehlte denn zur Treff-
0240lichkeit des Ganzen nichts weiter, als ein guter Text und eine
0241gute Musik.

Fußnoten
  • *)Mit Grétry’s berühmter Oper hat die Offenbach’sche Tra-
    vestie nichts zu schaffen. Ein hiesiger Musik-Referent, der bei Gelegen-
    heit der letzteren viel von Grétry spricht, erzählt uns, dieser sei
    Küchenjunge am Hofe Ludwig’s XIV. gewesen! Offenbar verwechselt
    der Herr Collega den guten Grétry mit dem 126 Jahre früher
    verstorbenen Lully, der aber seinerseits wieder keinen „Blaubart“
    componiert hat. Reden ist Silber . . . . .