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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 760. Wien, Donnerstag den 11. October 1866

[1]

Hofoperntheater.


0002Ed. H. Während wir so Tag für Tag auf das zweite
0003Auftreten Fräulein Orgeniʼs harren, dieser einzigen Ab-
0004wechslung in dem schläfrigen Einerlei des Hofoperntheaters,
0005haben wir wenigstens Muße genug, über die theatralische
0006Ernte der letzten drei Monate nachzudenken. Der Rückblick
0007auf die „Sommerfrische“ im Comödiengäßchen wird mit jedem
0008Jahre melancholischer, und die Oper im Juli charakteri-
0009siren wir am kürzesten durch die abermals wiederholte Bitte,
0010sie erst im August zu eröffnen. Nicht mit frischen Kräften
0011sondern in träger Ermattung und Zerfahrenheit nimmt nach
0012dem Ferienmonat Juni die Oper ihre Arbeit wieder auf.
0013Die ersten Kräfte schwärmen mit oder ohne Bewilligung noch
0014auf Gastrollen umher, Novitäten sind und werden keine vor-
0015bereitet, so spielt man denn vor leerem Hause alte Opern in
0016schäbigster Surrogat-Besetzung ab. Wir erinnern an die denk-
0017würdigen Besetzungen des „Nachtlager“ und des „Freischütz“,
0018an die Mordversuche gegen die Person „Don Juanʼs“ und
0019Fra Diavoloʼs“ und Aehnliches. Wozu derlei überflüssige
0020Vorstellungen, welche der Kasse nicht einmal die Tageskosten,
0021wol aber dem Institut übelste Nachrede eintragen? Um denn
0022scheinbar doch etwas zu thun, greift man zu Gastspielen.
0023Gäste sind von Jupiter selbst geschickt, lehrt Homer, ein
0024mit unsern Opernzuständen wenig vertrauter Autor. Hat man
0025uns etwa Niemann vorgeführt, den berühmtesten deutschen 
0026Tenor, der, überall, nur in Wien noch nicht bekannt, sich der
0027Direction selbst angeboten haben soll? Oder haben wir auch
0028nur Frau Wilt gehört, unsere in London so gefeierte Landsmännin,
0029deren Auftreten hier das lebhafteste Interesse erregt und dem In-
0030stitut vielleicht eine erwünschte Kraft bleibend zugeführt hätte?
0031Nichts von allem. Es gastirten drei bislang unbekannte
0032Tenoristen, Nachbaur, Prott und Zottmayr, die
0033zwar wenig Glück beim Publicum, desto mehr aber bei der
0034Direction machten, denn sie wurden sämmtlich hier engagirt.
0035Herr Nachbaur (der zu Ostern definitiv eintritt) entspricht
0036gegenwärtig keinesweges den Anforderungen, die das Publicum
0037des Hofoperntheaters an einen ersten Tenor stellen muß; allein 
0038Jugend, Talent und Stimme bilden ein Prisma, durch das
0039man wenigstens seine Zukunft in den schönsten Farben sehen
0040kann. Er wird sich hier wol schnell vervollkommnen und dann
0041natürlich — seiner Wege gehen. Herr Prott erwies sich in
0042großen Partien (Gennaro, Manrico) ungenügend, dürfte aber
0043für kleinere Aufgaben mit Vortheil verwendet werden. Seine
0044Stimme entbehrt der Fülle und Kraft, aber nicht eines ge-
0045wissen jugendlichen Schmelzes; sein Eifer nimmt günstig für
0046ihn ein. Hoffentlich übernimmt er zunächst das Repertoire des
0047Herrn Kreutzer, den man wol etwas vorschnell von der
0048Chorleitung zum Sologesang zurückgerufen hat. Ist Herr
0049Kreutzerʼs Stimme wirklich kräftiger geworden, und daran
0050zweifeln wir gar nicht, um so besser für den Chor, der doch
0051nicht die Aufgabe hat, stimmlos zu sein. „Thränen,“ heißt
0052es in den Müllerliedern, „machen todte Liebe nicht wieder
0053blühen,“ und Alaun-Inhalationen machen eine alte Tenor-
0054stimme nicht wieder jung. Es genügt nicht, daß Jemand ein
0055hohes H und C herausbringe, sie müssen auch gut klingen,
0056und selbst wenn sie klingen, so fragen wir noch weiter, ob
0057sich unter diesem blendenden Dachgesims auch wirklich ein an-
0058ständiger zweiter und erster Stock sammt Mezzanin be-
0059finde? Wir kommen zu Herrn Zottmayr, dem ältesten
0060und erfahrensten, aber uninteressantesten der drei Gäste.
0061Sein Gastspiel fand den geringsten Beifall; dennoch ist er
0062für erste Partien engagirt worden und nunmehr unumschränkter
0063Herr des „Tannhäuser“, „Prophet“, „Robert“ und anderer
0064hochgelegener Herren. Wohin ist es mit uns gekommen?
0065seufzen die Stammgäste des Kärntnerthor-Theaters. Nachdem
0066wir — Dank dem System der wohlfeilen Engagements —
0067stufenweise von der Csillag auf die Destinn und
0068von dieser auf Fräulein Benza herabgelangt, ma-
0069chen wir dieselbe Carrière von Ander und Wach-
0070tel
auf Ferenczy und von Ferenczy auf Zott-
0071mayr
! Letzterer hat eine Tenorstimme, die — nein
0072er hat keine Tenorstimme, ganz und gar keine Tenorstimme,
0073sondern einen unverholenen Bariton, der, wennʼs noththut,
0074das hohe A und B requirirt. Nach dem Klang der Stimme
0075wird Niemand in Herrn Zottmayr einen Tenor vermu-
0076then, und der Klang entscheidet, nicht der künstlich erzwun-
0077gene Umfang. Pischek schlug das hohe A mit Kraft an, 
0078Wild sang Barton-Partien wie „Don Juan“ und „Zampa“;
0079darum blieb Ersterer doch immer ein Bariton, Letzterer ein
0080Tenor. Bariton und Baß sind in der Klangfarbe nicht so
0081scharf geschieden, sie bilden zusammen gleichsam Eine Gat-
0082tung im Gegensatz zu dem fundamental verschiedenen Klang-
0083charakter der echten Tenorstimme. Bei dem Männer-Septett
0084im ersten Finale des „Tannhäuser“ ist es am auffallendsten,
0085wie Zottmayrʼs Stimme, trotz der hohen Lage der Par-
0086tie, mit jener der vier Bassisten im Timbre zusammenschmilzt,
0087während sie mit den beiden Tenorstimmen einen Klanggegen-
0088satz gegen jene vier bilden sollte. Man vergleiche in demsel-
0089ben Septett Zottmayr mit Erl; des Letzteren Stimme
0090ist jetzt nur ein Schatten, aber immer noch der Schatten einer
0091wirklichen Tenorstimme. Wie wir hören, war Herr Zottmayr 
0092wirklich früher an anderen Bühnen als Bariton engagirt.
0093Möge man nun Herrn Zottmayrʼs Stimme wohin
0094immer classificiren, man wird sie ausgiebig zwar, aber ent-
0095schieden trocken, unpoetisch und reizlos nennen müssen. Die
0096Intonation ist in der Regel rein, mitunter etwas zu tief,
0097der Vortrag sicher und verständig, jedoch ohne jegliche Fein-
0098heit und geistige Beseelung. Der freie, declamatorische Vor-
0099trag scheint Herrn Zottmayr gänzlich fremd, er singt fast
0100alle Recitative mit voller Stimme und schleppenden Ritar-
0101dandos, dazu kommt eine dunkle, zerflossene Aussprache der
0102Vocale. Seine Gesangstechnik reicht nicht hin, kleine, scalen-
0103artige Gänge von fünf bis sechs Noten (z. B. im Venuslied)
0104schön gebunden vorzubringen. Herr Zottmayr singt und
0105spielt den „Tannhäuser“ wie den „Robert“ und diesen wie den
0106Propheten“, ja beinahe eine Nummer wie die andere, mit
0107einer gewissen schulmeisterlichen Verständigkeit und Sicherheit,
0108die wir keineswegs unterschätzen, die uns aber weder die
0109mangelnde Schönheit des Organs, noch weniger die Wärme
0110und Beseelung des Gesangs einen Augenblick zu ersetzen ver-
0111mag. Wir haben im „Tannhäuser“ und „Prophet“ stimm-
0112bankerotte Tenoristen gehört, die gleichwol durch Geist und
0113Empfindung fesselten; andere wieder, die, roh im Vortrag
0114und hölzern im Spiel, mit dem Glanz ihrer Stimme be-
0115strickten — Herr Zottmayr ist unseres Wissens der erste
0116Heldentenor im Hofoperntheater, der weder das Eine noch
0117das Andere zu bieten hat. Kommt nun hinzu, daß auch das [2]
0118übrige Ensemble solch abgespielter, nur durch sorgsamte Be-
0119setzung noch zugkräftiger Opern ein so unglückliches ist, wie
0120wir es wiederholt erlebten, so wundere sich noch Jemand
0121über die leeren Häuser! Gibt es z. B. etwas Kläglicheres
0122als die gegenwärtige Darstellung des Sängerkampfes im
0123Tannhäuser“? Dazu die müden, distonirenden Chöre und
0124die mit traditionellen Handwerksgriffen sich begnügende Regie!
0125Nur Ein oder zwei Sänger und das treffliche Orchester ent-
0126schädigen den Hörer an solch unglücklichen Abenden, wie sie
0127jetzt die Regel bilden. In „Robert der Teufel“ freute uns
0128das Wiederauftreten des trefflichen Bassisten Schmid, im
0129Propheten“ labte man sich an Fräulein Bettelheimʼs 
0130prachtvoller Stimme, im „Tannhäuser“ an Frau Dust-
0131mannʼs
edler und ergreifender Darstellung der Elisabeth.
0132Dinorah“ hat glücklicherweise nur drei hervortretende Rollen,
0133von denen zwei durch Fräulein Murska und Herrn Beck 
0134vorzüglich vertreten sind, während die dritte an der ganz un-
0135genügenden Leistung des Herrn Erl verloren geht. Nicht
0136Herr Erl, dessen musterhafter Bereitwilligkeit man die Ret-
0137tung aus zahllosen Theaternöthen verdankt, verdient eine
0138Rüge, wol aber die Direction, welche nicht daran denkt, die-
0139sem hochverdienten, nunmehr stimmlosen Veteran endlich einen
0140ehrenvollen Ruhestand zu bereiten. Es ist wahr, daß Erl 
0141sich meistens noch „anständig“ durchhilft, aber das Publicum
0142geht, wie wir glauben, in die Oper, um von guten Stimmen
0143gut singen zu hören. Betreffend die Neubesetzung verschiede-
0144ner kleinerer Rollen sei diesmal blos bemerkt, daß Herr
0145Neumann für tiefe Baßpartien (Fernando im „Trouba-
0146dour“, Bassi in „Stradella“) und Fräulein Siegstädt für
0147Partien überhaupt kaum geeignet sind. Letztere, eine fleißige
0148und bescheidene Sängerin mit scharfem, gern forcirtem So-
0149pran, würde vielleicht eine gute Chorführerin abgeben; selbst
0150für die kleinsten selbstständigen Rollen fehlt es ihr aber an
0151Haltung und Temperament, um von „dramatischem Talent“
0152gar nicht zu sprechen. Als Lisa in der „Nachtwandlerin“
0153glich sie mehr einem trauernden Cherub aus der altdeutschen
0154Schule, als einer koketten Wirthin; ihr Spiel und Aussehen
0155rückte die Scene mit dem Grafen völlig in den Bereich des
0156Unwahrscheinlichen. Hingegen machte eine neue kleine Er-
0157scheinung, Fräulein Pauli, sich als Hirtenknabe in der 
0158Dinorah“ durch ein frisches Stimmchen und sichere Intona-
0159tion bemerkbar.


0160Von allen Vorstellungen des Hofoperntheaters ist die
0161Afrikanerin“ die einzige, die noch ein zahlreiches Publicum
0162versammelt, weil sie noch im Nachglanz der Neuheit schim-
0163mert, gut besetzt und schön scenirt ist. Beckʼs Nelusco ist
0164eine der gewaltigsten, lebensvollsten Leistungen dieses Künst-
0165lers; Fräulein v. Murska verleiht durch die Schönheit ihrer
0166hohen Töne der Ines einen besonderen musikalischen Reiz;
0167Herrn Schmidʼs Oberpriester könnte der Brahma-Religion
0168durch seinen Gesang Proselyten verschaffen; Herr Walter 
0169endlich, im Allgemeinen für heroische Charaktere weniger ge-
0170eignet, bleibt immerhin auch als Vasco unser erster, ja ein-
0171ziger Tenor. Als Selica erzielt Fräulein Bettelheim 
0172stets den glänzendsten Erfolg. Daß die Rolle trotzdem als
0173Ganzes nicht für ihre Stimme paßt, gilt uns nach diesem
0174Erfolg noch immer so ausgemacht, als es uns vor demselben
0175schien. Selica ist eine jener Rollen, die nach der Höhe wie
0176nach der Tiefe ihres musikalischen Umfangs ungewöhnliche
0177Anforderungen stellen und demnach eine zuverlässige Classi-
0178fication nicht leicht machen. Thatsache ist, daß Sängerinnen
0179mit hohen und mit tiefen Stimmen sich gleichmäßig darum strit-
0180ten; jene deuteten auf Scenen, die nur von einem entschiedenen
0181Sopran, diese auf Stellen, welche blos von einem Alt oder
0182tiefen Mezzosopran zur vollen Wirkung gebracht werden können.
0183Es kommt darauf an, ob man das Eine oder das Andere für
0184wichtiger, für entscheidend hält, oder vielmehr es würde auf
0185einen solchen Meinungsstreit ankommen, hätte nicht Meyer-
0186beer
selbst, der allezeit vorsichtige, seiner Partitur die aus-
0187drückliche Bemerkung beigedruckt: Selica ist überall der Dar-
0188stellerin der Valentine (in den „Hugenotten“) zuzutheilen.
0189Durch diese authentische Entscheidung ist vollkommen sicher-
0190gestellt, daß der Componist auf die hohe Lage der Partie ein
0191größeres Gewicht als auf die tiefe legte; daß er für Se-
0192lica einen Sopran mit hinreichend distincter Tiefe und nicht
0193einen Alt mit aufgeschraubter Höhe verlange, mit Einem
0194Wort, daß die Selica in der Klangfarbe des Soprans ge-
0195dacht sei. Fräulein Bettelheim ist durch den bedeutenden Um-
0196fang ihrer Stimme befähigt, die Partie ohne Abänderungen
0197zu singen — eine Thatsache von großem praktischen Werth, 
0198aber nicht von theoretischer Beweiskraft. Es gibt Violin-
0199Compositionen, die man auch auf der Bratsche, Viola-Stücke,
0200die man auf dem Cello, ja mitunter à la Bottesini auf dem
0201Contrabaß herausbringen kann; dennoch sind sie für eine
0202andere Klangfarbe gedacht. Analoges bieten manche Tenor-
0203und Bariton-Partien. Das Entscheidende ist nicht, ob ein
0204Sänger oder Spieler gewisse äußerste Grenzen nach Oben
0205und Unten mit einiger Anstrengung erreichen kann, sondern
0206in welcher Lage er sich ohne Anstrengung bewegt, also welche
0207ihm die natürliche und bequeme ist. Melodien, welche im
0208Sopran zierlich und spielend klingen (Schlummerlied), oder
0209triumphirend, freiheitsselig (Liebesduett im vierten Act), wer-
0210den, vom Alt gesungen, einen Charakter von Anspannung
0211und Gewaltsamkeit annehmen, den der Componist nicht beab-
0212sichtigte.


0213Alles wohl erwogen, was bei dieser Rolle ins Gewicht
0214fällt, ist Fräulein Bettelheim die beste Repräsentantin der
0215Selica, die man in Wien wählen konnte; allein sie ist, rein
0216musikalisch gehört, nicht die Selica, die Meyerbeer beabsichtigt
0217und in Berlin Fräulein Lucca zugedacht hat. Fräulein Bet-
0218telheimʼs
üppige, kraftvolle Stimme, ihr durchdachtes Spiel,
0219ihr wirksamer, stets intelligenter, wenn auch nicht immer über-
0220zeugender und rührender Vortrag, endlich ihre poetische Er-
0221scheinung als Selica sichern dieser Leistung überall den ent-
0222schiedensten Erfolg. In wenigen Rollen ist die Persönlichkeit
0223der Darstellerin so wichtig, wie gerade in dieser. Die schlanke,
0224jugendliche Gestalt der Bettelheim, ihre raschen, kurzen Be-
0225wegungen, ihr blitzendes Auge, der feine, scharfe Schnitt des
0226Gesichtes — dies Alles interpretirt nicht blos, es idealistirt
0227den Charakter der Selica in so typischer Weise, daß das Bild
0228in jedem Zuschauer haften bleibt, maßgebend und verderblich
0229fast für alle Nachfolgerinnen. Fräulein Bettelheimʼs Sieg
0230über die Selica der Kainz und der Stehle war zur Hälfte
0231entschieden, als diese beiden Sängerinnen, noch ohne ein Wort
0232zu sprechen, die Scene betreten hatten. Die andere Hälfte des
0233Sieges verdankte Fräulein Bettelheim nicht etwa der specifi-
0234schen Eignung ihrer Stimme für diese Partie, sondern gegen 
0235diesen Vortheil ihrer Rivalinnen einer Geschicklichkeit und
0236einem Kunstverstand, die ihr noch manch ähnlichen Erfolg
0237sichern.