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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No 767. Wien, Donnerstag den 18. October 1866

[1]

Hofoperntheater.

(„Zampa“. — Fräulein Orgeni.)


0003Ed. H. Das Hofoperntheater hat HeroldʼsZampa“
0004aus langjähriger Verschollenheit wieder ans Licht gezogen. Ob
0005aus eigener Intuition, ob nach dem Vorgang der Pariser
0006Oper, welche vor zwei Jahren den halbvergessenen Corsaren
0007mit großem Erfolge wieder auf die Bühne brachte — wir
0008wissen es nicht; in keinem Falle läßt sich, die Trefflichkeit
0009der Aufführung vorausgesetzt, gegen diesen Repertoire-Zuwachs
0010etwas einwenden. Es spricht für „Zampa“, daß er bei seinem
0011Erscheinen viel größeres und anhaltenderes Ansehen in Deutsch-
0012land genoß als in Frankreich, wo ihn die glänzenderen Er-
0013folge von HeroldʼsMarie“ und „Le pré aux clercs“
0014(Zweikampf) in Schatten stellten. Diese beiden musikalischen
0015Conversationsstücke, einheitlicher und ruhiger in der Form,
0016repräsentiren auch vollständiger ihr Genre — „Marie“ das
0017rührende Familienbild, der „Zweikampf“ das Intriguen-
0018Lustspiel — während „Zampa“ mit verwegener und nicht
0019immer wählerischer Hand Tragisches und Komisches durchein-
0020andermischt. Uns gilt trotzdem „Zampa“ für das musikalisch
0021Eigenthümlichste und Reichste, wozu Heroldʼs Talent sich auf-
0022geschwungen, und wenn noch heutzutage deutsche Schriftsteller
0023die unbedeutende Vaudeville Musik der „Marie“ und den ge-
0024quälten, kalten Esprit des „Zweikampf“ auf Kosten des
0025Zampa“ herausstreichen, so gehört das wol auf die lange
0026Liste ihrer ererbten und nicht geprüften Kunsturtheile. Keine
0027der zahlreichen Partituren Heroldʼs vermag den üppigen,
0028leidenschaftlichen Klängen aus „Zampaʼs“ dritten Act etwas
0029an die Seite zu stellen. Ist es nur der Zauber der Jugend-
0030Erinnerung, was uns diese Melodien noch heute vergoldet?
0031Das glauben wir doch nicht, so gern wir uns jenen Zau-
0032ber zurückrufen und manche Nacht, die wir unter dem ersten
0033Eindrucke des „Zampa“ in kindischen Schauern und kin-
0034dischem Entzücken verträumt. In dieser Musik strömt eine
0035reiche melodische Ader, pocht ein lebhafter dramatischer
0036Puls. Frische, Lebendigkeit, eine gute Charakteristik für
0037das Schauerliche, das Schelmische und Zärtliche zeich-
0038nen sie aus und lassen uns manchen dilettanti-
0039schen und bizarren Zug, manche leere Stelle mit 
0040in den Kauf nehmen. In den beiden ersten Acten
0041herrscht die pikante Conversations-Musik und der glatte
0042französische Romanzenstyl vor; die beiden Finale, an sich von
0043geringem musikalischen Gehalt, machen, belebt durch Instru-
0044mentirung und Scenerie, immerhin den Eindruck des Glän-
0045zenden. Die Stimmung des dritten Actes geht tiefer: wie
0046unter Thränen zittert die süße Melodie des Schifferliedes; aus
0047Zampaʼs Flehen („O, zittʼre nicht“) spricht eine verführerisch
0048weiche Zärtlichkeit, angeglüht von unterdrückter Leidenschaft,
0049welche endlich im Allegro des Duetts als entfesselte Sinnlich-
0050keit auflodert. Die volle Leidenschaft liegt hier allein in der
0051Melodie, nicht in dem malenden Orchester, wie so oft bei den
0052Neueren. Der Schluß der Oper ist matt, ein fast allgemeines
0053Uebel der älteren Opéra comique. Die im „Zampa“ ge-
0054wagte neue Steigerung aller dramatischen und musikalischen
0055Effectmittel und Häufung von romantischen Contrasten hat
0056Heroldʼs „Zampa“ eine kunstgeschichtliche Bedeutung verlie-
0057hen, die man ob ihren Folgen beklagen, aber nicht anzweifeln
0058kann. „Zampa“ im Mai 1830 zuerst aufgeführt, war der
0059unmittelbare Vorläufer von „Robert der Teufel“ (1831) und
0060bildet mit diesem, der „Stummen von Portici“ (1828) und
0061Wilhelm Tell“ (1829) das vierblätterige Kleeblatt der auf-
0062keimenden musikalischen Romantik in Frankreich. Man weiß,
0063welche Revolution in der gesammten Opernmusik daraus er-
0064wuchs, eine Revolution, unter deren directer Einwirkung wir
0065heute noch stehen. Dieses fast gleichzeitige Hervortreten vier
0066verschiedener Meister mit Opern neuen Inhalts, neuen Styls
0067und von so demagogischer Wirkung beweist für den unbewußt
0068zwingenden Zug der Zeit-Ideen, welcher hier mitwirkte. Das
0069Auftreten der romantischen Poesie in Frankreich (Lamartine,
0070V. Hugo, G. Sand etc.), der wachsende Einfluß deutscher
0071Musik (namentlich des „Don Juan“, „Freischütz“ und
0072der Beethovenʼschen Symphonien), die politische und
0073sociale Schwüle vor der Juli-Revolution — dies Alles
0074hatte zusammengewirkt, um auch auf dem Gebiete der Oper
0075einen Bruch mit den alten Traditionen, eine neue „roman-
0076tische“ Periode hervorzurufen. In dem Einflusse dieser ro-
0077mantischen, hauptsächlich die Wirkung des Contrastes aus-
0078beutenden Doctrin findet auch das mit Recht getadelte Text-
0079buch des „Zampa“ seine entschuldigende Erklärung. Ueber-
0080dies wirkte noch direct der verführerische Reiz von Mozartʼs
0081Don Juan“ auf Heroldʼs Phantasie. Die Idee, den „Don 
0082Juan“-Stoff nach MolièreʼsFestin de pierre“ zu com-
0083poniren, gab Herold aus Ehrfurcht vor Mozart auf, aber er
0084drang in den Dichter Melesville, ihm ein ähnliches Sujet
0085für den bescheidenen Rahmen der Opéra comique zu bearbei-
0086ten. Zampa ist auch ein Dissoluto punito. Auch zu seiner
0087Strafe stehen die Todten auf, und wenn Ritta keine Zer-
0088line ist, so sehen doch Dandolo und Capuzzi so ziemlich
0089den Charakteren des Masetto und des Leporello ähnlich. Don
0090Juan frevelt am Grabe des Gouverneurs, indem er den Tod-
0091ten zu Tische ladet; Zampa frevelt an der Statue einer treu-
0092los verlassenen Geliebten, der er den Trauring an den Fin-
0093ger steckt. In beiden Opern versinkt der Held an der Hand
0094eines rächenden Geistes — mit Einem Worte: „Zampa“ ist
0095ein modernisirter „Don Juan“ in sehr verkleinerter Auflage.
0096Zum Glücke verfiel Niemand auf die kindische Idee, Heroldʼs
0097Musik an Mozart messen zu wollen, und „Zampa“ erfreute
0098das Publicum durch ein volles Vierteljahrhundert, was für
0099eine moderne Oper eine ganz anständige Lebensdauer ist.
0100Wenn von zwei neuen Geschichtsschreibern der Musik der
0101eine (Schlüter) Heroldʼs „Zampa“ mit den zwei
0102Worten „leere Lärm-Oper“ abthut, der andere (Reiß-
0103mann
) den Namen Herold nicht einmal nennt,
0104so wünschen wir unsererseits, wir hätten heute für unsere
0105Bühne einige Talente wie Herold und einige neue Opern
0106wie „Zampa“.


0107Eigenthümliche Schwierigkeiten bietet die Rolle des
0108Zampa durch ihre seltsame Stimmlage: einige Nummern
0109derselben sind entschieden in der Tenorlage, andere in jener
0110des Baritons gesetzt, noch andere verlangen Beides. Die
0111Pariser Original-Partitur schreibt den Part dieses musikalischen
0112Amphibiums bald im Tenor-, bald im Baßschlüssel; ja in
0113dem Trinklied, dem der Baßschlüssel vorgezeichnet ist, er-
0114scheint inmitten eine Stelle im Tenorschlüssel, wie man sonst
0115nur in Violoncell- oder Fagottstimmen zu sehen bekommt.
0116Dies Schwanken von Seite des Componisten wäre unerklär-
0117lich, wüßte man nicht, daß er den Zampa für den damaligen
0118Stern der Opéra comique, Chollet, schrieb, einen Sänger,
0119der eigentlich weder eine Tenor- noch eine Baritonstimme be-
0120saß, wahrscheinlich überhaupt keine rechte Stimme, wol aber
0121ein unübertrefflich ausgebildetes Falsett und den reizendsten
0122Vortrag. Seither haben sowol Tenoristen als Baritons
0123den Zampa gesungen, mit mehr Transponirungen und Punk[2]-
0124tirungen, als wol irgend eine andere Rolle erfahren hat.
0125Trotz der berühmten Leistung Wildʼs kann man nicht anste-
0126hen, Zampa für eine Baritonpartie zu erklären; dramatisch
0127deutet die ganze Persönlichkeit Zampaʼs auf eine tiefe Stimme,
0128musikalisch bildet sie den nothwendigen Gegensatz zu dem Te-
0129nor Alfonso di Monza. Herrn Bignioʼs klangvoller, hoher
0130Bariton würde sich trefflich für die Partie eignen, wenn er
0131im Besitze einer Kopfstimme wäre — er machte wenigstens
0132nicht einen einzigen Versuch, dieselbe zu verwenden. Daß
0133Herr Bignio seine Solonummern einen Ton tiefer sang,
0134verschlägt wenig, ebenso die Punktirung minder erheblicher
0135Stellen im Ensemble, höchstens daß im ersten Quartett die
0136Herabsetzung eines ins hohe A reichenden charakteristischen
0137Ganges in die tiefere Octave den Total-Effect störte.


0138In Nummern jedoch, wo die hohen Töne einen integri-
0139renden Theil des musikalischen Gedankens bilden, wie in dem
0140Andante „O, zittrʼe nicht“, verstümmelt eine willkürliche Punk-
0141tirung eben den Gedanken selbst. Wer Pischekʼs meisterhaften
0142Zampa in Erinnerung hat, weiß, welchen Zauber diese bis
0143ins hohe B und C reichenden Falsettstellen in der Originalgestalt
0144ausüben und welche Benachtheiligung der ganze dritte Act
0145durch das Wegstreichen aller hohen Noten erleidet. Davon
0146abgesehen, hat Herrn Bignioʼs Leistung nach Seite des Ge-
0147sanges und des Spieles unsere Erwartungen übertroffen. Er
0148sang die Arie im zweiten Act und die darauffolgende Bar-
0149carole die sehr hübsch; dasselbe wäre von dem Trinklied zu rüh-
0150men, hätte es einen kühneren Flug genommen. Ueberhaupt
0151schien es uns, als bevorzugte Herr Bignio allzusehr das
0152Sanfte und Weiche auf Kosten der starken, trotzigen, ja wil-
0153den Stellen und vergäße über dem einschmeichelnden Verführer,
0154daß Zampa ein Corsar ist, der Schrecken des Meeres und
0155der Küste. Es wäre vortheilhaft, wenn der Künstler den
0156Zampa ernster und energischer, auch weniger jugendlich nähme
0157und sich unter Anderem vor häufigem Lächeln hütete. Gelingt
0158es Herrn Bignio, seine Leistung im dritten Acte auf die
0159Höhe der beiden früheren herauszuarbeiten, so wird der ihm so
0160reichlich gespendete Applaus sich noch beträchtlich steigern. Die
0161Rolle des Alfonso stellt an den Schauspieler und Sänger
0162Anforderungen, denen Herr Prott zur Stunde nicht gewach-
0163sen ist; danken wir ihm für den sichtlichen Eifer, mit dem er
0164dies Mißverhältniß zu verbergen bemüht war. Fräulein
0165Krauß that als Camilla was ihr möglich ist; jedenfalls
0166hätte die Partie durch Frau Kainz-Prause sehr gewonnen, 
0167die, wie wir mit Befriedigung hören, das Hofoperntheater
0168nicht verläßt. Ganz vorzüglich waren Fräulein Bettel-
0169heim
und Herr Mayerhofer als Ritta und Daniel Ca-
0170puzzi. An solchen Leistungen läßt sich erkennen, was Intelli-
0171genz, Bildung und ein gewissenhafter, in jedes Detail der
0172Rolle eindringender Fleiß selbst dort zu Stande bringen, wo
0173die Aufgabe eher gegen als mit dem Strome der künstlerischen
0174Individualität schwimmt. Da in dem komischen Terzett des
0175zweiten Actes Herr Campe (Dandolo) sich den beiden ge-
0176nannten Künstlern wirksam anschloß, so trug thatsächlich die
0177heitere, episodische Partie der Oper den Sieg über die Tragik
0178davon. Die Scenirung und Ausstattung ließ Manches zu
0179wünschen — insbesondere Camillaʼs Schlafgemach wünschten
0180wir nie wieder zu sehen. Das Publicum kam der Aufführung
0181offenbar in günstigster Stimmung entgegen und applaudirte
0182die unter Herrn Dessoffʼs Leitung glänzend ausgeführte
0183Ouverture lebhaft. In den beiden ersten Acten erhielt sich die
0184Theilnahme so ziemlich, sank aber merklich während des dritten
0185Actes, der weder das Schifferlied noch das große Duett zu
0186der gewohnten Wirkung brachte.


0187Wir haben einige Worte über Fräulein Orgeni nach-
0188zutragen, welche bisher zweimal (in der „Nachtwandlerin“ und
0189in Gounodʼs „Faust“) als Gast aufgetreten ist. An beiden
0190Abenden war es im Theater bekannt, daß Fräulein Orgeni 
0191noch unter den Nachwirkungen eines Unwohlseins leide — ein
0192Umstand, welcher der Sängerin wie der Kritik das Amt be-
0193trächtlich erschwert. Wir müssen Fräulein Orgeni derzeit für
0194ein Bild nehmen, das in seiner günstigsten Beleuchtung zu
0195sehen uns noch nicht vergönnt war. Vor dem Auftreten der
0196Künstlerin war ihr die Beleuchtung vielleicht zu günstig ge-
0197wesen, man hatte sie als eine vollendete Sängerin geschildert
0198und dadurch in eine schwierige Stellung gegen so hochge-
0199spannte Erwartungen gedrängt. In Berlin, wo Fräulein Or-
0200geni vor einem Jahre zum erstenmale die Bühne betrat, kam
0201es ihr zugute, daß man von dieser Anfängerschaft billig
0202Notiz nahm und die ganze künftige Vervollkommnung der ta-
0203lentvollen Lieblingsschülerin Madame Viardotʼs gleichsam
0204escomptirte. Fräulein Orgeni ist keine fertige Künstlerin,
0205kann es auch nach so kurzer Bühnenpraxis kaum sein; was
0206sie gibt, sind eher schöne Anfänge und Anläufe, als vollendete
0207Leistungen. Die Natur hat Fräulein Orgeni günstig, aber
0208nach keiner Richtung phänomenal ausgestattet. Ihre Stimme,
0209ein leicht ansprechender Sopran von hellem Timbre, bedeuten-
0210der Höhe, aber von geringer Kraft, besitzt jenen flachen Wohl-
0211klang, der mehr dem Ohre schmeichelt, als zu den Tiefen des
0212Herzens dringt. Die correcte Stimmbildung und das sichere
0213Feststehen jedes Tones sind große Vorzüge ihres Gesanges,
0214dessen höchster Reiz uns in dem schönen und ausgebildeten
0215Mezzavoce zu liegen scheint. Vortrefflich ist ferner die Aus-
0216sprache. Was wir von Coloratur hörten, war nur theil-
0217weise gelungen und jedenfalls mehr glückliche Anlage zur Bra-
0218vour, als Bravour selbst. Es fehlt dieser die ruhige Sicher-
0219heit, Leichtigkeit und vor Allem der Glanz.


0220Vortrag und Spiel tragen den Charakter einer ruhigen
0221Passivität, welche allerdings weder das Edle noch das An-
0222muthige ausschließt. Fast durchwegs fließen die Melodien von
0223Fräulein Orgeniʼs Lippen zögernd und sentimental; sie
0224liebt es überdies, die Tempi auffallend langsam zu nehmen
0225und den Strom der Melodie durch viele Ritardandos zu hemmen.
0226Der Vortrag bekommt dadurch etwas Stockendes, Verspäte-
0227tes, das den Hörer ermattet. Wie getragen und sentimental
0228sang Fräulein Orgeni die erste Begegnung mit Faust und
0229die Gesprächsstellen im Garten („Mein Bruder ist Sol-
0230dat etc.“) Man kann Gesang und Spiel recht eigentlich
0231„distinguirt“ nennen, vornehm mit einem Beigeschmack vom
0232Salon. Uns wenigstens sind Fräulein Orgeniʼs Amina und
0233Gretchen mitunter wie verkleidete Damen vorgekommen.
0234In der „Nachtwandlerin“ schlug dieser „distinguirte“ Zug
0235sogar bis ins Costüm hinüber: Amina erschien in einem lang
0236nachschleppenden Damen-Negligé mit herabfallenden offenen
0237Aermeln. Diese gleichförmige ruhig-sentimentale Haltung gibt
0238den Bühnenleistungen Fräulein Orgeniʼs eine unleugbare
0239Einheit, aber es ist nicht jene Einheit, welche die mannich-
0240faltigen, vielfarbigen Strahlen schließlich in Eine Lichtgarbe
0241zusammenfaßt, sondern die monotone Einheit des weißen un-
0242gebrochenen Lichtes. Dieser Mangel an warmer, kräftiger
0243Farbe, an Feuer und Leidenschaft ist, was uns in den Lei-
0244stungen Fräulein Orgeniʼs am empfindlichsten berührt. Die
0245geringe Wirkung der Liebesscene im Garten, das Ausbleiben
0246aller Wirkung in der Domscene und Anderes deuten darauf,
0247dass jene lebendige Empfindung und überzeugende Kraft des
0248Ausdrucks, welche die Grundbedingung dramatischer Wirkung
0249bilden, in Fräulein Orgeni bis jetzt nur schwach vorhanden
0250sind. Wir glauben darum, daß Fräulein Orgeni ihre rein-
0251sten Erfolge im Concertsaal erringen werde.