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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 776. Wien, Samstag den 27. October 1866

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Das Sängerfest in der Winter-Reitschule

Wien, 26. October.


0003Ed. H. Der ungemeine Erfolg, mit welchem das von
0004Herbeck geleitete patriotische Monstre-Concert gestern vor
0005sich ging, ist unseren Lesern bereits gemeldet. In der That
0006ist eine imposantere Chorproduction niemals in Wien gehört,
0007ja man darf beifügen, nie gesehen worden. Denn lange noch
0008bevor der erste Accord erbrauste, fand das Auge die lohnendste
0009Beschäftigung im Anblick des großartigen, in glänzendster Be-
0010leuchtung schimmernden Saales und der bewegten Zuschauer-
0011menge, die sich zwischen dessen weitentlegenen Endpunkten, der
0012stattlichen Kaiserloge und der Tribüne der Musiker ergoß.
0013Zwölfhundert Sänger standen in Reih und Glied auf diesem
0014Podium, eine singende Brigade, mit zwei Regimentsbanden
0015in der Mitte, deren Ophikleiden, Schwanenhörner, Helikons
0016u. s. w. ihre seltsamen Riesenleiber in die Lüfte streckten.
0017Später, nach dem Eindruck der ersten Ueberraschung, überließ
0018man sich wol einige Momente den bedeutsamen Erinnerungen,
0019welche die Geschichte an die hohen weißen Wände der Win-
0020ter-Reitschule unsichtbar und unvertilgbar befestigt hat. Diese
0021Wände, diese Säulen sind uns ja gute alte Bekannte, die
0022wir nun lange nicht wiedergesehen. Wir schweigen über die
0023zuerst und zu tiefst einstürmenden Bilder aus dem ersten öster-
0024reichischen Parlament, das 1848 in der Winter-Reitschule
0025tagte — Erinnerungen, denen jüngst an dieser Stelle Fried-
0026rich Uhl
beredte Worte geliehen.


0027Wem die Musik eine theure Lebensgefährtin, der wird
0028ohne Zweifel auch jenes festlich trauervollen 14. November
00291847 gedacht haben, wo in der Winter-Reitschule zum letz-
0030tenmale Musik erklang. Man beging an diesem Tage die erste
0031Aufführung von Mendelssohnʼs „Elias“ und damit zugleich
0032die Todtenfeier des Meisters. Mendelssohn hatte zugesagt
0033das Oratorium selbst zu dirigiren, und ganz Wien sah seinem
0034Erscheinen mit freudiger Aufregung entgegen; statt des allver-
0035ehrten Meisters kam die Nachricht von seinem plötzlichen Tode.
0036Das Dirigentenpult, welches die Sänger vorgestern in der 
0037Generalprobe mit grünem Lorbeer geschmückt, stand an jenem
003814. November verwaist und schwarz umfort. Dahinter an
0039einem kleineren Pulte dirigirte J. B. Schmiedl den
0040Elias“; Musiker, Sänger und Sängerinnen, tausend an der
0041Zahl, umstanden ihn in Trauergewändern. Diese Mendels-
0042sohn-Feier war das letzte von einer Reihe Musikfesten, welche
0043die Gesellschaft der Musikfreunde im Laufe von 35 Jahren
0044in der Winter-Reitschule abgehalten. Dieser grandiose, musi-
0045kalischen Wirkungen überaus günstige Saal ist auch ganz eigent-
0046lich die Wiege der Gesellschaft der Musikfreunde, unseres ersten
0047großen Concert-Instituts.


0048Auch damals war es ein von schwerem Kriegsunglücke
0049angeregter patriotisch-wohlthätiger Zweck, der über 700 Mu-
0050siker aus allen Ständen am 29. November 1812 zu einer
0051Aufführung des Händelʼschen Oratoriums „Timotheus“
0052vereinigte, und zwar eben in der zum erstenmale für Con-
0053certzwecke eingeräumten und hergerichteten kaiserlichen Winter-
0054Reitschule. Es ist bekannt, wie in Folge dieser epochemachen-
0055den Production sich unmittelbar die „Gesellschaft der österrei-
0056chischen Musikfreunde“ bildete und statutenmäßig nebst den
0057eigentlichen „Gesellschafts-Concerten“ im großen Redouten-
0058saale alljährlich die Aufführung eines großen Oratoriums in
0059der Winter-Reitschule festsetzte. Diese „Musikfeste“ (so
0060nannte man alle Concerte in der Winter-Reitschule der star-
0061ken Besetzung halber) fanden in den ersten fünf Jahren wirk-
0062lich regelmäßig statt, verstummten hierauf durch volle achtzehn
0063Jahre, um 1834 wieder aufgenommen und bis zu
0064jener Trauerfeier im Jahre 1847 mit geringen Unterbre-
0065chungen fortgesetzt zu werden.*)


0077Gerne riefen wir uns gestern diese rühmliche musikalische
0078Vergangenheit der Winter-Reitschule zurück, nicht blos in
0079historischem Interesse, sondern in dankbarem Genuß der Ge-
0080genwart und hoffnungsvollem Anknüpfen derselben an die
0081Zukunft. Wer diesen Tonsturm durch den Saal brausen
0082hörte, diese von Herbeck unvergleichlich beherrschten impo-
0083santen Massen betrachtete, der mußte sich unwillkürlich die
0084noch größere und reinere Wirkung ausmalen, welche hier ein
0085großes Orchester mit ganzem Chor im Dienste classischer
0086Musik erreichen würde. Wie müßte Händelʼs „Allelujah“,
0087wie Beethovenʼs D-Messe hier klingen! So hoffen wir denn,
0088daß Herbeck, der den verloren geglaubten Schlüssel zur
0089Winter-Reitschule zu finden verstand, ihn nicht für immer
0090wieder aus der Hand geben, sondern damit der Wiener Mu-
0091sikwelt eine neue Quelle großartiger Eindrücke erschlie-
0092ßen werde.


0093Das Programm des gestrigen Sängerfestes bestand durch-
0094wegs aus bekannten Chören, es beschränkt somit unseren Be-
0095richt lediglich auf die Ausführung. Es wird kaum geleugnet
0096werden, daß das Aufthürmen des Quantitativen, blos Mas-
0097senhaften einer Besetzung nur sehr geringen künstlerischen
0098Werth hat. Der Musiker wird einen nicht allzu großen Raum,
0099einen nicht allzu starken, dafür aber beseelteren, beweglicheren
0100Chor stets vorziehen. Obendrein hat die Steigerung der Ton-
0101stärke ihre akustische und ästhetische Grenze, d. h. die Wir-
0102kung wächst mit der Quantität der ausführenden Kräfte nur
0103bis zu einem gewissen Punkt, der ungefähr dem chemischen
0104Begriff der „Sättigung“ entspricht: über diesen hinaus bleibt
0105die akustische Wirkung stehen und geht die ästhetische sogar
0106zurück. Grillparzerʼs Wort: „Was ungeheuer, ist darum
0107nicht groß“, findet auf musikalische Monstre-Productionen, wie
0108sie zumeist in England beliebt sind, nur zu häufige Anwen-
0109dung. Trotzdem wäre es pedantisch, wollte man selbst ausnahms-
0110weise, bei seltenen und außerordentlichen Anlässen, dem mate-
0111riellen Reiz der Schallkraft alles Recht bestreiten; ganz abge-
0112sehen von der Wirkung auf das große Publicum, wird dabei
0113ein eigenthümliches Interesse auch den Musiker eine zeitlang
0114fesseln können. Er wird die Aufgabe des Dirigenten eines
0115solchen Massenchors darin finden, alle Seiten, alle Klang[2]-
0116charaktere des akustischen Reizes zu charakteristischer Gel-
0117tung zu bringen. Hofcapellmeister Herbeck hat dies Problem
0118mit sicherem Blick erfaßt und trefflich gelöst. In „Kriegers
0119Gebet“ im „Pilgerchor“, empfanden wir die überwältigende
0120Wirkung des entfesselten breitesten Tonstroms, die imposante
0121Kraft als solche; in KreutzerʼsCapelle“ und AbtʼsVineta“
0122dagegen ein piano und pianissimo von unbeschreiblich weicher
0123Fülle und Zartheit. Die Verwandtschaft mit Orgelklängen
0124war mitunter auffallend. Wähnte man in den zwei erstge-
0125nannten Chören eine Orgel mit vollem Werk daherbrausen
0126zu hören, so glich das leise und doch so volle, weiche Aus-
0127klingen der beiden andern Chöre einer schönen Mischung sanf-
0128ter Orgelregister. Zwei Volkslieder, deren schlichte Gemüth-
0129lichkeit durch die starke Besetzung Manchem vielleicht gefährdet
0130erschien, gelangen in der Ausführung überaus schön: das
0131schwäbische Tanzlied“ entbehrte nicht der Grazie und Leichtigkeit,
0132das kärntnerische Lied nicht der ihm eigenen nachdenklichen Innig-
0133keit. Aus diesem köstlichen Lied: „O Dirndel, tief drunten im
0134Thal“ strömte eine solche Fülle reinen Wohlklangs, daß wir
0135ihm den Preis unter allen Vorträgen zuerkennen möchten.
0136Der Effect allmäligen, stetigen Anschwellens und Abnehmens
0137der Tonstärke ein ganzes Musikstück hindurch, wurde in
0138GrétryʼsChor der Schaarwache“ trefflich durchgeführt. Der
0139Chor mußte wiederholt werden, desgleichen die „Capelle“ und
0140das „Tanzlied“. Auch das kärntnerische Volkslied wünschte man
0141allgemein ein zweitesmal zu hören; wir begreifen jedoch, daß
0142der Dirigent gerade mit diesem bei aller Sanftheit sehr an-
0143strengenden Chor zurückhalten mußte. Die Vocalchöre machten
0144durchwegs eine schönere, reinere Wirkung als die begleiteten.
0145Das Accompagnement ward mit Ausschluß aller Streich-
0146instrumente von den Capellen zweier Infanterie-Regimenter
0147besorgt, welche an dem Ruhm österreichischer Militärmusik
0148nicht unverdient theilnehmen. Die tiefen Blechinstrumente
0149klangen majestätisch und verschmolzen gut mit den Stimmen,
0150während die Clarinetten und Oboen etwas Schreiendes, scharf
0151Näselndes hatten, das namentlich in dem Oedipus-Chor und
0152den mittleren Strophen von Schubertʼs „Widerspruch“ un-
0153günstig hervorstach. Von imposanter Wirkung war die Mili-
0154tär-Capelle in „Kriegers Gebet“, wo sie hinpaßt, und in dem
0155Chor der Schaarwache“, welcher durch die Janitscharenmusik
0156einen von Grétry kaum geahnten Glanz erhielt. Mit dem
0157tactweisen Dreinschlagen der großen Trommel und der Becken
0158in dem Wagnerʼschen Pilgerchor können wir uns nicht ein-
0159verstehen: der sehr vermehrte Jubel, den das also vermartia-
0160lisirte Pilgergebet hervorrief, wirft übrigens ein seltsames
0161Streiflicht auf den Charakter der Composition selbst. Von
0162Seite ihres Inhaltes betrachtet, wirkten in der gestri-
0163gen Massenbesetzung jene Compositionen am glücklichsten,
0164welche ein starkes, einfaches Gefühl ungebrochen zum Ausdruck
0165bringen und dadurch eine gesammelte Klangwirkung und
0166leichte Verständlichkeit ermöglichen: „Die Capelle“, „Vineta“,
0167Kriegers Gebet“, „Pilgerchor“, die Volkslieder. Die Stücke
0168hingegen, welche einen geistig bewegteren, gedankenreicheren In-
0169halt in mehr dialektischer Weise entwickeln, größere Deutlich-
0170keit des Wortes und feinere Nuancirung erheischen, befriedigten
0171weniger. MendelssohnʼsOedipus-Chor“ und „Liebe und
0172Wein“ haben durch die Massenbesetzung nicht nur nicht ge-
0173wonnen, sondern verloren; dasselbe sagten wir ohneweiters
0174von Schubertʼs „Widerspruch“, hätte nicht der Eine pracht-
0175volle Moment, das lange, kraftvolle Aushalten auf „Unend-
0176lichkeit!“ uns bestochen.


0177Wer eine Ahnung von den Schwierigkeiten und den auf-
0178reibenden Mühen eines solchen Concertes hat, wird die außer-
0179ordentliche Leistung des Hofcapellmeisters Herbeck zu wür-
0180digen wissen. Wir wissen nicht, ob wir seine aufopfernde
0181Hingebung bei den Proben höher stellen sollen, oder die
0182heroische Mischung von Ruhe und Energie, mit der er die
0183Aufführung selbst leitete. Herbeck hat geistig bedeutendere
0184Probleme gelöst, höhere Kunstziele erreicht, aber mit so enor-
0185men Heeresmassen auf so weitem Schlachtfeld haben wir ihn
0186bisher noch nicht operiren gesehen. Er hat dieses neue Probe-
0187stück mit einer Meisterschaft ausgeführt, für welche selbst die
0188grämlichste Kritik nur Worte der Bewunderung haben dürfte.

Fußnoten
  • *)Das vollständige Verzeichniß sämmtlicher in der kaiserlichen
    Winter-Reitschule gegebenen Musikfeste ist folgendes: 1812 und 1813 
    Timotheus“ von Händel; 1814Samson“ von Händel; 1815Der
    Messias“ von Händel; 1816Die Befreiung Jerusalems“ von Abbé
    Stadler; 1834Belsazar“ von Händel; 1837Die Schöpfung“ von
    Haydn; 1838Die Jahreszeiten“ von Haydn; 1839Paulus“ von
    Mendelssohn (erste Aufführung); 1840Timotheus“ von Händel;
    1841 zwei Concerts spirituels; 1842Judas Maccabäus“ von Hän-
    del; 1844Die Jahreszeiten“ von Haydn; 1845Christus am Oelberg“
    von Beethoven; 1846Paulus“ von Mendelssohn; 1847Elias“ von
    Mendelssohn (erste Aufführung); 1866 Herbeckʼs Sängerfest.