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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 793. Wien, Dienstag den 13. November 1866

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Concerte.


0002Ed. H. Die „Philharmoniker“, sowie die „Gesellschaft
0003der Musikfreunde“ haben den Winter-Cyklus ihrer Productio-
0004nen eröffnet. Mit feinem Sinn war das Programm des er-
0005sten Gesellschafts-Concertes aus Compositionen von Beethoven,
0006Schubert, Weber, Spohr und Mendelssohn zusammengestellt
0007— durchwegs moderne Tondichter, die ein verwandter Zug
0008der Romantik miteinander verbindet. Wie wir vernehmen
0009(denn leider hörten wir das Concert nicht selbst), wurde das
0010Eröffnungsstück, Spohr’s Ouvertüre zum „Berggeist“, sehr
0011kühl aufgenommen. Eine große künstlerische Bedeutung des
0012Werkes können wir allerdings nicht dieser Aufnahme ankla-
0013gend entgegenhalten, doch hat es stets anziehend und harmo-
0014nisch auf uns gewirkt. Gewiß wäre das gänzliche Verschwin-
0015den Spohr’scher Musik aus den Concerten als ein Verlust
0016und ein Unrecht zu beklagen. Für unser Theil wenigstens
0017bekennen wir, daß wir gerade seit dem Seltenwerden
0018Spohr’scher Musik uns jedesmal angenehm berührt fühlen,
0019wenn diese Entfremdung von Zeit zu Zeit durch eine Com-
0020position seiner besseren Periode (vor 1846) unterbrochen wird.
0021Spohr ist nicht nur ein tüchtiger Meister, sondern eine
0022wahrhaft liebenswürdige und eigenthümliche Individualität,
0023freilich auch eine einseitige, sich gern wiederholende, weßhalb
0024denn auch am besten genießt, wer sie mäßig genießt. Kaum
0025zwei Decennien ist’s her, daß man vor einem allzu eifrigen
0026Spohr-Cultus noch warnen mußte, und jetzt bedarf es schon
0027einiger Anstrengung, um die Werke des Meisters vor dem
0028Schicksale gänzlichen Verschallens zu retten! — Frau Marie
0029Wilt
sang mit entschiedenem Erfolg die große Arie der Reiza 
0030aus Weber’sOberon“ und die Arie mit Chor aus Men-
0031delssohn’s
unvollendeter Oper „Loreley“. Letzteres Stück,
0032zuletzt im Jahre 1855 von Fräulein Tietjens hier gesun-
0033gen, erschien einem großen Theil des Publicums als Novität.
0034Bei aller Bewunderung technischer Vorzüge konnten wir uns
0035doch für diese „Loreley“ niemals erwärmen. Das Stück ist glän-
0036zend im Sinne des Bestechenden, denn seinem unleugbaren
0037äußeren Effect liegt kein entsprechender substanzieller Gehalt
0038zu Grunde. Speciell vom musikalischen Standpunkt erscheint 
0039die technische Meisterschaft in der übersichtlichen Anordnung
0040des Ganzen, wie in der glänzenden Darstellung alles Einzel-
0041nen bewundernswerth, während die eigentliche musikalische Kern-
0042gestalt, die melodische Erfindung, von geringer Bedeutung ist. Dra-
0043matisch angesehen, dünkt uns das Phantastische allzusehr den Aus-
0044druck des Gefühls zu überragen, die Leidenschaft mehr angeflogen,
0045als aus der Tiefe hervorbrechend. Das märchenhafte Element
0046steht hier gegen das menschliche im entschiedensten Vortheil;
0047neben den kühlen, aber blendenden Nixen-Chören tönt die
0048Klage des Mädchens nicht warm und tief genug. Man ver-
0049gesse nicht, daß dieser Aufruf der Wassergeister den Höhen-
0050punkt in Leonorens Herzens-Tragödie bildet; das Aeußerste ist an
0051ihr gefrevelt worden, „der Menschheit ganzer Jammer faßt
0052sie an“. Dafür fehlen der Mendelssohn’schen Composition
0053die entsprechenden Töne. Die beiden wichtigsten und für den
0054Componisten verpflichtendsten Stellen in Leonorens Klage
0055waren vielleicht die Verse: „Für meine Liebe hat er mich zer-
0056treten; weil ich ihm Alles gab, däucht’ ich ihm nichts“ —
0057dann der Ausruf: „Nimm hin zum Pfande, nimm hin den
0058Brautring!“ In Mendelssohn’s Composition klingen sie
0059conventionell und gemacht; Worte wie diese mußten wie heiße
0060Thränen in die kühle Fluth fallen. Auch die beiden größeren
0061Gesangssätze Leonorens, das Andante in Fis-moll und das
0062Schluß-Allegro in E-dur: „Es sei!“ athmen mehr rhetori-
0063sches Pathos als wahre Leidenschaft. Das Beste bleibt jeden-
0064falls der einleitende Chor der Wassergeister, von anmuthigem
0065Schaukeln fortschreitend bis zu wogendem Gebrause, das
0066ganze Bild übergossen mit den effectvollsten Farben der
0067Orchestrirung.


0068Bekanntlich hat Mendelssohn von dem ganzen Gei-
0069bel
’schen Libretto „Loreley“ nur diese Eine Scene voll-
0070endet. Es macht einen tragischen Eindruck, den Tondichter
0071sein ganzes ruhmvolles Leben hindurch rastlos und fruchtlos
0072nach einer Oper ringen zu sehen. Von seinen dramatischen
0073Jugendarbeiten: „Cammacho“ und „Heimkehr aus der
0074Fremde“ hat die erstere im Theater gar kein Asyl, die letztere
0075nur ein sehr flüchtiges gefunden. Seitdem hatte Mendelssohn 
0076nie aufgehört, nach einem würdigen Operngedicht zu streben
0077und darüber mit Poeten wie Immermann, E. Devrient,
0078Geibel u. A. aufs eifrigste zu unterhandeln. Durch Zufall
0079stießen wir kürzlich auf einen neuen, noch nicht bekannt ge-
0080wordenen Beitrag zu diesem Tantalus-Capitel in Mendels-
0081sohn’s Leben. Es ist ein eigenhändiger Brief Mendels-
0082sohn’s
an den Dichter Bauernfeld, den er gleichfalls
0083um einen Operntext angegangen hatte. Das Schreiben (datirt
0084Berlin, am 10. Juli 1838) bezieht sich auf ein nicht näher
0085bezeichnetes Libretto, das ihm Bauernfeld zugeschickt, ohne
0086den Componisten damit befriedigen zu können.


0087„Ich wünschte mir,“ schreibt Mendelssohn, „zum Anfang
0088keine Zauber-Oper, oder vielmehr, ich traue mir in diesem
0089Fache nicht genug Talent zu, während ich im rein ernsten oder
0090rein heiteren Styl mit mehr Zuversicht arbeiten würde. Schwebt
0091Ihnen nun ein ernster, historischer oder ein intriguanter oder
0092ganz heiterer menschlicher Stoff vor, so bitte ich, theilen Sie ihn mir
0093mit.“ Das Bauernfeld’sche Libretto hieß, wie uns der Dich-
0094ter freundlichst mittheilt: „Der Geist der Liebe“, und war eine
0095richtige Zauber-Oper in phantastisch-orientalischem Costüme,
0096mit Nixen, Feen und Dämonen. Es ist bemerkenswerth, daß
0097Mendelssohn in seinem Briefe an Bauernfeld (sowie ein-
0098mal später gegen Otto Prechtler) gerade die phantastisch-
0099märchenhaften Stoffe ablehnt, für welche ihn die allgemeine
0100Stimme auf Grund seines herrlichen „Sommernachtstraum“
0101vorzüglich befähigt und eingenommen glaubte. Im Grunde
0102mag ihn weniger ein Mißtrauen in sein Talent, als die rich-
0103tige Ueberzeugung geleitet haben, daß die Zeit der Nixen- und
0104Elfendramen vorüber sei. War doch eben unter Anderm der
0105früher erwähnte Spohr’sche „Berggeist“ mit seinen großen
0106musikalischen Schönheiten an einem kindischen Geistertext ge-
0107scheitert.*) Und siehe da, am Ende spielt die seltsame Ironie
0114des Schicksals Mendelssohn doch wieder eine Nixen-Oper, die
0115Loreley“, in die Hände. Müde des Suchens und Harrens,
0116versöhnt er sich damit, entschließt sich zur Composition, beginnt
0117diese gerade bei der Nixenscene und stirbt darüber.


0118Von Schubert brachte das Gesellschafts-Concert jenes
0119bezaubernde Symphonie-Fragment (H-moll), das im vorigen
0120Jahre zur ersten Aufführung gelangt war und dessen Ent[2]-
0121deckung wir Herrn Herbeck verdanken. Damals stand es
0122noch sehr in Frage, ob die im Privatbesitz befindliche Partitur
0123der Musikwelt je zugänglich sein werde; heute können wir
0124mit Vergnügen melden, daß Herr Spina die beiden Schu-
0125bert’schen Symphoniesätze für seinen Verlag erworben hat und
0126sie demnächst in Partitur und Clavier-Auszug (von C.
0127Reinecke) veröffentlicht. Ueberhaupt zeigt jetzt Spina’s 
0128Verlag eine rühmenswerthe Thätigkeit für Schubert; im Laufe
0129der letzten Monate erschienen die Ouvertüren zu „Fierabras“,
0130Alphons und Estrella“, „Rosamunde“ (nebst zwei Entre-
0131actes) und die „Italienische“ in C in Partitur und Clavier-
0132Arrangements, ferner die Cantate „Lazarus“ in sehr sorgfäl-
0133tigem Clavier-Auszug von Herbeck, endlich die erste voll-
0134ständige, kritisch redigirte Sammlung von Schubert’s Män-
0135nerchören. Hofcapellmeister Herbeck hat die Redaction dieser
0136neuen Ausgabe übernommen und derselben auch ein langes
0137„Vorwort“ vorgedruckt, das sich über seine kritische Methode
0138und das vorgefundene musikalische Material kurz faßt,
0139um sich dann desto fesselloser in fast hymnenartigem
0140Preise Schubert’s zu ergehen. Durch die Wohlfeilheit
0141dieser Sammlung ist Schubert’s Chormusik selbst den kleine-
0142ren Vereinen zugänglich gemacht und durch die von Herbeck 
0143beigefügten Vortragszeichen Studium und Ausführung wesent-
0144lich erleichtert. Die Menge dieser nuancirenden Vortragszeichen
0145ist uns etwas groß vorgekommen; liegt doch für den Musiker
0146die Besorgniß vor einer allzu detaillirten, koketten Vortrags-
0147weise sehr nahe. Indessen bescheiden wir uns gerne vor der
0148praktischen Erfahrung, welche Herbeck wahrscheinlich zu der
0149Ueberzeugung geführt hat, daß kleine, minder geschulte Vereine
0150reichlicher Vortragszeichen bedürfen, um einen Schubert’schen
0151Chor nicht allzu monoton herabzusingen.**) So führt denn 
0162Herbeck seine verdienstvolle Thätigkeit für Schubert unermüd-
0163lich fort, und wie oft schon wir ihm dafür gedankt, wir werden
0164kaum so bald zu danken aufhören können.


0165Das erste der vom Hofopern-Capellmeister Dessoff ge-
0166leiteten „Philharmonischen Concerte“ ging am 11. d.
0167unter dem gleichen Andrange von Hörern vor sich, welcher
0168seit mehreren Jahren diese Productionen auszeichnet. That-
0169sache ist es, und eine unleugbar erfreuliche, daß die Philhar-
0170monischen Concerte seit sechs Jahren, also seit dem Eintritt
0171Herrn Dessoff’s, einen anständigen Reinertrag abwerfen,
0172was unter dessen Vorgängern nicht der Fall war. Unter Ni-
0173colai’s Nachfolgern, Reuling und Proch, fanden die Phil-
0174harmonischen Concerte äußerst geringen Anklang; unter
0175Eckert errangen sie zwar lebhafte künstlerische Anerkennung,
0176nicht aber eine hinreichende Betheiligung des Publicums.
0177Eckert brachte in der Saison 18541855 nur zwei Phil-
0178harmonische Concerte zu Stande, in der Saison 18561857 
0179drei, im Winter 18551856 nur Eines. Hierauf wurde das
0180Unternehmen, hauptsächlich aus pecuniären Rücksichten, durch
0181zwei volle Jahre sistirt, um noch einmal im Januar
01821860 von Eckert im Hofoperntheater aufge-
0183nommen zu werden, aber leider mit abermals un-
0184günstigem Kasse-Erfolg. Das Programm vom 11. d. brachte eine
0185neue Orchester-Suite von Raff und an bekannten Composi-
0186tionen Beethoven’s achte Symphonie, Weber’s „Oberon“-Ouver-
0187türe und Berlioz’ „Römischen Carneval“. Die Aufführung
0188war durchaus fein und exact; das Allegretto der Beethoven-
0189schen Symphonie mußte wiederholt werden. Die Ouvertüre
0190zum „Römischen Carneval“, überwiegend auf grandiosen
0191Schall-Effect berechnet, litt unter der Ungunst des Locals,
0192das kein eigentliches Fortissimo aufkommen läßt. Man konnte
0193dies recht deutlich an dem bekannten Schlag vor dem Allegro
0194der „Oberon“-Ouvertüre wahrnehmen, der im Redoutensaal wie
0195ein Donnerkeil ins Publicum fährt, während er im Kärntner-
0196thor-Theater bei gleichem Kraftaufwand etwa die Hälfte die-
0197ser Wirkung erzielt. Raff’s C-dur-Suite, op. 102, besteht
0198aus fünf Sätzen. Der erste bringt eine breite, pompöse „In-
0199troduction“ und darauf eine sehr trockene Fuge mit äußerst
0200physiognomielosem Thema und unruhiger Durchführung. Es
0201folgt ein „Menuett“, unbedeutend in den Themen, aber von 
0202graziöser Haltung und sehr pikanten Details. Aehnliches läßt
0203sich von den beiden folgenden Sätzen, den besten der
0204Suite, sagen, einem gesangvollen „Adagietto“ und
0205einem recht niedlichen, elfenartig plaudernden „Scherzo“.
0206Der gegen das frühere wieder abfallende Schlußsatz ist ein
0207„Marsch“, von nicht origineller Erfindung, aber sehr effect-
0208voller Mache. Unter den Orchesterwerken der neudeutschen
0209Schule und unter den Raff’schen speciell nimmt die Suite 
0210eine beachtenswerthe Stelle ein. Gegen die „Preis-Symphonie“
0211desselben Componisten gehalten, erscheint uns die „Suite“
0212als erfreulicher Fortschritt, sie verzichtet auf die ermüdende
0213Länge und Ueberfüllung, wie auf allzu starke harmonische und
0214rhythmische Torturen. Raff hat in dieser Suite sich größerer
0215Klarheit und Einfachheit beflissen, also einen Weg eingeschla-
0216gen, zu welchem wir dem begabten Componisten nur gratu-
0217liren können. Das Werk hat uns auf das anregendste be-
0218schäftigt, durch viele schöne Einzelheiten erfreut und über-
0219rascht; einen bestimmten, starken und nachhaltigen Eindruck
0220haben wir aber nicht mit fortgenommen. Es ist dies
0221ein Charakterzug dieser ganzen modernen Schule, deren Prin-
0222cip wir „Emancipation des Details“ nennen möchten. Sie
0223bringt es über die geistige Anregung und das momentane
0224Gefallen nicht hinaus bis zur vollen, nachhaltigen Befriedi-
0225gung. Es fehlt ihrer Musik bei allem Glanz und Esprit
0226an jener inneren Nothwendigkeit und überzeugenden logischen
0227Gewalt, welche die Tondichtungen der Classiker, besonders
0228Beethoven’s, auszeichnet. Wir haben nicht ein natürliches
0229Werden und Wachsen der Ideen vor uns, sondern ein musi-
0230kalisches Machen. Immerhin haben wir, wie gesagt, an
0231Raff’sSuite“ eine anziehende neue Bekanntschaft gemacht,
0232für welche wir den „Philharmonikern“ zu Dank verpflich-
0233tet sind.


0234Schließlich erwähnen wir noch der Festliedertafel 
0235des „Wiener Männergesang-Vereins“, welche Samstag im
0236Sophienbad-Saale zu lebhafter Befriedigung des zahlreichen
0237Publicums stattfand. Von den Chören, die sämmtlich unter
0238Leitung des neuen Chormeisters Herrn Weinwurm sehr
0239präcis zusammengingen, trug ein reizender kleiner Chor von
0240Engelsberg: „Die Liebe als Nachtigall“, den Preis davon.

Fußnoten
  • *)Spohr’sBerggeist“ ist eine Art verdoppelter „Hanns Hei-
    ling“, indem nicht blos der regierende Berggeist, sondern zugleich auch
    sein Kammerdiener „Droll“ sich nach irdischer Liebe sehnt. Wir sehen
    sie selbander zur Erde aufsteigen, daselbst schreckliches Unheil anrichten
    und schließlich, mit irdischen Körben beglückt, sich wieder in ihre geo-
    logische Reichsanstalt zurückziehen.
  • **)Von einigen dieser Winke darf man sich heilsame Wirkung
    versprechen, so wird z. B. die Bezeichnng: „Allegretto assai tenuto“
    mit dem Beisatz: „Nicht abgehackt, sondern immer gebunden zu sin-
    gen“, den zweiten Theil der „Nachtigall“ nach Möglichkeit vor dem
    allzu derben Hervorheben der Trivialität retten, welche dem Stücke un-
    leugbar anhaftet. Ebenso dürften die Vereinfachungen, welche Herbeck 
    dem Tenorpart im „Dörfchen“ vorgesetzt hat, auch minder geübten
    Sängern die Composition mundgerecht machen, ja sie scheinen uns
    selbst, abgesehen von dieser Rücksicht, den unpassenden und altmodi-
    schen Opernrouladen des Originals vorzuschieben.