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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 814. Wien, Dienstag den 4. December 1866

[1]

Concerte.


0002Ed. H. Als wir kürzlich in den Blättern die Notiz
0003lasen, es werde eine vollständige theatralische Aufführung der
0004Antigone“ von Sophokles mit Mendelssohnʼs Musik vor-
0005bereitet, da sagten wir von ganzem Herzen: Amen. Denn
0006leider hat Wien noch niemals Gelegenheit gehabt, den leben-
0007digen dramatischen Eindruck der griechischen Tragödie an sich
0008zu erfahren, während das Publicum in Berlin, München 
0009und Dresden die Aufführungen der „Antigone“ zu den erhe-
0010bendsten Kunstgenüssen zählt. Ein einzigesmal machte das
0011Theater an der Wien, vor etwa 18 Jahren, einen Versuch:
0012er ward nur halb gewagt und ist ganz mißlungen. Diese
0013verschämte „Antigone“-Aufführung war nämlich nichts weiter
0014als eine Lectüre mit vertheilten Rollen; die Schauspieler
0015saßen in Frack und Glacéhandschuhen vor den Fußlampen
0016und lasen ihren Part aus dem Buche, die Sänger hinter
0017ihnen aus den Noten. Das Publicum schien gleich nach den
0018ersten Scenen in der besten Stimmung, sich das Eintritts-
0019geld an der Kasse zurückgeben zu lassen. Es hätte sich seither
0020längst verlohnt, die scenische Aufführung der „Antigone“ ins
0021Werk zu setzen, da gerade Wien über theatralische und musi-
0022kalische Kräfte verfügt, wie keine zweite Stadt in Deutsch-
0023land. Sei es nun, daß der Plan einer vollständigen Dar-
0024stellung auch diesmal nicht ernstlich gefaßt oder daß er von
0025Hindernissen überwältigt wurde — die „Antigone“, welche
0026uns vorgestern im großen Redoutensaal erschien, war eben
0027nur der oftgehörte Musik-Extract mit „verbindender Decla-
0028mation“. Der Wiener Männergesang-Verein gab die
0029Akademie, in welcher der neue, von der Universität her vor-
0030theilhaft bekannte Chormeister Herr Weinwurm zum ersten-
0031mal in seiner gegenwärtigen Stellung öffentlich fungirte.


0032Das Abtrennen, Abzapfen einer zu einem dramatischen 
0033Ganzen gehörigen Musik bleibt an sich stets ein ästhetischer
0034Nothbehelf, mit dem wir je nach dem Charakter der Musik
0035uns schwerer oder leichter abfinden. Die Männergesang-Ver-
0036eine handeln in vollem Recht, wenn sie ihr an größeren ern-
0037sten Compositionen armes Repertoire durch die Mendelssohn-
0038schen Chöre zu „Oedipus“ und „Antigone“ bereichern und
0039dieselben, unbekümmert um deren theatralische Bestimmung, als
0040Concertmusik festhalten. Durch ihren absoluten Musikgehalt
0041wie durch ihre relativ größere Unabhängigkeit von der Scene
0042sind diese Chöre mehr als andere geeignet, ein selbstständiges
0043Concertleben zu führen; ungleich mehr z. B. als die Meyer-
0044beer
ʼsche „Struensee“-Musik, welche kurz vorher in einer
0045Wohlthätigkeits-Akademie mit sehr zweifelhaftem Erfolg vor-
0046geführt wurde. Wir hatten in Wien Gelegenheit, die Meyer-
0047beer
ʼsche Musik mit dem Drama „Struensee“ und ohne 
0048dasselbe zu hören, im Theater und im Concertsaal. Für eine
0049begleitende Schauspielmusik gibt sie viel zu viel, ihr meldo-
0050dramatischer Epheu kriecht in alle Ritzen des Gedichtes und
0051verwischt die unentbehrlichen Grenzlinien zwischen Drama und
0052Oper. Als selbstständige Concertmusik hingegen gibt sie zu
0053wenig und das Wenige zu formlos und unruhig. Uebrigens
0054dürfte noch eher Mendelssohn künftige Concert-Aufführungen
0055der „Antigone“ vorbedacht haben, als Meyerbeer die Isoli-
0056rung seiner „Struensee“-Musik. Letztere sollte ja nur das Drama 
0057des geliebten Bruders Michel Beer auf den Bühnen flott
0058machen und erhalten; der stärkere Bruder wollte mit dieser
0059Partitur den schwächeren in die Unsterblichkeit einkaufen.
0060Meyerbeer hat es damit nicht leicht genommen; wir zählen
0061seine „Struensee“-Musik zu den größten Anstrengungen, die er
0062gemacht hat. Mitunter glaubt man förmlich den Schweiß die-
0063ses künstlerischen Ringens zu sehen, und fürwahr, viel un-
0064williger würde man sich davon abwenden, sprache nicht jeder
0065Tropfen: Ich bin der Hüter meines Bruders.


0066Gegen Meyerbeerʼs „Struensee“-Composition, welche
0067mit dem Drama stirbt und ohne das Drama nicht leben 
0068kann, steht Mendelssohnʼs, „Antigone“-Musik ungleich günstiger.
0069Sie verhält sich zur Tragödie des Sophokles ungefähr wie
0070der antike Chor zu dem dramatischen Ganzen überhaupt; eine
0071Art Staat im Staate, nicht mithandelnd, sondern die Hand-
0072lung nur mitdenkend und mitfühlend. Was hier zu näherem
0073Verständniß noch wünschenswerth bleibt, kann durch ein soge-
0074nanntes „verbindendes Gedicht“ leicht beschafft werden. Wir
0075gestehen unsere lebhafte Abneigung gegen diese Art poetischer
0076Fremdenführer, die uns aus der idealen Region der Musik
0077alle fünf Minuten wieder auf die platte Erde herabziehen.
0078Was wir lebendig vor uns sehen sollen, davon wird uns in
0079säuberlichen Versen erzählt, daß es eben geschehen sei oder so-
0080fort geschehen werde. Wir würden, wo es nur halbwegs mög-
0081lich, alle verbindenden Declamationen entfernen und durch
0082Ueberschriften und kurze Bemerkungen im Programm ersetzen.
0083Ueberdies sind die meisten dieser erklärenden Gedichte durch
0084ihre Breite und Redseligkeit weit mehr geeignet, die Zuhörer
0085zu zerstreuen und zu langweilen, als sie zu fesseln.


0086Mit Ausnahme des immer zündenden Bacchus-Chors schien
0087Antigone“ die Zuhörer wenig zu erwärmen. An der Aus-
0088führung lag es wol nicht, denn die Chöre gingen sehr präcis,
0089und das Gedicht fand in Herrn Lewinsky, Fräulein Bog-
0090nàr
und Fräulein Schweigert vortreffliche Sprecher.


0091Wenige Tage bevor Herr Weinwurm sich als Her-
0092beckʼs
Nachfolger im Männergesang-Vereine dem Publicum
0093vorstellte, debutirte Weinwurmʼs Nachfolger, Herr Dr. Eyrich,
0094zum erstenmal als Chormeister des „Akademischen Gesang-
0095vereines“. Obwol einem andern Beruf als dem musikalischen
0096angehörend, ist Herr Eyrich als eines der ältesten und ver-
0097dienstvollsten Mitglieder des Akademischen Gesangvereines so
0098sehr eingelebt in dessen Productionen, daß er die Leitung des-
0099selben mit Beruhigung antreten konnte. Die von ihm diri-
0100girte „Liedertafel“ fand allgemeine Anerkennung. Das Haupt-
0101gericht auf dieser Tafel war ein neues Singspiel von Engels-
0102berg
, „Der Rath von Wolkenkukuksheim“, dessen glänzenden [2]
0103Erfolg ein anderer Referent bereits gemeldet hat. Zu der
0104Beliebtheit des Componisten gesellte sich diesmal noch das
0105stadtbekannte Censur-Martyrium seines Werkes, um diesem
0106eine besondere Aufmerksamkeit zu sichern. In der That hat
0107Engelsbergʼs komisches Singspiel den dreifachen Wahl-In-
0108stanzenzug unserer Volksvertretung, die sich aus der Gemeinde
0109zum Landtag und von da zum Reichsrath entpuppt, vollstän-
0110dig nach rückwärts durchgemacht. Ursprünglich war das Stück
0111eine allerliebste Reichsrathssitzung, aus dieser wurde ein
0112vorsichtigerer Landtag, endlich aus diesem ein noch ungefähr-
0113licherer, zahmer Gemeinderath, und zwar in Wolkenkukuks-
0114heim. Was die Vorsicht hoher Behörden an diesem von der harm-
0115losesten Heiterkeit eingegebenen Scherz bedenklich fand, können wir
0116nicht ergründen; so viel aber steht außer Zweifel, daß die
0117Verwandlung der „Minister“ in „Magister“ sammt zahlreichen
0118ähnlichen Entstellungen den ganzen Boden dieses Scherzes
0119verrückt und mitunter die besten Einfälle in Unsinn verkehrt
0120hat. Melodien sind glücklicherweise zollfrei, und so ist wenigstens
0121der frischen und herzlichen Musik Engelsbergʼs kein Leid
0122geschehen. Der Componist ist eine zu feinfühlende Natur, um
0123nicht zu wissen, wie ermüdend und reizlos ein zu lang an-
0124haltender Spaß wird. Er hat darum in diesem wie in ähn-
0125lichen früheren Stücken einen sehr glücklichen Wechsel zwischen
0126scherzhaften komischen Scenen und ernsteren lyrischen Inter-
0127mezzos eintreten lassen. Erstere sind ebenso weit vom derb
0128Possenhaften entfernt, als diese von leidenschaftlichem Pathos;
0129so heben sich denn diese contrastirenden Bilder gegenseitig,
0130ohne einander Lügen zu strafen. Hört man z. B. im „Land-
0131tag“ nach der hochkomischen Finanzdebatte das zarte, von leich-
0132ter Wehmuth angehauchte Lied „von bessʼrer Zeit“ und am
0133Schluß des lustigen Banketts den aus übervollem Herzen her-
0134vorbrechenden Ruf der Vaterlandsliebe, so hat man in Wahr-
0135heit kein willkürliches Stückwerk, sondern ein kräftiges, klares
0136Gemüth vor sich, das mit der gesundesten komischen Kraft
0137die zarteste Empfindung des Herzens vereinigt.


0138Hellmesbergerʼs zweite Quartett Soirée begann mit 
0139Schubertʼs G-dur-Quartett, einem Werke, das (nur stel-
0140lenweise Schubert’s ganzen Reichthum verrathend) die directe
0141Nachahmung Beethoven’scher Eigenthümlichkeiten an seiner
0142eigenen Kraft und Frische büßt. Hierauf spielte Fräulein
0143Auguste Kolár das Bachʼsche D-moll-Concert in vortreff-
0144licher Weise und unter stürmischem Beifall. Seltsamerweise
0145als „neu“ bezeichnet und wirklich in Wien noch nicht ge-
0146hört, war ein „Divertimento“ von Mozart für Streich-
0147quartett und zwei Waldhörner in B-dur. Aus der großen
0148Zahl Mozartʼscher Divertimentos, Serenaden, Cassationen
0149und dergleichen, welche, flüchtig und meist auf Bestellung ge-
0150arbeitet, den Stempel von Gesellschaftsmusik an der Stirn
0151tragen, heben sich zwei als wahre Meisterwerke heraus: das
0152eben genannte Divertimento in B (Nr. 287 bei Köchel)
0153und ein zweites in D-dur (Nr. 334 bei Köchel), welches
0154bereits von Hellmesberger gespielt wurde und dessen „An-
0155dante mit Variationen“ wir auch im letzten Philharmonischen
0156Concert hörten. Das neue „Divertimento“ hat uns von An-
0157fang bis zu Ende die größte Freude bereitet. Daß man die
0158Mozartʼschen Cardinaltugenden: Klarheit, Wohllaut und Form-
0159schönheit, auch hier nicht vermißt, ist selbstverständlich. Allein
0160es gibt unter den Jugend- und Gelegenheits-Compositionen
0161Mozartʼs gar manche, die trotz jener nirgends fehlen-
0162den Vorzüge doch zu wenig Ideengehalt und Begeisterung
0163verrathen, um uns heute noch entzücken zu können — genau
0164so wie es unter Haydnʼs Werken recht viele gibt, die man
0165unbedeutend, langweilig und veraltet nennen sollte, während
0166man hergebrachterweise lieber von „unverwelklicher Jugend“
0167und dergleichen spricht. Mit solchem, auf die bloße
0168Firma hin gleichmäßig ertheiltem Lob schadet man leider jenen
0169Werken der Meister, welche wirklich aus einem Beet geringer
0170oder halbwelker Blümchen frisch und reizend hervorragen. Dazu
0171gehört das Mozartʼsche Sextett in B-dur. Man hört, der
0172Meister hat es mit Lust und Freude geschrieben, und diese
0173Lust und Freude überströmt auch in die Herzen der mühelos
0174lauschenden Hörer. Großartiges Pathos, Leidenschaft und dra-
0175matische Blitze möge freilich Niemand erwarten, das Diverti-
0176mento verleugnet nirgends seinen Charakter als Gesellschafts-
0177musik, als musikalische „Unterhaltung“. Das concertante Her-
0178vortreten der ersten Violine, welche nicht ohne Koketterie die
0179pikanteste Conversation führt, der knappe Zuschnitt der sechs
0180Sätze, endlich der gefällige Aufputz des — ganz quartettmäßig
0181gesetzten — Stückes durch zwei tiefe Waldhörner halten jene
0182Physiognomie unverkennbar fest. Die beiden tiefen B-Hörner,
0183auf die Naturtöne beschränkt, greifen in das Getriebe des
0184musikalischen Gedankens nicht selbst ein, aber sie verleihen
0185dem Ganzen eine reizende Tonfülle und Färbung. Dieser
0186frische, gesättigte Klang der in den einfachsten Gän-
0187gen sich so friedlich bewegenden Waldhörner gibt dem
0188Bilde etwas eigenthümlich Idyllisches, Serenadenartiges. Wir
0189denken unwillkürlich an Gartenmusik und schmucke Rococco-
0190Pavillons mit erleuchteten Fenstern, unten im Park schöne,
0191seidenrauschende Damen mit gepudertem Haar, und Herren
0192mit feinen Gesichtern und bunter Tracht. Dies Alles in dem
0193idealisirenden Reiz einer fremdartigen und doch uns nahen
0194Vergangenheit, ohne den Beischmack von Lächerlichkeit, den
0195jetzt jene Lebensformen für uns so leicht annehmen. Auch auf
0196jene bemalten Fächer und Spitzenmanschetten sind Thränen
0197der Freude und des Kummers gefallen, wie heute, und unter
0198den hohen, goldgestickten Schnürleibchen des vorigen Jahrhun-
0199derts pochten die Herzen in Haß und Liebe, wie heute.
0200Mozartʼs „Divertimento“ zauberte ein Stück vergangenes Leben
0201vor uns hin. Das Stück wurde auch gar zu schön gespielt.
0202Hellmesberger fand seit lange keine so dankbare Stätte
0203für die anmuthige Eleganz seines Bogens, und seine Partner
0204(verstärkt durch die bewährten Hornisten Kleinecke und
0205Pichler, dann Herrn Wrany, dieses Muster eines discre-
0206ten Contrabassisten) unterstützten ihn mit einer Feinheit,
0207welche den Verehrern des köstlichen Mozartʼschen Vermächt-
0208nisses in guter Erinnerung bleiben wird.