Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 836. Wien, Freitag den 28. December 1866
[1]Concerte.
(Viertes Philharmonie-Concert. — Quartett von Hellmesberger. — Fräulein Joёl.)
0003Ed. H. Der zweite Weihnachts-Feiertag brachte diesmal
0004wie alljährlich ein „Philharmonisches Concert“. Musikalische
0005Psychologen oder Physiologen mögen nach den Gründen for-
0006schen, warum unser sonst so elastisches Concert-Publicum
0007jedesmal an diesem Tage ganz eigenthümlich müde und zerstreut
0008erscheint. Die Thatsache selbst steht uns fest. Insbesondere für
0009Novitäten ist der Stephanstag ein dies nefastus; Hil-
0010lerʼs E-moll-Symphonie mußte dies gestern erfahren. Wir
0011glauben keineswegs, daß die Composition zu anderer Zeit ein
0012enthusiastisches Publicum gefunden hätte; ein etwas theil-
0013nehmenderes aber hatten wir doch gehofft. Ferdinand Hiller
0014soll nun einmal in Wien kein Glück haben. Werke seiner
0015Composition, welche im übrigen Deutschland schöne und blei-
0016bende Erfolge errangen, gingen hier spurlos vorüber, wie die
0017Ouverturen in A-moll und zu „Phädra“, das Oratorium
0018„Saul“, mehrere Chorstücke und nun die E-moll-Symphonie.
0019Hillerʼs Opern sind hier unbekannt geblieben; die Annahme
0020der „Katakomben“ und des „Deserteur“ beim Hofoperntheater
0021scheiterte in jüngster Zeit an Aeußerlichkeiten. An das Oratorium
0022„Die Zerstörung Jerusalems“, dies frischeste und kräftigste
0023Werk Hillerʼs, dem wir bei vollkommener Aufführung jetzt noch
0024günstigen Erfolg prophezeien möchten, dachte Niemand, seit wir
0025überhaupt große Chorvereine und durch sie die Möglichkeit
0026stattlicher Oratorien-Aufführungen besitzen. Einen wirklichen
0027Succeß hatte in Wien nur sein allerkleinstes Stück, das von
0028Clara Schumann eingeführte Clavier-Impromptu: „Zur
0029Guitarre“. Für Hiller ist in Wien der rechte Zeitpunkt
0030verpaßt worden; wir meinen die Periode des leidenschaftlichen
0031Mendelssohn-Cultus. Das verwandte, wenn auch schwächere
0032Aroma der Hillerʼschen Musik wäre damals auf geneigtere
0033Sinne gestoßen. Daß Hillerʼs Musik kein Trunk von der
0034Quelle ist, das spürt Freund wie Feind am ersten Schluck.
0035Der höher liegende Quell, der Hillerʼs Talent durch verbor-
0036gene Canäle speist, ist Mendelssohn. Nun will uns seit
0037einiger Zeit diese Quelle selbst nicht mehr so frisch und stär-
0038kend dünken, wie vordem — eine Wandlung, welche mit ver-
0039doppelter Schwere die abgeleiteten Talente, wie Hiller,
0040Gade, Benett, Reinecke, trifft. Mit kühler Anerkennung
0041salutirt man jetzt Productionen und Eigenschaften dieser
0042Künstler, welche man vor 15 bis 20 Jahren sympathisch em-
0043pfunden hätte.
0044Das Wiener Publicum hat von Natur und ununterbro-
0045chen beeinflußt von Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert,
0046einen entschiedenen Zug zum Ursprünglichen, Erfinderischen,
0047namentlich zum Melodisch-Originellen in der Musik, ein Zug,
0048den man nur beglückwünschen kann und der sich in hohen
0049wie niedrigeren Kunstregionen (z. B. in der Vorliebe für die
0050italienische Oper) übereinstimmend ausspricht. Diese Richtung
0051trifft offenbar das Wahre, denn die schöpferische, originelle
0052Kraft ist und bleibt das Erste in der Musik, das Talent
0053wiegt schwerer als die gebildete Technik. Demungeachtet darf
0054man es bedauern, daß mitunter Compositionen von geistreicher,
0055vornehmer Individualität und feinster Durchbildung in Wien
0056nicht die Anerkennung fanden, welche ihnen anderwärts in
0057Deutschland gezollt wurde und die sie vom künstlerischen
0058Standpunkte vollauf verdienen. Die Zahl der musikalischen
0059Original-Genies ist eine sehr kleine, und wenn man conse-
0060quent die Arbeiten der feinen Bildung als ungenügend ab-
0061lehnt, wird dem Concert-Repertoire bald der nothwendigste
0062Zufluß fehlen. Am strengsten verhält sich unser Publicum gegen
0063Novitäten symphonischer Gattung. Daß dabei unwillkürlich
0064immer an Beethoven gedacht wird, das ist unser und der
0065Componisten Unglück. Beethoven verdirbt jeder modernen Sym-
0066phonie das Spiel, er hat factisch „alle Neun“ gemacht. Ob
0067wir wohl daran thun, diesen höchsten Maßstab an alle Productionen
0068unserer Epigonenzeit zu legen, scheint uns sehr zweifelhaft. Es gibt,
0069wie in der schönen Literatur so auch in der Musik neben den
0070großen genialen Dichtern eine andere zahlreichere Gruppe,
0071welche wir als die der angenehmen, liebenswürdigen Erzähler
0072bezeichnen möchten. Es sind Talente von geringer Naturkraft,
0073aber feiner Bildung, die von oben herab zu behandeln das
0074hörende Publicum noch weniger Ursache hat, als das viel
0075reicher bedachte lesende. Und doch ist letzteres viel toleranter und
0076dankbarer. In der Musik finden wir heutzutage Publicum und
0077Kritik erstaunlich streng geworden. Ersteres hat das volle
0078Recht, nur seinem unmittelbaren Impuls zu folgen. Die
0079Kritik hingegen, so meinen wir, sollte zweierlei nicht verges-
0080sen. Einmal, daß man überhaupt sich hüten muß, die künst-
0081lerische Production systematisch zu entmuthigen. Sodann, daß
0082gerade im Fach der reinen Instrumental-Musik wir ausschließ-
0083lich auf Deutschland verwiesen sind. Während unsere Opern-
0084bühnen einen wesentlichen Succurs aus Frankreich und Ita-
0085lien besitzen und an einem zeitweiligen Schmollen der deut-
0086schen Opern-Componisten nicht zu Grunde gehen werden, ruht
0087die gesammte Production symphonischer Musik in den Hän-
0088den einiger weniger deutschen Tondichter. Gewöhnt man sich
0089Letztere einfach an dem Felsen Beethoven zu zerschellen und
0090für Novitäten wie die jüngst gehörten von Reinecke und
0091Hiller nur Worte des Hohns und der äußersten Gering-
0092schätzung zu haben, so raubt man gleichzeitig — bis nicht
0093ein zweiter Beethoven erscheint — dem Publicum die Mög-
0094lichkeit, Neues zu hören, und den Künstlern die Lust, Neues
0095zu schaffen.
0096Hillerʼs Symphonie (op. 67) trägt den Geibelʼschen
0097Refrain: „Es muß doch Frühling werden!“ als Motto. Der
0098poetische Kriegsplan des Ganzen, das allmälige Durchringen
0099aus Frost und Winterstürmen zu fröhlichem Sonnenschein, zu
0100Veilchen und Lerchen liegt in diesen Worten vorgezeichet.
0101Mit feinem und consequentem Sinn hat ihn der Componist
0102durchgeführt; schade nur, daß er nach langem Wintermarsch [2]
0103uns schließlich doch einen echt deutschen Frühling bescheert,
0104dem man ohne Regenschirm und Ueberrock keinen Augenblick
0105traut. Der erste Satz, ein stürmisches Allegro in E-moll,
0106das schon durch den Stoff an die Einleitung zu Mendels-
0107sohnʼs „Walpurgisnacht“ erinnern muß, hat Spannung und
0108energischen Fluß, geistreiche thematische Verwendung aller Mo-
0109tive und Motivchen, ist aber etwas lang ausgesponnen. Die
0110beiden mittleren Sätze sind die gelungensten: ein zartes, sin-
0111gendes Adagio (C-dur, 3/8) mit reizend ausklingendem
0112Schluß und ein lebhaft prickelndes Scherzo in schnellem
0113Zweivierteltact, das in Motiven und Instrumentirung aller-
0114dings stark an Mendelssohnʼs „Sommernachtstraum“ mahnt.
0115„Befreit vom Eis sind Strom und Bäche“ — nun möchten
0116wir im letzten Satz den Frühling ungestört mit voller Freu-
0117digkeit genießen. Aber das Finale (E-dur, 9/8) bringt es nicht
0118zur vollen Blüthe, es will eben noch immer „Frühling wer-
0119den“. Fast Alles hing hier von einem glücklichen Thema ab,
0120und daß gerade für den Finalsatz Hiller kein frischeres
0121und bedeutenderes fand, wird verhängnißvoll für den
0122Total-Eindruck der ganzen Symphonie. Als Curiosität sei er-
0123wähnt, daß im Adagio dem Componisten das Mißgeschick
0124widerfahren mußte, eine Reminiscenz aus einem Werke zu
0125bringen, das erst später componirt und ihm wahrscheinlich zur
0126Stunde noch unbekannt ist. Dies Werk ist Verdiʼs „Ballo
0127in maschera“, und die Stelle die sich zärtlich emporhebende
0128Melodie Amaliaʼs „Mi difendi dal mio cor“ in dem
0129Liebesduett des zweiten Actes. Das Unglück wäre nicht groß,
0130eigentlich gar keines, hätten wir nicht gerade jetzt die Verdiʼsche
0131Oper auf dem Repertoire und ihre Melodien im Ohr. Ein
0132ähnliches, weit schlimmeres Unheil ist bekanntlich Rubin-
0133stein in seinem G-dur-Concert passirt, das er (noch aus
0134dem Manuscript) im Jahre 1857 hier öffentlich spielte und
0135dessen Andante vollständig mit dem Gebet aus „Dinorah“:
0136„O heilʼge Jungfrau“, begann. Meyerbeerʼs Oper erschien
0137zwei Jahre später, und Rubinstein mußte das Andante, eines
0138seiner besten Stücke, gnadelos cassiren, um nicht des Plagiats
0139an einer Oper beschuldigt zu werden, die ihm gar nicht, aber
0140nur zu bald der ganzen Welt bekannt war.
0141Mußte Hillerʼs Symphonie sich mit einem Succès dʼestime
0142bescheiden (nur Adagio und Scherzo fanden lebhafteren An-
0143klang), so können wir trotzdem die Wahl des Stückes von
0144Seiten der Philharmonischen Gesellschaft nicht anfechten. Ein
0145Mann von dem Namen und Verdienste Hillerʼs hat den
0146gegründetsten Anspruch auf Beachtung; die Symphonie speciell
0147ist in allen deutschen Musikstädten, auch im Ausland, mit
0148bestem Erfolg gegeben worden. Sie ist keine epochemachende
0149geniale Schöpfung, aber die Arbeit eines echten Künstlers,
0150dessen Geist und Charakter, dessen glänzende Bildung und
0151technische Meisterschaft über jedem Zweifel stehen. Hiller ist
0152als Musiker wie als Schriftsteller und Dirigent eine Zierde
0153seines Vaterlandes, und wer jemals seinen anregenden Um-
0154gang genoß, der wird auch die lebhaftesten Sympathien für
0155den trefflichen, liebenswürdigen Menschen gern bekennen.
0156Wir haben noch der übrigen Nummern des Philharmo-
0157nie-Concerts zu gedenken. Den Anfang machte die „Hebriden-
0158Ouverture“ von Mendelssohn; dann folgte Mozartʼs
0159Serenade für Blas-Instrumente in B-dur (Nr. 361 bei
0160Köchel), deren Finale auf Verlangen wiederholt wurde. Von
0161den sieben Sätzen dieser Composition wurden nur vier ge-
0162spielt, mit Recht, wie uns dünkt; denn so viel Schönes die
0163Serenade enthält — das Adagio als Schönstes obbenan —
0164so sind doch ihre Bestandtheile von zu ungleichem Werth
0165und wird die Klangfarbe der Harmoniemusik (obendrein ohne
0166Flöten und Trompeten) auf die Länge allzu monoton und
0167ermüdend. Fräulein v. Murska sang die F-dur-Arie
0168(„As when the dove laments her love“) aus Händelʼs
0169Schäferspiel: „Acis und Galathea“ mit entzückender Weich-
0170heit. Die von ihr eingestreuten, poetisch wie musikalisch moti-
0171virten Triller wird Niemand Fräulein Murska verübeln;
0172eher dürfte man sich wundern, daß Händel nicht schon durch
0173das fortwährende „Girren“ des Textes selbst auf den Triller
0174verfiel. Herr Capellmeister Dessoff hat die äußerst dürftige
0175Original-Begleitung durch Hinzufügung von Blas-Instrumen-
0176ten ebenso discret als wirksam verstärkt. Die Ausführung
0177aller Stücke, besonders der Hillerʼschen Symphonie, gelang
0178vorzüglich — leider war ein Christgeschenk, das wir dem
0179trefflichen Orchester dringend gewünscht, ausgeblieben: ein
0180Paar neue Pauken.
0181Wollen wir mit ruhigem Gewissen und ohne Rückstände
0182das neue Jahr herankommen sehen, so müssen wir zunächst
0183den Namen einer Wiener Pianistin nachtragen, welche in
0184Hellmesbergerʼs vierter Quartett-Soirée mit glücklichstem
0185Erfolg debütirte. Fräulein Gabriele Joël, so heißt das
0186junge Mädchen, spielte (von Herrn Hellmesberger virtuos
0187begleitet) Beethovenʼs „Kreuzer-Sonate“ mit kräftigem
0188Anschlag, sicherer Technik und feurigem, mitunter noch etwas
0189ungestüm vordrängendem Ausdruck. Sie wurde mehrmals
0190gerufen.