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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 869. Wien, Mittwoch den 30. Januar 1867

[1]

Hofoperntheater.

(„Der Nordstern“, von Meyerbeer.)


0003Ed. H. Das Hofoperntheater hat den seit dem Rücktritte
0004Fräulein Wildauer’s zurückgelegten „Nordstern“ von Meyer-
0005beer nunmehr neu besetzt wieder auf die Scene gebracht.
0006Jahrelang hatten wir die Oper nicht gehört, und als nun
0007die ersten Töne der Ouverture mit ihrem soldatisch-ehernen
0008Schritte wieder an uns vorüberzogen, da weckten sie alte,
0009liebe Erinnerungen. Wir glaubten uns über zwanzig Jahre
0010hinweg ins Theater an der Wien versetzt, vor uns die Zelte
0011des schlesischen Feldlagers und Jenny Lind, das Tambourin
0012in der Hand, als Vielka. Ja, der Weg zum „Nordstern“
0013führt über eine geliebte Leiche, über Meyerbeer’s ältere und
0014bessere Oper: „Das Feldlager in Schlesien“ (in Wien „Vielka“
0015genannt), welche der Meister hingeopfert, um mit ihrem glän-
0016zendsten Geschmeide den „Nordstern“ zu schmücken. Meyerbeer 
0017pflegte zwar mit großem Eifer hervorzuheben, der „Nordstern“
0018sei eine ganz neue, selbstständige Oper, in welche er blos neun
0019Nummern aus dem „Feldlager“ herübergenommen — für die
0020Existenz des letzteren war dies zu viel und zu wenig. Zu
0021viel
, als daß das „Feldlager“ nach dem Verluste seiner be-
0022deutendsten und imposantesten Musikstücke noch fortexistiren
0023könnte; zu wenig, um uns einzureden, es sei uns das ur-
0024prüngliche Werk dennoch in neuer Form erhalten. Wir geste-
0025hen gerne unsere Vorliebe für das „Schlesische Feldlager“.
0026Mögen auch Jugendeindrücke und die unaustilgbare Erinne-
0027rung an Jenny Lind einen Theil daran haben, ein größerer
0028gehört doch dem Gedanken, daß an keinem anderen Werke
0029Meyerbeer’s die deutsche Nation so unmittelbar interessirt war,
0030als eben an diesem. Das „Feldlager“ war — abgesehen von
0031dem längst verschollenen Singspiel: „Die beiden Khalifen“ —
0032die einzige deutsche Oper unseres berühmten Landsmannes;
0033sie war es nicht blos der Sprache, sondern auch dem Inhalt
0034und dem Geiste nach. Ungleich knapper und bescheidener als 
0035Robert“ und die „Hugenotten“, enthielt das „Feldlager“
0036doch Musikstücke, deren dramatische Kraft und blendende
0037Technik jene Opern geradezu voraussetzt. Nicht minder werth-
0038voll aber als diese (theilweise in den „Nordstern“ ver-
0039pflanzten) einzelnen Stücke erschien uns der biedere, gemüth-
0040volle deutsche Ton, der einen großen Theil der Musik zum
0041Feldlager“ durchzog und welcher sonst bei Meyerbeer nur
0042äußerst selten und leise anklingt. Im „Feldlager“ zeigte der
0043Meister zum erstenmale unwiderleglich, daß er auch diesen
0044Ton in seiner Gewalt habe. Gerade die einfacheren, herzliche-
0045ren Gesänge sind aber im „Nordstern“, sämmtlich weggeblie-
0046ben. Dieser „Nordstern“ ist ein zweideutiges Kind, das bei
0047der Geburt seiner schöneren Mutter das Leben kostete. Aber,
0048selbst abgesehen von dem rein musikalischen Verluste, bleibt
0049es eine Art nationaler Felonie, daß Meyerbeer seine einzige
0050deutsche Oper in Stücke hieb, um daraus, nach Atreus’ Ma-
0051nier, eine pikante Schüssel für die Pariser zu bereiten.
0052Daß Meyerbeer nach verschiedenen entmuthigenden Erfahrun-
0053gen in Deutschland sich entschloß, seine Wirksamkeit von Paris 
0054aus, dem Centralpunkte des europäischen Opernwesens, zu
0055versuchen, war ihm aus praktischem Gesichtspunkt damals nicht
0056ganz zu verargen. Wußte er doch, daß eine dort reussirende
0057Oper bald den Weg über alle Bühnen machen werde. Nach-
0058dem aber „Robert“ und „Die Hugenotten“ von Paris 
0059aus diese Reise um die Welt so glänzend vollbracht und die
0060fernere Carrière ihres Schöpfers für alle Fälle sichergestellt
0061hatten, waren seine folgenden Opern vollkommen sicher, nun-
0062mehr von Berlin oder Wien aus ebenso rasch den Weg in
0063andere Sprachen und andere Länder zu finden. Das war der
0064Zeitpunkt, wo Meyerbeer die Schuld an sein Vaterland hätte
0065zahlen können und sollen. Als er, durch eine besondere Fest-
0066gelegenheit veranlaßt, für Berlin „Das Feldlager in Schle-
0067sien“ schrieb, hielt er die Münze zu dieser Zahlung in Hän-
0068den — er ließ sie einschmelzen, um abermals französisches
0069Geld daraus zu prägen. Ob Meyerbeer auf dem Gipfel
0070seines Ruhmes niemals die Sehnsucht empfand, eine deutsche 
0071Oper zu schreiben? Er versicherte es mit größter Lebhaftig-
0072keit, als wir ihn einmal zu interpelliren wagten. Nur dem
0073Mangel an guten und bereitwilligen Textdichtern in Deutsch-
0074land gab er die Schuld des Versäumnisses. Umgekehrt klag-
0075ten wieder diese, es sei unmöglich, mit Meyerbeer zu arbei-
0076ten, unmöglich, ihn zufriedenzustellen. Rellstab wußte,
0077Bauernfeld und Holtei wissen davon zu erzählen. Letz-
0078terer insbesondere scheute keine Mühe und kein Nachdenken,
0079um Meyerbeer durch ein deutsches Libretto anzulocken. Er
0080bot ihm unter Anderem das treffliche Sujet: „Des Adlers
0081Horst“ an (später von Gläser componirt), aber Meyerbeer,
0082„welcher stets ein europäisches Renommée vor Augen hatte“,
0083stieß sich daran, daß die Handlung in den schlesischen 
0084Bergen spielen sollte. Diese Localität dünkte ihm zu uninter-
0085essant; vor dem schottischen Costüme der ursprünglich zu
0086Grunde liegenden Schopenhauer’schen Novelle scheute er sich
0087aber aus Furcht vor einem Vergleich mit der „Weißen
0088Frau“*). Der Zug ist nicht nur bezeichnend für Meyerbeer,
0092er wirft auch speciell auf die Entstehung des „Nordstern
0093ein erklärendes Licht. Der Grund, weßhalb Meyerbeer sein
0094Feldlager“ cassirte, lag einfach in dem stark betonten preu-
0095ßischen
Element des Textbuches. Eine Verherrlichung Fried-
0096rich’s des Großen auf der breiten Unterlage einer Schilde-
0097rung deutschen Kriegslebens, und verwebt mit einer einfachen
0098Herzens- und Familiengeschichte, erschien ihm zu eng und in-
0099teresselos für sein „europäisches“ Publicum. Statt Preußen 
0100wählte er Rußland, ein Tausch, der uns sehr mißglückt scheint.
0101Oder sollten wirklich irgend einem gebildeten Publicum Basch-
0102kiren und Kalmücken näher stehen, als die Preußen des sieben-
0103jährigen Krieges? ein russisches Feldlager uns lebhafter in-
0104teressiren, als ein deutsches? die Silhouette des großen Fritz 
0105unbedeutender sein, als eine Carricatur vom Czar Peter?
0106Wir vermochten für unser Theil uns für deutsche Sitte und [2]
0107Geschichte selbst in dem etwas verzerrenden specifischen Preußen-
0108thum zu erwärmen; für den Kriegsruhm der Kosaken ver-
0109mögen wir es nicht. Rellstab’s Textbuch zum „Feldlager“
0110war nicht gut, das steht außer Frage, Scribe’sNordstern“
0111ist zehnmal schlechter.


0112Wir haben uns daran gewöhnen müssen, in den meisten
0113„historischen“ Opern lediglich eine Speculation auf den Reiz
0114der Trachten und Decorationen zu finden, wobei der geschichtliche
0115Kern der Handlung nach Belieben mißhandelt wird. Aber ein größe-
0116rer Scandal ist mit historischen Persönlichkeiten und Thatsachen bis-
0117her nicht getrieben worden, als in Scribe’s Textbuch zum „Nord-
0118stern“. Dieser rohe Trunkenbold Petroff, welcher fortwährend
0119zwischen bestialischem Zorn und schwächlicher Sentimentalität,
0120zwischen Axt und Flöte taumelt, hat mit dem gewaltigen Re-
0121formator Rußlands ebensowenig gemein, als der irrsinnig ge-
0122wordene Recrut des „Nordstern“ mit der nur zu verständigen
0123Kaiserin Katharina. Die historischen und dramatischen Un-
0124wahrscheinlichkeiten häufen sich von Scene zu Scene mit einer
0125Schnelligkeit und gipfeln im dritten Act zu einer Höhe des
0126Unsinns, vor welcher selbst ein Köhlerglaube zurückweicht und
0127der Antheil des willigsten Zuschauers erstirbt. Scribe, der
0128geistreichste Operndichter unserer Zeit, scheitert hier an der
0129Zumuthung Meyerbeer’s, Scenen aus dem „Schlesischen Feld-
0130lager“ in einen völlig heterogenen Stoff gut oder übel ein-
0131zufügen. Die klägliche Maskerade, welche Meyerbeer selbst
0132mit diesen Feldlager-Stücken vornehmen mußten, ist nicht min-
0133der merkwürdig, ja sie steht in der Musikgeschichte einzig da.
0134So hat der imposante Soldatenchor in C-moll im „Feld-
0135lager
“ die Begeisterung der für ihren König kämpfenden
0136Truppen zum Inhalt; nach einer prachtvollen Steigerung
0137gipfelt sich dieser Enthusiasmus in dem hellen C-dur-Trio:
0138„Die Trommel dröhnt, die Fahnen weh’n!“ Im „Nord-
0139stern
“ ist dieser Chor zu einem „Chor der Verschworenen
0140geworden, welche, Wuth und Rache schnaubend, sich gegen 
0141ihren Feldherrn zusammenrotten. („Assez d’opprobres,
0142assez d’affronts!“) Da jedoch der lustige Aufschwung 
0143des C-dur-Trios doch gar zu schlecht zu einem
0144finsteren Complot paßte, wird er im „Nordstern“ durch den
0145Witz motivirt, daß ein Officier plötzlich über die Bühne eilt
0146und den Verschworenen zuflüstert, der General nähere sich,
0147um Revue zu halten. Da stellen sich die Verschworenen
0148eiligst in Reih’ und Glied und singen den Generalstab mit
0149dem C-dur-Trio an. So ist der Chor durch den neuen Text
0150in zwei Gegensätze zerschlagen worden: finstere Rachsucht und
0151officiell erheuchelter Jubel — dieselbe Musik, die im „Feld-
0152lager“ als ungebrochener Ausdruck eines schönen Gefühls,
0153der muthigen Soldatentreue, erklang. — Der Grenadier-
0154marsch mit Trommeln und Pfeifen (dessen Motiv wirklich
0155aus dem siebenjährigen Kriege stammt und von den Garde-
0156Grenadieren in Potsdam noch heute zu hören ist) breitete
0157über die Scenerie des „Schlesischen Feldlagers“ eine histo-
0158rische Färbung von unvergleichlicher Lebendigkeit. Dies so
0159geistreich angebrachte kriegerische Rococco verliert unter
0160Tataren und Baschkiren allen Sinn und Reiz. Was soll
0161man aber vollends dazu sagen, wenn der biedere Dessauer-
0162marsch
, dessen Melodie und Bedeutung jedes Kind in
0163Deutschland kennt, im „Nordstern“ als „heiliger Marsch 
0164der Russen“ ertönt! Wir können die peinliche Empfindung
0165kaum beschreiben, welche dieser musikalische Vaterlandsverrath
0166eines der gefeiertesten Söhne Deutschlands jedesmal in uns
0167aufwühlt. Schließlich wollen wir nur noch der wesent-
0168lich veränderten Bedeutung gedenken, welche die be-
0169rühmte Flöten-Arie der Vielka in dem Munde
0170Katharina’s annimmt. Im „Feldlager“ ist diese Scene
0171ein heiteres Genrebild: Vielka ermuntert ihren Geliebten, das
0172aus dem Gartenzimmer des Königs erklingende Flöten-Concert
0173nachzuspielen, und hilft durch Mitsingen der Melodie dem
0174schwächeren Musikgedächtniß Conrad’s nach. Die Scene bietet
0175den seltenen Fall der dramatisch motivirten Stellung eines
0176Virtuosenstücks in der Oper, und Vielka singt die schwierigen
0177Flöten-Passagen mit jener leichten, siegesfrohen Sicherheit
0178nach, welche den echtesten und gewinnendsten Charakterzug der 
0179Virtuosität bildet. Dies reizende Flöten-Wettspiel, das im
0180Feldlager“ keine andere Bedeutung anspricht, als Freude
0181am Musiciren, dient im „Nordstern“ zur methodischen Heilung
0182einer Irrsinnigen! Peter der Große und der Tischler Georg 
0183blasen von beiden Seiten des Saales das Flöten-Concert,
0184während die geisteskranke Katharina, bleich und irren Blickes,
0185die bekannten Töne in ihrem verwirrten Gedächtnisse aufsucht
0186und nachzusingen trachtet. Mit welcher ins Widerliche ver-
0187kehrten Empfindung man die „Flöten-Arie“ in dieser Situa-
0188tion hört, ist nur zu einleuchtend. Rellstab hat in seinem
0189Text zum „Feldlager“ das Flötenspiel Friedrich’s des Großen
0190(eine weltbekannte historische Reminiscenz, welche, auf Czar
0191Peter übertragen, gar keinen Sinn hat) als ein glück-
0192liches Auskunftsmittel benützt, die Gegenwart des gro-
0193ßen Fritz anzudeuten, dessen wirkliches Erscheinen auf
0194der Bühne durch eine strenge Etiquette verboten ist.
0195Wie lange noch werden die Höfe aus kleinlichen Rück-
0196sichten der Dichtkunst ein so reiches nationales Stoff-
0197gebiet und sich selbst einen so mächtigen Hebel patriotischer
0198Begeisterung entziehen? Werden wir es noch erleben, daß
0199die glorreichen Gestalten unserer Maria Theresia und Jo-
0200seph’s des Zweiten vor dem begeisterten Volke lebendig werden?
0201Maria Theresia ist allerdings schon einmal als Heldin
0202einer Oper gefeiert worden. Die Geschichte ist sehr wenig be-
0203kannt und dürfte namentlich für den österreichischen Leserkreis
0204nicht ohne Interesse sein. Der französische Maler Frago-
0205nard
hatte in den Zwanziger-Jahren dieses Jahrhunderts
0206ein großes Bild: „Maria Theresia mit dem kleinen Joseph
0207auf dem Arme“, in Paris ausgestellt, welches durch seinen
0208dramatischen Effect den Poeten Bernard zu einem Opern-
0209text begeisterte. Dieses nach der großen Kaiserin betitelte
0210Libretto wurde von der Theater-Jury einstimmig approbirt,
0211angenommen und dem durch seine Romanzen berühmt ge-
0212wordenen Tondichter Felix Blangini zur Composition anver-
0213traut. Blangini (welcher in seinen 1834 erschienenen Memoiren 
0214ausführlich davon erzählt) componirte die Oper; Madame [3]
0215Branchu, die treffliche dramatische Sängerin, sollte die
0216Maria Theresia singen und studirte eifrigst die Rolle mit
0217Garat. Die Proben hatten unter R. Kreutzer’s Leitung
0218begonnen; der Tag der Aufführung nahte. Da wird Blan-
0219gini plötzlich mitgetheilt, daß im Ministerrath das
0220Verbot von „Marie-Thérèse“ beschlossen worden sei. Nie-
0221mand weiß sich das Verbot zu erklären, das keinerlei Moti-
0222virung enthielt. Blangini eilt zur Censurbehörde, diese
0223versichert, gänzlich unschuldig zu sein. Endlich erlangt der un-
0224glückliche Componist eine Audienz bei dem General-Director
0225der Polizei, welcher ihm nach einigen ausweichenden Phrasen
0226begütigend zuflüstert: „Die ganze Sache läßt sich noch arran-
0227giren, wenn Sie aus dem Söhnchen, mit welchem Maria
0228Theresia vor dem ungarischen Landtag erscheint, eine Tochter 
0229machen.“ Man fürchtete nämlich, daß die feierliche Ansprache
0230der Kaiserin: „Voilà l’enfant de la patrie!“ und ihr „beim
0231Grab des Vaters und bei der Wiege des Sohnes“ geleisteter
0232Schwur napoleonische Demonstrationen hervorrufen und man
0233das Söhnlein auf dem Arm Maria Theresia’s als eine An-
0234spielung auf den jungen König von Rom begrüßen würde.
0235Blangini hatte zu viel Respect vor der Weltgeschichte, um
0236sich zu dieser Aenderung zu bequem (Meyerbeer’sNord-
0237stern“ war noch nicht erschienen), und so ist denn seine
0238Marie-Thérèse“ zwar im Clavierauszug gedruckt, aber nie-
0239mals aufgeführt worden.


0240Was die Aufführung des „Nordstern“ im Hofopern-
0241theater betrifft, so gebührt Herrn Beck, welcher die übrigen
0242Mitspielenden weit überragte, das erste und unbeschränkteste
0243Lob. Sein Czar Peter war schon bei den ersten Vorstellun-
0244gen, also vor zehn Jahren, eine Figur voll Energie und Le-
0245bendigkeit; seither hat Beck die Rolle in den musikalischen
0246Details noch sorgfältiger ausgearbeitet und (wie namentlich
0247die Zeltscene darthat) ganz auffallende Fortschritte als Schau-
0248spieler gemacht. Kaum wird ein zweiter Sänger dieser im
0249Grunde widerlichen Rolle so viel Wirkung und Reiz abge-
0250winnen, als Herr Beck, dem auch die Gunst des Publicums
0251sich im vollsten Maße zuwendete. Fräulein Murska hatte
0252als Katharina insoferne einen erschwerten Stand, als ihr die 
0253frühere Darstellerin dieser Rolle, Fräulein Wildauer, im
0254Spiele weit überlegen war. Dies zeigte sich am auffälligsten
0255in den ersten Couplets („Le bonnet sur l’oreille“), deren
0256Vortrag schauspielerisches Talent und einigen Humor ver-
0257langt. Nach dieser ohne alle Wirkung verklungenen Nummer
0258steigerte sich aber die Leistung Fräulein Murska’s bis zum
0259Ende. Katharina ist wesentlich Coloratur-Partie, ihre zahl-
0260losen Triller und Rouladen erheben gewichtigere Ansprüche,
0261als die paar schwachen dramatischen Anläufe. Fräulein
0262Murska schwamm somit fast ununterbrochen in ihrem
0263eigensten Elemente und übertraf nicht blos, wie zu vermuthen
0264war, die Gesangs-Virtuosität ihrer Vorgängerin, son-
0265dern näherte sich in der höchsten Region ihrer Triller
0266und Passagen mitunter den berühmtesten Künstlerinnen. In
0267einigen Stellen des dritten Actes athmete ihr Gesang auch eine
0268Wärme und Empfindung, wie wir sie bei Fräulein Murska 
0269noch selten wahrgenommen. Ohne Zweifel wird ihre noch
0270nicht ganz ausgearbeitete „Katharina“ im Laufe einiger Re-
0271prisen sich noch wesentlich vervollkommnen. Dasselbe gilt von
0272Fräulein Tellheim, die sich als Prascovia sehr niedlich
0273präsentirte, aber ihrer Aufgabe noch nicht vollkommen sicher
0274schien. Herr Mayerhofer spielt und singt den Gritzenko 
0275im zweiten und dritten Act vortrefflich; die Arie im ersten
0276bietet ihm einiges Unbequeme. Die sehr unbedeutende Rolle
0277des Georg war durch Herrn Prott und die stark zusammen-
0278gestrichene des Danielowitz durch Herrn Erl genügend besetzt;
0279freilich würde die letztgenannte Rolle, die in den Ensembles
0280des zweiten Actes von Wichtigkeit ist, durch eine frischere
0281Stimme unendlich gewinnen. Das originelle Marketenderin-
0282nen-Lied wurde von den Fräulein Benza und Siegstädt 
0283allerliebst gesungen und gespielt. Fräulein Benza, welche
0284dem Eifer, der sie stets auszeichnete, allmälig auch die nö-
0285thige Mäßigung beizugesellen beginnt, erfreute überdies durch
0286sehr charakteristische Haltung. Das Ensemble der von Herrn
0287Proch dirigirten Oper klappte vollkommen in dem schwierigen
0288zweiten Finale; im ersten Act sündigten die Männerchöre
0289einigemal stark gegen die Reinheit der Intonation.

Fußnoten
  • *)Auch Bürger’s „Leonore“ begann Holtei auf Meyerbeer’s
    Wunsch als große phantastische Oper zu bearbeiten; er machte schließ-
    lich sein bekanntes melodramatisches Liederspiel daraus.