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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 889. Wien, Mittwoch den 20. Februar 1867

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Concerte.

(Philharmonisches Concert. Herr Epstein. — Frl. Magnus. Quartett-Soirée.)


0003Ed. H. Sollte es noch Jemand wagen, die bluttriefende
0004Medea“ als Oper zu bearbeiten, so müßte er wol auch eine
0005Ouverture dazu ersinnen. Sich jedoch gerade diesen gräßlichen
0006Stoff für eine Concert-Ouverture auszuwählen, wie Bar-
0007giel
thut, dünkt uns minder nothwendig. Unsere neueren Compo-
0008nisten scheinen unersättlich am Tragischen — wo schreibt noch
0009Jemand eine Ouverture, über welche Frohsinn und Lebens-
0010freude sich sonnenhell ergössen? Unsere Vorfahren vermieden
0011die düstersten Schatten des Tragischen in der Musik, selbst wo
0012der Gegenstand sie forderte: Gluckʼs Ouverture zu „Orfeo“,
0013die von Cimarosa zu den „Horaziern und Curiaziern“
0014und Aehnliches könnte man füglich vor einer Opera buffa
0015spielen. Im Gegensatze dazu benützen wir die vollständige
0016stoffliche Freiheit, welche die moderne Erfindung der Concert-
0017Ouverture
uns darbietet, fast nur für Nachtgemälde und
0018Tragödien. Sollte wirklich das Heitere sich gar nicht mehr
0019für den „distinguirten“ Tondichter schicken und nur den Tanz-
0020componisten überlassen bleiben? Dann wird man allmälig
0021Tanzmusik in den Concertsaal ziehen und das Publicum
0022wird jubeln, wie im letzten Philharmonischen Concerte, als
0023nach Bargielʼs kolchischer Kindermörderin die „Auffor-
0024derung zum Tanze“ wiegenden Schrittes hereinschwebte. Die
0025Philharmoniker können diese Composition getrost in jedem
0026Fasching wieder bringen — sie ist auch gar zu bestrickend in
0027dem seligen Rausch ihrer jungen, unter dem Tanzen aufblü-
0028henden Liebe. Die Instrumentation von Berlioz wirkt am
0029schönsten in ihren einfachsten Intentionen: dem Alterniren
0030der Geiger mit den Bläsern, dem Gesang der Oboe und des
0031Cello, in der lieblichen Monotonie der tactweise nachschlagen-
0032den Hörner; was uns jedesmal mißfällt, ist nur das pfei-
0033fend herabgleitende Unisono der Flöten und Harfen — ein
0034gemeiner Klang, wie von einer jener Miniatur-Drehorgeln,
0035mit welchen man den Gesangsunterricht talentvoller Gimpel
0036und Canarienvögel zu unterstützen pflegt. Die Schlußnummer 
0037großer Concerte gilt als Ehrenplatz; die Philharmoniker hat-
0038ten ihm deßhalb SchumannʼsSinfonetta“ (Ouverture,
0039Scherzo und Finale) angewiesen. Trotzdem litt das poetische
0040Helldunkel dieses liebenswürdigen Bildchens unter der Nach-
0041wirkung der unsäglichen Helle, die Weberʼs „Aufforderung
0042zum Tanze“ verbreitet hatte.


0043Es folgte Mozartʼs herrliches Clavierconcert in C-dur
0044(Nr. 467 bei Köchel); Herr Epstein spielte es, und sich
0045damit die wirksamste Empfehlung seines eigenen Concertes.
0046Als geschmackvoller Pianist wie als trefflicher Lehrer hochge-
0047schätzt, nimmt Herr Epstein überdies noch einen speciellen
0048Platz in der neueren Geschichte des Wiener Concertlebens ein.
0049Er ist nämlich der Einzige, welcher systematisch durch eine
0050Reihe von Jahren Mozartʼsche Clavierconcerte zum öffent-
0051lichen Vortrag wählt und sie einer leider drohenden Verges-
0052senheit entreißt. Von Mozartʼs Clavier-Compositionen sind
0053unzählige rettungslos und nicht unverdient vom Zeitstrom
0054fortgeschwemmt; höchstens der Clavierlehrer und der Geschichts-
0055forscher kümmern sich noch darum, das Publicum nimmer-
0056mehr. Anders verhält es sich aber mit den (Wiener) Con-
0057certen
 Mozartʼs; sie bezeichnen den Höhenpunkt seines Cla-
0058vierstyles und übertreffen weit seine übrigen Solostücke, mit
0059einziger Ausnahme der wunderbaren C-moll-Phantasie, welche
0060direct auf Beethoven nicht nur hinweist, sondern geradezu
0061wie ein Wunder in dessen zweite Periode hineinragt. Mit
0062gutem Recht kann Mozart der Schöpfer der modernen Cla-
0063vierconcerte heißen, wie ja das Fortepiano selbst erst unter
0064ihm zum concertfähigen Instrument wurde. Herr Epstein 
0065spielte das Concert streng im Geiste der ihm wahlverwandten
0066Composition, mit fleckenloser Klarheit und Anmuth; höchstens
0067daß im ersten Satz das Passagenwerk nicht bis zur letzten
0068technischen Vollendung herausgearbeitet war und die linke
0069Hand sich schwächer erwies. Das von Herrn Epstein selbst
0070veranstaltete Mittagsconcert bot den erfreulichen Anblick eines
0071gedrängt vollen Saales. Wie so oft schon, müssen wir den
0072Concertgeber ob der Zusammenstellung des Programmes rüh-
0073men. Er spielte ausschließlich Compositionen, die sehr selten
0074gehört und dennoch sehr hörenswerth sind. Welche Wohlthat
0075für den Musiker, den kritisirenden zumal, aus dem Einerlei 
0076des gewöhnlichen Clavier-Repertoires herauszukommen! Da
0077präsentirte sich gleich als Einleitung ein Clavier-Trio von
0078Haydn. Nicht allzu Viele der Anwesenden dürften von der Existenz
0079Haydnʼscher Clavier-Trios gewußt und sehr Wenige eines dersel-
0080ben gehört haben. Und doch sind allein bei Breitkopf 31 sol-
0081cher Trios erschienen. Der Eindruck, den wir von dem E-dur-
0082Trio (Nr. 4 der Breitkopfʼschen Sammlung) empfingen, reicht
0083über das blos historische Interesse entschieden hinaus. Auf-
0084fallend ist zunächst der gehaltene, ernste, ja pathetische Aus-
0085druck, der das Ganze durchzieht und es trotz aller Kürze der
0086Form und aller Einfachheit der Motive von den meisten
0087Quartetten und Sonaten Haydnʼs unterscheidet. Der erste
0088Satz erhält durch die bei Haydn seltene Verwendung der
0089Chromatik einen Anflug edler Sentimentalität. Das Alle-
0090gretto in E-moll steht an der Stelle eines Andante; seine
0091zierlich gekräuselte Melodie stützt sich auf einen ernsten Basso
0092continuo, der später in die rechte Hand über das Thema
0093verlegt ist. Menuett oder Scherzo fehlt gänzlich. Der letzte
0094Satz beginnt zwar heiter, in mäßigem Dreiviertel-Tact, hält
0095sich aber fern von der kirchweihartigen Popularität der meisten
0096Haydnʼschen Finalsätze; überdies nimmt der Mittelsatz in
0097Moll, ein klagender Gesang der Violine, sogar einen unge-
0098wöhnlichen Raum ein. Die Vorführung des Haydnʼschen Trios
0099war ein dankenswerther Einfall, sie zeigte uns den Meister
0100in einer uns neuen Form und mit neuen Nuancen seines
0101Charakters.


0102Das „Andante für Piano und Streichquartett“ von
0103Field ist eines seiner zartesten, stimmungsvollsten Notturnos.
0104John Field kannte nur ein sehr kleines Feld musikalischen
0105Ausdrucks, aber dieses beherrschte er als wahrer Poet. Das
0106von Epstein gewählte As-dur-Andante bestätigt dies. Die
0107Stimmung des Ganzen und mancher vereinzelte Klang mahnt
0108schon unverkennbar an Chopin, wie denn überhaupt Field 
0109in der merkwürdigen Uebergangsbrücke vom classischen zum
0110romantischen Clavierstyl einen wesentlichen Bogen darstellt.
0111Das Quintett gefiel sehr; das gesangvolle Thema hätten wir
0112mit breiterem und tieferem Anschlag gewünscht, Herr Epstein 
0113liebt es, den Ton nur leicht zu streifen, statt ihn an solchen
0114Stellen mit der Wurzel herauszuziehen; desto mehr kam ihm [2]
0115seine Spielweise mit zartem, flachem Anschlag in den schnellen
0116Passagen zu statten, die sich wie Perlen abrollten. Ein drit-
0117tes Stück, für das wir Herrn Epstein zu danken haben, war
0118SchubertʼsPhantasie-Sonate“ in G-dur (op. 78). Warum
0119verfällt so selten ein Concertspieler auf diese Idylle in Tönen,
0120über welcher ein blauer Himmel fast wolkenlos träumt, wäh-
0121rend unten kein Zug weder des Mißmuths noch der derben
0122Lustigkeit den seligen Frieden trübt! Schumann preist sie
0123unter allen Schubertʼschen Sonaten als „die vollendetste in
0124Form und Geist“ — mit einiger Vorliebe vielleicht, denn die
0125größere Meisterschaft und Genialität der A-moll-Sonate 
0126dünkt uns evident. Aber an innerer Harmonie der Stim-
0127mung und feinem Geschmack mag die G-dur-Phantasie obenan
0128stehen. Dieser Einheit zuliebe vermeidet es Schubert sogar,
0129die vier Sätze in dem gewöhnlichen Contrast gegen einander
0130abzuheben, er mildert durch einen gemeinsamen Zug von
0131sanfter Beschaulichkeit ihre Gegensätze, so daß das Ganze in
0132der That nur Ein großes Stimmungsbild abgibt. Wenige
0133Musikstücke Schubertʼs drängen dessen Verwandtschaft mit
0134Beethoven so stark ans Licht und zugleich auch wieder die
0135Verschiedenheit ihrer Naturen. Darüber ist längst Treffendes
0136gesagt worden, und Besseres als wir zu bringen vermöchten.
0137Warum sollte man aber nicht auch einmal kurz sagen dürfen:
0138Schubert ist Beethovenʼs Frau? Herr Epstein spielte die
0139Phantasie mit feiner Empfindung, ja manche Stellen, wie
0140das schalkhaft lispelnde H-dur-Trio, unvergleichlich schön.
0141Mehr breite und kräftige Schattenstriche hätten wir freilich
0142auch in diesem Vortrag gewünscht, die zarten Linien
0143wären auf solchem Grunde nur um so schöner erschienen.


0144Noch ein viertes großes Stück brachte Herr Epstein als
0145Schlußnummer: Beethovenʼs Quintett für Clavier und
0146Blasinstrumente (op. 16). Das Quintett ist in seiner
0147Klangschönheit und Abrundung eine freundlich ansprechende
0148Composition, aber in dem Lorbeerkranze Beethovenʼs doch
0149nur ein schwaches Reis. Wir sind gewohnt, bei dem Namen
0150Beethoven an ganz andere Musik zu denken. Der junge
0151Beethoven stand damals noch im Schachte Haydnʼs und Mo-
0152zartʼs, ja er hatte für sein Quintett sogar eine bestimmte
0153Composition Mozartʼs, dessen köstliches Es-dur-Quintett, sicht-
0154lich zum Vorbilde genommen. Das Mozartʼsche Quintett ist 
0155zweifellos genialer und bedeutender, es steckt eben der voll-
0156kommene, der ganze Mozart darin, in der Nachbildung nur
0157der beginnende Beethoven. Und doch standen beide Meister
0158genau im selben Alter: Mozart schrieb sein Quintett (1784)
0159mit 28 Jahren, Beethoven das seinige (1798) ebenfalls.
0160Welchen enormen Unterschied begründete aber die ungewöhn-
0161lich frühzeitige Entwicklung Mozartʼs! Der Componist des
0162Don Juan“ stand mit 28 Jahren auf der Höhe seiner
0163Kunst und seines Genies, leider auch schon tief am Abhange
0164seines Lebens. Beethoven war als angehender Dreißiger
0165noch nicht einmal Er selbst. Später erst führte er auf eigen-
0166stem Grund und Boden jene Wunderbauten auf, die uns
0167den wahren Maßstab für seinen Genius an die Hand gege-
0168ben. — Trotz der sehr vorgerückten Stunde wurde das (von
0169den Herren Epstein, Kleinecke, Uhlmann, Ibener 
0170und Otter vortrefflich gespielte) Quintett noch mit unge-
0171schwächtem Vergnügen gehört und vorzüglich das Andante
0172applaudirt, welches ein berühmter französischer Kritiker (Scudo)
0173ganz ernsthaft für Variationen über die Arie: „Batti, batti“
0174aus „Don Juan“ angesehen und dergestalt verewigt hat.
0175— Eine neue Erscheinung in Herrn Epsteinʼs Concert
0176war die von Stockhausen gebildete Sängerin Fräulein
0177Helene Magnus aus Hamburg. Obwol durch äußerste Be-
0178fangenheit in der Entfaltung ihrer Mittel sichtlich beengt, hat
0179die junge Dame durch ihr erstes Auftreten sich doch mit
0180einem Schlage einen Namen erobert. Der große Erfolg die-
0181ser Künstlerin gereicht nicht blos ihr, sondern auch dem Pu-
0182blicum zur Ehre, welches hier weder durch den Reiz der
0183Stimme, noch durch irgend welche Bravour bestochen wurde.
0184Als Fräulein Magnus zu dem ersten Lied: „Mignon“ von
0185Schubert, den Mund öffnete, erschien ihre Stimme als ein
0186schwacher Silberfaden. Aber dieser Silberfaden spann allmälig
0187ein ergreifendes Seelengemälde und hielt bald die ganze Hörer-
0188schaft umstrickt. Fräulein Magnus besitzt einen Mezzo-Sopran
0189von geringem Körper und Umfang, die Tiefe und Mittellage
0190sind verschleiert, etwa von D oder E an wird das Organ
0191heller und kräftiger, findet aber bald seine Grenzen, wenig-
0192stens verriethen das hohe G und As schon einige Anstrengung.
0193Materiell somit wenig begünstigt, übt diese Stimme dennoch
0194einen unwiderstehlichen, fast unerklärbaren Zauber. Sie scheint 
0195eben alles grob Irdische abgestreift zu haben und nur der letzten,
0196feinsten Verkörperung des Fühlens und Denkens sich zu assimiliren.
0197Klänge es nicht affectirt, wir möchten den Gesang der
0198Magnus ein musikalisches Athemholen der Seele nennen.
0199Der Eindruck, den Fräulein Magnus mit dem ersten Liede
0200hervorgebracht, befestigte und erhöhte sich noch durch die fol-
0201genden; Fräulein Magnus hatte schon mehr Muth und
0202Stimme gewonnen und sang die drei ersten Nummern aus
0203Schumannʼs „Frauenliebe“ mit so tiefem Verständniß und so
0204zarter, inniger Empfindung, wie wir sie kaum zuvor gehört.
0205Mit dem sichersten Anschlagen der Grundstimmung eines je-
0206den Liedes ging die feinste, durch treffliche Aussprache unter-
0207stützte Zeichnung des Details Hand in Hand. Wir freuen
0208uns, Fräulein Magnus demnächst in mehreren Concerten
0209zu hören und dann eingehender über sie berichten zu können,
0210als nach einem ersten Auftreten möglich ist.


0211In der achten Quartett-Soirée der Herren Hellmes-
0212berger
, Dobyhal, Röver und Kranczewits hörten wir
0213eine neue Violin-Sonate in A-dur von J. Raff. Es wird
0214uns eigenthümlich schwer, zu Raffʼs Musik ein intimes Ver-
0215hältniß zu gewinnen. Alles was wir von diesem gewandten,
0216fruchtbaren Componisten kennen gelernt, hat uns mehr oder
0217minder interessirt, nichts davon vermochte uns aber das Ge-
0218fühl reiner Befriedigung und ästhetischen Behagens zu gewähren.
0219Genau so erging es uns wieder mit der neuen Sonate, die
0220eine Art musikalischer Wüste mit kleinen Oasen repräsentirt.
0221Fast alle vier Sätze beginnen hübsch, der erste und vierte so-
0222gar mit einem Feuer, das man für echt hinnähme, verlöschte
0223es nicht gar so schnell. An interessanten Einzelheiten herrscht
0224kein Mangel: glückliche Anfänge, die nirgends hinführen;
0225effectvolle Schlüsse, die von nirgends herkommen, dazwischen
0226eine Meute von Passagen, die rastlos wie Jagdhunde ihrem
0227eigenen Schatten nachlaufen. Es fehlt dem Ganzen die eigent-
0228liche Triebkraft. Das schöpferische Unvermögen des Witzes
0229kann über diesen Mangel nicht täuschen, geschweige denn hin-
0230weghelfen. Constatiren müssen wir den reichlichen Applaus des
0231Publicums, der jedoch weniger der Composition als deren
0232brillanter Ausführung durch Fräulein Pauline Fichtner und
0233Herrn Hellmesberger zu gelten schien.