Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 902. Wien, Dienstag den 5. März 1867
[1]Concerte.
0002Ed. H. Der Heißler’sche Orchesterverein, dieser
0003verschämte Veilchenstrauß, verstecke sich so viel er will, der
0004Musiker wittert ihn heraus und geht nicht gleichgiltig daran
0005vorüber. Abermals gab es einen der geheimnißvollen „Gesell-
0006schafts-Abende“ dieses Dilettanten-Vereines, ohne öffentliche
0007Ankündigung, ohne Journalnotizen, ohne Billetverkauf —
0008und dennoch welch fröhliches Gedränge im ganzen Saal!
0009Das Hauptcontingent des Auditoriums liefert allerdings die
0010„Verwandtschaft“, und Familiengefühle walten in den Reihen
0011dieser Zuhörer mindestens ebenso stark als Kunst-Enthusiasmus.
0012Neben dieser allzeit vergnügten Hausmacht der Ausführenden
0013erscheint aber auch regelmäßig ein Freiwilligencorps hagestol-
0014zer Musikfreunde, die jenem Familien-Cultus fremd, vielleicht
0015gar kritisch gegenüberstehen — denn in dem Veilchenstrauß
0016steckt gar manches duftlose „Hundsveilchen“ — deren Interesse
0017sich jedoch um so lebhafter dem Programme hingibt. Für diese
0018Programme verdient der Dirigent Herr Heißler ein ganz
0019besonderes Lob. Er weiß für jede seiner Abendunterhaltungen
0020ein bis zwei Stücke aufzubringen, die den Reiz der Neu-
0021heit oder den nicht geringeren einer unverdienten Vergessen-
0022heit für sich haben. Nachdem der Orchesterverein jüngst das
0023Schumann’sche Violoncell-Concert zur ersten Aufführung ge-
0024bracht, erfreute er uns diesmal mit einer in Wien noch
0025unbekannten Ouverture von Mendelssohn-Bartholdy.
0026Es ist dies die C-dur-Ouverture op. 24 für Harmoniemusik,
0027deren Vorführung wir unseren größeren Concert-Instituten
0028bereits vor Jahren vergebens vorgeschlagen haben. Hervor-
0029ragende Bedeutung, etwa neben den vier Concert-Ouverturen,
0030kann man dieser Composition freilich nicht beilegen, aber sollte
0031ein hier noch unbekanntes Orchesterwerk von Mendelssohn
0032nicht schon aus diesem Titel allein den Versuch einer Auffüh-
0033rung verdienen? Hat auch Mendelssohn die C-dur-Ouverture
0034nicht mit dem vollen Aufgebot seiner Phantasie, dem ganzen
0035Reichthum seines Kunstvermögens geschaffen, so waltet doch
0036unverkennbar seine Meisterhand in dem klaren, stattlichen
0037Bau und dem feinen Schliff des Ganzen. Mendelssohn gab
0038nichts aus der Hand, was nicht in seiner Art fertig und
0039vollkommen dastand. Die Ouverture mit ihrem süßen, ruhi-
0040gen Wohlaut im Andante und der fröhlichen Lebendigkeit im
0041Allegro muß jeden Hörer frisch und liebenswürdig anmuthen.
0042Diese bescheidene und doch wirksame Modulation, diese Klar-
0043heit und gesunde Fröhlichkeit erinnert manchmal an Mozart,
0044der bekanntlich auch nicht immer „bedeutend“ schrieb. Nur
0045für Blas-Instrumente gesetzt, ist diese Ouverture schon da-
0046durch eine Specialität unter Mendelssohn’s Werken und er-
0047schiene als solche in der Urgestalt am interessantesten. Die
0048trefflichen Bläser der „Philharmonischen Concerte“, verstärkt
0049durch die ihnen wol zur Disposition stehende Kaul-
0050lich’sche Harmoniemusik des Hofoperntheaters, konnten den
0051Versuch wol wagen. Im Orchesterverein war daran natürlich
0052nicht zu denken, er mußte sich mit einem von Heißler ge-
0053arbeiteten Arrangement für ganzes Orchester behelfen. Diese
0054Bearbeitung verdient unbedingtes Lob, ja sie dürfte dem mu-
0055sikalischen Geschmack des Concert-Publicums mehr zusagen,
0056als das Original. Denn an sich verhält sich doch immer die
0057Harmoniemusik zum vollen Orchester wie das Fragment zum
0058Ganzen, wie ein Behelf oder Arrangement zum reicheren
0059Original. Gewiß klingen die raschen Sechzehntel-Passagen, die
0060im Allegrosatz charakteristisch vorherrschen, edler und feiner in
0061den Violinen, als von schreienden F-Clarinetten vorgetragen,
0062wie es das Original will. Dem einleitenden Andante hat
0063Heißler die ursprüngliche Färbung nach Möglichkeit dadurch
0064gewahrt, daß er die charakteristischesten Stellen zu acht und
0065mehr Tacten ausschließlich den Bläsern läßt. Die Rolle der
0066kleinen Trommel hat der Bearbeiter weislich den Pauken
0067übertragen und von der Janitscharenmusik nur das Triangel
0068beibehalten, das dem zweiten Thema des Allegro einen
0069nicht leicht zu missenden reizenden Aufputz leiht.
0070Eine selten gehörte Composition voll Geist, Eigenthüm-
0071lichkeit und feinster Behandlung des virtuosen Elements ist
0072ferner Chopin’s Clavierconcert in E-moll. Fräulein Ficht-
0073ner, die es im Orchesterverein spielte, verdient den besten
0074Dank dafür, wenngleich ihr nettes und correctes Spiel sol-
0075chen Aufgaben noch nicht gewachsen ist. Schubert’s B-dur-
0076Entreact zu „Rosamunde“, eine von Fräulein Krauß styl-
0077voll vorgetragene Hasse’sche Arie, endlich eine Haydn’sche
0078Symphonie beschlossen den Abend.
0079Gehen wir von dem wackeren Dilettanten-Concert
0080und seinen mehr vom besten Geist als vom reinsten Ton be-
0081seelten Spielern zu den aufs feinste geglätteten Productionen
0082unserer Philharmoniker über. Sie beendigten jüngst ihren
0083Cyklus von acht Concerten mit Beethoven’s Neunter Sym-
0084phonie, deren allerdings schwierigste Ausführung mit der un-
0085mittelbar vorhergegangenen, der G-dur-Symphonie von Haydn,
0086nicht zu vergleichen war. Die Aufführung dieser Composition
0087war eine so vollendete, daß das Publicum nicht müde wurde,
0088dem Orchester zu applaudiren und Herrn Capellmeister Des-
0089soff hervorzurufen. Die Damen Dustmann und Bettel-
0090heim, die Herren Walter und Schmid, welche im Finale
0091der Neunten Symphonie mitwirkten, sangen überdies (mit
0092Herrn Neumann) das unverwelklich blühende Quintett aus
0093Mozart’s „Cosi fan tutte“. Wir unterstützen bei diesem An-
0094laß auf das wärmste den Vorschlag eines unserer kritischen
0095Collegen, man möchte für Concert-Aufführungen den störenden
0096Text des Baßbuffo (Io crepo) abändern. Auf dem Theater kann
0097Don Alfonso, wenn er ein guter Schauspieler ist, diese nim-
0098mermehr aus der Musik allein sich erklärenden Worte durch
0099Mimik und Action motiviren. Im Concertsaal macht es sich
0100aber doch zu einfältig, wenn ein Bassist mit der diesen Sän-
0101gern eigenen finsteren Feierlichkeit in langsam abgemessenen
0102Tönen versichert, er „sterbe noch vor Lachen“.
0103Das Concert für den Pensionsfonds der Pro-
0104fessoren am Conservatorium fand wie alljährlich an
0105dem theaterfreien Abend des 1. März statt und war so gut
0106besucht, als der lobenswerthe Zweck es wünschen und voraus-
0107setzen ließ. Den interessantesten Bestandtheil des Programms
0108bildete der erste Satz eines unvollendeten Streichquartetts in
0109C-moll von Franz Schubert. Die vier Instrumente setzen
0110im raschesten Sechsachtel-Tact tremolirend nach einander ein:
0111ein leidenschaftlicher, gleichsam medias in res stürzender An-
0112fang, der eine großartigere Steigerung und pathetischere Hal-
0113tung vermuthen läßt, als der Fortgang zeigt. Gleich das
0114nach wenigen Tacten sich anschließende Gesangsthema in
0115As-dur athmet den freundlich lyrischen Charakter des Schu-
0116bert’schen Liedes. Der erste Theil wird repetirt, der zweite
0117verweilt nicht lange und ohne besonders hervorragende Mo-
0118mente bei der Durchführung, bringt hierauf den Stoff des
0119ersten mit geringer Veränderung transponirt wieder und
0120schließt sehr wirksam mit dem tremolirenden Eingangsmotiv.
0121Dieser rasche, gleichsam in leidenschaftlicher Ungeduld ab-
0122brechende Schluß veranlaßt einen hiesigen Musikkritiker zu der
0123Vermuthung, der erste Satz sei vielleicht von Schubert selbst [2]
0124gar nicht vollendet. Die Vermuthung ist irrig. Das uns vor-
0125liegende (von J. Brahms aufgefundene) Original-Manuscript
0126weist nach dem vollständig beendeten ersten Satz noch 41 Tacte
0127des zweiten auf, eines liedmäßigen Andante in As-dur (Dreiviertel-
0128Tact), das, nach dem Anfang zu schließen, ein Musikstück von
0129liebenswürdigster Innigkeit und echt Schubert’schem Gepräge
0130geworden wäre. Die folgenden ganz unbeschriebenen Seiten
0131des zusammengenähten Heftes weisen die Vermuthung ab, daß
0132die Fortsetzung etwa verloren gegangen sei. Schubert hat
0133das Stück nicht weiter componirt. Momentan mochte ihn
0134eine dringende Arbeit abhalten; daß er aber auch späterhin
0135dieses schon im Jahre 1820 niedergeschriebene Fragment nicht
0136wieder vornahm und fortsetzte, scheint doch auf den geringe-
0137ren Werth hinzudeuten, den der Componist selbst dem Anfang
0138beilegte. Mit den hervorragendsten Werken Schubert’s im
0139Gebiet der Kammermusik kann man den C-moll-Satz aller-
0140dings nicht vergleichen, weder was die Fülle und Neuheit der
0141melodischen Erfindung, noch was die Kunst der Technik be-
0142trifft. Dennoch ist es eine werthvolle Gabe, an der man seine
0143Freude hat. Alles so wahr, ungezwungen und echt musikalisch,
0144selbst das minder Bedeutende so anmuthig vorgetragen! Es
0145ist immer Schubert, der spricht, und nimmt er diesmal
0146auch keinen hohen Flug, man fühlt es doch immer, die Flü-
0147gel sind ihm angewachsen. — Außer dem Quartett-Fragment
0148hörten wir von Schubert noch die As-dur-Variationen zu
0149vier Händen, von den Herren Dachs und Schenner bei-
0150fällig gespielt; ferner das Beethoven’sche Septett, das gut
0151studirt, aber namentlich im ersten Satz mit jener kleinlich
0152nuancirenden Koketterie vorgetragen wurde, mit welcher unser
0153Primgeiger einfache, gesunde Musik zu schminken liebt. Frau
0154Haizinger, mit Jubel empfangen und entlassen, verbreitete
0155die heiterste Laune durch einige humoristische Declamationsstücke,
0156worauf Fräulein Magnus die Zuhörer mit leiser, sicherer Hand in
0157eine höhere Region lenkte. Sie trug sechs Nummern von Schu-
0158mann vor, alle aus dem herrlichen „Eichendorff’schen Lieder-
0159kreis“. In ihren Stimmmitteln kam uns Fräulein Magnus fast
0160noch beengter vor, als in dem letzten Concert; das erste Lied
0161(„Fremde“) war mehr angedeutet, als wirklich gesungen, das
0162zweite („Waldesgespräch“) verlangt geradezu etwas mehr Kraft
0163und dramatische Energie, als Fräulein Magnus entfaltete.
0164Ueberaus seelenvoll sang sie hingegen die träumerischen, vom
0165Dichter und Tonsetzer aus tiefstem Herzen geschöpften Lieder:
0166„Stille“, „Mondlicht“ und „Schöne Fremde“. Auffassung,
0167musikalische und declamatorische Ausführung waren hier nahezu
0168vollendet und ergriffen den Zuhörer mit unmittelbarer Ge-
0169walt. Ihre innige, keusche Vortragsweise, die das Gefühl
0170mehr zurückdämmt als völlig ausströmt, behielt Fräulein
0171Magnus auch in Schumann’s „Frühlingsnacht“ bei, einem
0172Liede, das so oft zu rein opernmäßigem Loslegen mißbraucht
0173wird. Daß Fräulein Magnus mit diesem Liede am mei-
0174sten wirkte und es wiederholen mußte, verräth die Macht,
0175welche sie bereits über das Publicum gewonnen hat. „Gute
0176Liedersänger sind fast noch seltener als gute Lieder-Componi-
0177sten,“ schrieb Schumann einmal. Wir glauben, mit He-
0178lene Magnus wäre er zufrieden gewesen.
0179Herr Camillo Sivori hat nach länger als zwei Decen-
0180nien Wien wieder besucht und sein Concert im Musikvereins-
0181Saale gegeben. Als vollwichtiger Virtuose in beiden Weltthei-
0182len anerkannt, hat Sivori bekanntlich noch das besondere Prestige,
0183von Paganini persönlich unterrichtet zu sein. Nur noch Ein
0184Violinspieler, Apollinar v. Kontsky, theilte es mit ihm.
0185Obwol eine von Paganini ganz verschiedene Individualität,
0186hat Sivori sich doch Vieles von der Technik seines Meisters
0187mit zweifellosem Erfolg angeeignet. Was Paganini eine so
0188dämonische Macht über alle Zuhörer verlieh, das freilich läßt
0189sich nicht aneignen. „Der düstere Mann, in Märchen einge-
0190hüllt“ — wie ihn Holtei einst besang — versetzte überall, wo
0191er hinkam, das Publicum in einen fieberhaften Zustand. Das
0192Paganini-Delirium, das 1828 in Wien herrschte, war einzig
0193in seiner Art, selbst der Liszt-Taumel in den Vierziger-Jah-
0194ren klingt nur wie ein Echo dagegen. Im Jahre 1828 war
0195es in Wien noch ein Ereigniß, wenn ein Virtuose für seine
0196Concerte den großen Redoutensaal benützte, und ganz uner-
0197hört, daß er für das Billet fünf Gulden Conventions-
0198Münze verlangte. Dennoch mußten damals Hunderte in den
0199angrenzenden Corridors lauschen, ohne Paganini zu sehen, ab-
0200gesehen von den zu spät kommenden Damen, die auf den zum
0201Concertsaal führenden Stufen saßen. Diese Zeiten sind vorüber,
0202und Paganini’s „caro ragazzino“, Herr Sivori nämlich, hat
0203im Musikvereins-Saale dem Publicum keine ähnlichen Unbequem-
0204lichkeiten verursacht. Es wird uns schwer, beim Anblick Si-
0205vori’s an Paganini zu denken. Letzterer war ohne Zweifel
0206eine geniale Persönlichkeit mit einigen starken Beigaben von
0207Charlatanerie. Herr Sivori treibt keine Charlatanerie, wir
0208haben aber auch nichts Geniales an ihm entdeckt. Er ist
0209durchaus Virtuose, zunächst italienischer Virtuose: die Schön-
0210heit des Tones, sodann die Schönheit der einzelnen Phrase
0211oder Passage ist sein erstes Augenmerk. Sivori’s Ton
0212ist in der That von einschmeichelnder Süßigkeit und Run-
0213dung, ohne die imposante Größe Joachim’s oder Laub’s
0214zu erreichen. Sein Spiel ist rein, nett und ausgefeilt, die
0215linke Hand ungemein virtuos, der rechte Arm von mäßiger
0216Behendigkeit. Die Eigenthümlichkeiten und Glanzpunkte von
0217Sivori’s Virtuosität hätten wir aus dem Vortrag seiner
0218eigenen Compositionen am besten kennen gelernt. Er hat be-
0219scheidenerweise nichts davon vorgeführt und überhaupt nur zwei
0220Bravourstücke gespielt: die gar nicht melancholische, aber
0221namenlos fade „Mélancolie“ von Prume und ein
0222Paganini’sches Kunststück (Variationen über das Gebet aus
0223„Mosè“) auf der G-Saite allein. — Bei aller darauf ver-
0224wendeten Kunstfertigkeit machen derlei Compositionen keine
0225Wirkung mehr. Wie die Paganini’schen Kunststücke, so hat die
0226Paganini’sche Schule überhaupt sich bereits ausgelebt, zwei ihrer
0227talentvollsten und berühmtesten Anhänger, Bazzini und
0228Ole Bull, mußten das schließlich an sich erfahren. Diese
0229Einsicht hat offenbar auch Herrn Sivori geleitet, als er zwei
0230deutsche classische Compositionen in sein Programm aufnahm:
0231eines der unbedeutenderen Haydn’schen Quartette (D-dur),
0232das nur in seinem kurzen Finalsatz, einer Art perpetuum
0233mobile, einige Gelegenheit gibt, in raschen Sechzehntel-Passagen
0234zu glänzen. Sodann Beethoven’s A-dur-Sonate (die
0235„Kreutzer’sche“), die Herr Sivori zwar mit sehr schönem Ton
0236und aller wünschenswerthen Eleganz vortrug, aber mit so
0237wenig Wärme, Schwung und Großheit, daß wir uns
0238keinen Augenblick gerührt oder hingerissen fühlten. Allerdings
0239trägt daran die wahrhaft schülerhafte Weise, in welcher ein
0240„Professor“ den Clavierpart herabspielte, die gute Hälfte der
0241Schuld. Herr Sivori fand reichlichen Beifall, wie sich dies
0242von einem Virtuosen seines Ranges und Rufes wol von
0243selbst versteht. Ein junges Mädchen, Fräulein Marie Trou-
0244sil, Schülerin von Fräulein Bochkolz-Falconi, sang
0245eine Bellini’sche Arie und zwei Lieder mit vollständigem
0246Erfolg. Ihre Stimme, ein Mezzo-Sopran von seltener Kraft
0247und Weichheit, gehört zu den schönsten, die uns seit lange
0248vorgekommen. Ist einmal an die Cultur derselben die letzte
0249Hand angelegt, so wird Fräulein Trousil ohne Zweifel
0250als Opernsängerin Aufsehen erregen.