Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 911. Wien, Donnerstag den 14. März 1867

[1]

Concerte, Oper und Ballet.


0002Ed. H. Herrn Sivori’s zweites Concert hatte einen
0003vorherrschend italienischen Charakter. Nicht nur ließ das Pro-
0004gramm diesmal die Classiker beiseite und erging sich in Si-
0005vori
und Paganini, in „Lucia“ und „Mosè“, auch die
0006Physiognomie des Publicums, das dröhnende Klatschen und
0007Rufen, vereint mit der unerträglichsten Hitze im Saale, rück-
0008ten uns um einige Breitengrade südlicher. Der Erfolg über-
0009traf beiweitem jenen des ersten Concerts. Sivori bewegte
0010sich ausschließlich auf seinem eigensten Territorium, spielte
0011was er seit 35 Jahren mit Erfolg zu spielen gewohnt ist,
0012was er am besten und am liebsten spielt. Was uns auch
0013diesmal wieder die meiste musikalische Befriedigung gewährt
0014hat, war Sivori’s unsäglich süßer und weicher Ton im ge-
0015tragenen Gesang. Wunderbar einschmeichelnd flossen die ein-
0016fachen Melodien Lucia’s von seiner Geige. Das war die
0017reine Schönheit des Klanges, ohne jede störende Erinnerung
0018an Roßhaar oder Darmsaiten. Von noch durchschlagenderem
0019Effect erwiesen sich freilich Sivori’s Bravourstücke, unter wel-
0020chen wir dem „Movimento perpetuo“ den Vorzug einräu-
0021men, einer in raschesten Sechzehnteln scheinbar endlos hinströ-
0022menden Etude, die trotz des vorschlagenden Bravourzweckes
0023doch musikalisch gedacht ist. Sivori bezwang die Aufgabe
0024mit unermüdlicher Ausdauer. Hingegen haben wir weder den
0025Paganini-Stücken, welche die ernste G-Saite zum Turnplatz
0026halsbrecherischen Unfugs machen, noch den Spässen des „ Car-
0027neval von Venedig“ einiges Vergnügen abzwingen können.
0028Das ist nicht Virtuosität im strengen oder gar im besten
0029Sinne, sondern kindisch und läppisch gewordene Virtuosität.
0030Winseln, Scharren, Brummen und Pfeifen, allerlei Thier-
0031laute und Marionettengequiek bildeten den Hauptinhalt dieses
0032Carnevals“, dessen längst fadenscheiniger Stoff leider von
0033Jahr zu Jahr grelleren Aufputz braucht. Derlei Geigenwitze
0034sind älter als man glaubt und wurden in Deutschland schon
00351780 von einem versoffenen Genie, Scheller, colportirt,
0036welcher die Devise: „ein Gott, ein Scheller“ führte und
0037dem die Zeitungen nachrühmten, „er spiele über Alles natürlich
0038das alte Weib, wie es zankt und vor Zorn singt; auch weine
0039er sehr natürlich“ u. s. w. Den „Carneval von Venedig“ be-
0040trachten wir als unseren persönlichen Todfeind. Vor 20 Jahren
0041schon genügte der bloße Anfang des mit eingeknickten Knien
0042herabstolpernden Themas, uns trostlos zu machen, und wir
0043hätten in den demokratischesten Tagen des Jahres 1848 jede
0044Zwangsmaßregel mit Jubel begrüßt, die irgend eine absolute
0045Regierung gegen obgenannten Carneval und seine Geschäfts-
0046reisenden verfügen mochte. Und seither, wie viele tausendmal
0047hat dies angeblich lustige Ungeheuer uns in allen Gestalten
0048gefoltert! Im Vergleich damit ist es eine Erholung anzuhören,
0049wie Paganini die Juden auf der G-Saite säuberlich durchs
0050Rothe Meer führt, und gleichsam aus Freude über die erhörte
0051Preghiera“ einige lustige Variationen daran fügt, deren
0052Kunststücke dem Spieler und Hörer über dem Kopf zu-
0053sammenschlagen. Um den natürlichen Tonumfang der G-Saite
0054zu erweitern, muß der Virtuose fortwährend zum Flageolet
0055und den sogenannten harmonischen Tönen seine Zuflucht neh-
0056men, welche, ganze Variationen hindurch und in raschem
0057Tempo, selbst dem besten Geiger nie mit vollkommener Sicher-
0058heit zu Gebote stehen. Wir haben diese Flautato-Künste auf
0059der G-Saite nie so virtuos ausführen gehört, und Sivori mag
0060hierin vielleicht keinen Rivalen haben. Trotzdem wird jeder
0061musikalische Zuhörer bezeugen, daß selbst unter Sivori’s Bo-
0062gen mitunter Töne zum Vorschein kamen, die das Ohr mal-
0063traitirten, wie es auch nicht anders möglich ist, wenn man sich
0064abmüht, auf der Geige Piccolo zu blasen und auf einer Saite
0065mangelhaft hervorzubringen, was vier Saiten leicht und voll-
0066kommen geben. Der Unnatur folgt die Strafe auf dem Fuße:
0067mag der Virtuose noch so sehr auf seiner Einen Saite glän-
0068zen, die drei anderen glänzen daneben noch stärker — durch
0069ihre Abwesenheit. Von zwei jungen Sängerinnen, die in
0070Sivori’s Concert mitwirkten, Fräulein v. Leclair und Fräu-
0071lein Josette (?) Rudolff, hörten wir nur Letztere. Ihre
0072Stimme ist von geringer Intensität und in der Höhe etwas
0073gegen den Gaumen gepreßt; durch geschickte und häufige An-
0074wendung des Mezza voce erzielt sie aber sehr anmuthige Wir-
0075kungen und setzt damit im Liedervortrag manchen Zug von
0076Sinnigkeit und Empfindung in günstiges Licht. Fräulein
0077Gabriele Joël spielte unter aufmunterndem Beifall eine
0078Pergolese-Transscription von Thalberg und Liszt’sRegatta
0079veneziana“, ein Stück, dessen trivialster wälscher Inhalt nicht
0080einmal durch besondere, Liszt sonst auszeichnende Feinheiten des
0081Clavier-Effectes gemildert wird. Wir tragen bei dieser Gelegen-
0082heit nach, daß in einem der letzten Concerte Fräulein Eugenie
0083Bernstein mehrere Clavierstücke sehr beifällig vortrug. Das
0084Jahr ist ungemein fruchtbar an jungen Pianistinnen.


0085Das dritte Concert der Gesellschaft der Musik-
0086freunde
fand am verflossenen Sonntag statt und wurde mit
0087Gluck’s Ouvertüre zu „Iphigenia in Aulis“ eröffnet. Hierauf
0088erfreute uns Fräulein Helene Magnus mit dem edlen und
0089stylvollen, wenn auch nicht mächtigen Vortrag der G-dur-
0090Arie der Taurischen Iphigenia (mit obligater Oboe) von
0091Gluck. Noch viel größere und eigenthümlichere Wirkung
0092wußte Fräulein Magnus einem Gesangstück von Berlioz 
0093(L’Absence aus den „Nuits d’été“) abzugewinnen, das ihrer
0094modernen und romantischen Gefühlsweise offenbar näher steht.
0095Hier wirkte die Tiefe und Zartheit der Empfindung, die in
0096Sinn und Wort so fein eindringende Declamation dieser
0097Künstlerin zauberhaft. Die zarte, aber verschwommene Compo-
0098sition bedarf geradezu einer nachdichtenden Sängerin, um
0099überhaupt zu wirken; Fräulein Magnus mußte sie wiederho-
0100len. Eine junge Pianistin, Fräulein Stephanie Vrabély,
0101errang mit Chopin’s Es-dur-Polonaise (op. 22) einen Er-
0102folg, der auf künftige glanzvolle Tage deutet. Die musikalische
0103Seele dieser anmuthigen Künstlerin scheint noch unselbststän-
0104dig, unfertig — gerade der Vortrag Chopin’scher Musik
0105wird hierin zum Verräther — aber ihre Technik ragt über
0106die bloße „Geläufigkeit“ hinaus und besitzt jetzt schon Einzel-
0107heiten, die glänzend heißen dürfen, wie die Pianissimo-Passa-
0108gen der rechten Hand. Dem Damenchor des „Singvereins“
0109gebührt für den fein abgestuften Vortrag des Schlummer-
0110liedes aus „Blanche de Provence“ von Cherubini ein
0111neues Lorbeerreis. Den Beschluß machte eine äußerst selten
0112gehörte Symphonie von Haydn (B-dur), welche sich in den
0113beiden äußeren Sätzen durch reiche, dabei stets durchsichtige
0114contrapunktische Arbeit und durch ein Menuet-Trio von un-
0115widerstehlicher Grazie auszeichnet. Die Aufführung der Sym-
0116phonie war, abgesehen von einem mittelmäßigen Violinsolo,
0117sehr lobenswerth; die meisterhafte Leitung des ganzen Concerts
0118wurde durch wiederholten Hervorruf des Herrn Hofcapellmei-
0119sters Herbeck anerkannt.


0120So hätten wir uns wieder an einem jener vortrefflichen
0121Orchester-Concerte erbaut, welche man so billig wie in Wien 
0122nirgends zu hören bekommt und die gleichwol nach der An-
0123sicht der letzten „General-Versammlung“ eine Erhöhung des [2]
0124Abonnements-Betrages nicht rechtfertigen sollen. Mit welchem
0125Recht Jemand, der für vier große Concerte jährlich den
0126Bettel von sechs Gulden zahlt, noch ein „unterstützendes
0127Mitglied“ der Gesellschaft der Musikfreunde heißt, ist schwer
0128zu begreifen. Die Nichtmitglieder, welche jedesmal an der
0129Kasse ihr Billet mit zwei Gulden lösen, sind doch ent-
0130schieden „unterstützender“. Dieser Jahresbeitrag von sechs Gul-
0131den steht mit den gegenwärtigen Preisverhältnissen und den
0132gesteigerten Concertkosten insbesondere in schreiendem Miß-
0133verhältniß und reicht gerade hin, das Concert-Budget der
0134Gesellschaft in einem chronischen Deficit zu erhalten.
0135Nun sollen aber mit diesem Jahresbeitrag nicht blos die
0136Gesellschafts-Concerte, sondern auch das Conserva-
0137torium
dotirt werden. Muß es nicht ein bedauerliches Re-
0138sultat von sehr kleinstädtischer Färbung genannt werden, daß
0139die Majorität der letzten Versammlung die von der Direc-
0140tion beantragte Erhöhung des Jahresbeitrags auf acht Gul-
0141den
verworfen hat? Hätte man diese unbedeutende Steige-
0142rung vorgenommen, so wären vielleicht zwanzig bis dreißig
0143der bisherigen Mitglieder ausgetreten, um nach Jahr und
0144Tag sicher wiederzukommen. Und selbst diesen momentanen
0145Ausfall würde die persönliche Verwendung der Directions-
0146Mitglieder in deren ausgebreiteten Bekanntenkreisen leicht ge-
0147deckt haben. Wir können unmöglich glauben, daß die eng-
0148herzige Anschauung der General-Versammlung in dem
0149eigentlichen großen Publicum eine kräftige Resonanz fin-
0150det. Die knappen Zuschüsse, von welchen zwei so
0151ausgezeichnete und mit Recht berühmte Kunst-Institute
0152wie das Wiener Conservatorium und die Wiener Gesellschafts-
0153Concerte sich fristen müssen, stehen einer Großstadt von vor-
0154wiegend musikalischer Neigung und Bildung schlecht zu Ge-
0155sicht. Allerdings müssen wir zunächst die Sparsamkeit der
0156Regierung beklagen, welche eine jährliche Ausgabe von 37,000
0157Gulden für das Mailänder Conservatorium nicht zu hoch
0158fand, während sie die zehnmal tüchtigere und fruchtbarere An-
0159stalt in Wien mit einem unerheblichen Beitrag abfertigt. Ist
0160aber diese Sprödigkeit der Regierung vorderhand ein fait
0161accompli, so müssen Bürgersinn und Bürgerstolz um so eifri-
0162ger für ein Institut wirken, das eine Zierde der Stadt wie
0163des Reiches bildet. Wir denken, die Nothwendigkeit wird in
0164Kurzem den Beschluß erzwingen, den wir lieber jetzt schon
0165aus freier Wahl und Einsicht hätten hervorgehen sehen.


0166Die bemerkenswerthen Ereignisse im Hofoperntheater be-
0167schränken sich auf das Debüt der Sängerin Frau Wilt und
0168das neue Ballet „Fiammella“. Ueber das erfolgreiche erste
0169Auftreten der Frau Wilt als Leonore im „Troubadour“ ha-
0170ben wir bereits in Kürze berichtet. Der allgemeine Beifall,
0171den diese Leistung fand, gewinnt an Bedeutung durch den
0172später bekannt gewordenen Umstand, daß Frau Wilt noch
0173unter dem Einfluß einer heftigen Erkältung auftrat, also
0174ihre reichen Stimmmittel nicht einmal vollständig entfalten
0175konnte. Leider haben die Nachwirkungen dieses Heroismus
0176das zweite Auftreten der Frau Wilt bisher verhindert und
0177wir müssen eine eingehendere Würdigung dieser Sängerin der
0178befreundeten und bewährten Hand überlassen, welche für die
0179nächste Zeit die Feder an dieser Stelle führen wird.*)


0183Das lange erwartete und kräftig ausposaunte Ballet:
0184Fiammella, oder: Die Macht der Hölle“ errang
0185einen nur mäßigen Erfolg. Nur einzelne effectvoll arran-
0186girte Gruppen, wie die Dämonen-Versammlung in der roth
0187angeglühten Hölle — ein wahrer Höllenbreughel — im ersten
0188Act und einige malerische Momente in den Ensembles fan-
0189den lebhaften Beifall. Das Ganze wurde von dem schließ-
0190lich gelangweilten und ermüdeten Publicum stillschweigend ab-
0191gelehnt. Die starke Seite der Borri’schen Ballette fehlt
0192auch in der „Fiammella“ nicht: es sind, wie wir oben ange-
0193deutet, die effectvollen Gruppirungen und reich verschlungenen
0194Cotillon-Figuren, bei welchen die malerische Combination der
0195Farben eine Hauptrolle spielt. Aber in welch abgeschmackt
0196sinnlosen Stoff sind diese spärlichen Augenweiden einge-
0197zwängt, von welchem Wust langweiliger und widerwärtiger
0198Scenen sind sie umgeben! Gleich das Vorspiel, wel-
0199ches die „Hölle“ vorstellt — Himmel, welche Hölle!
0200— stoppelt Alles über einander, was an fratzenhaften
0201Figuren, aberwitzigen Decorationen und scheußlichen Costümen
0202erdenkbar ist. Der Inhalt des Ballets ist von einer witz-
0203losen Albernheit, die kaum einem Kinde munden kann, me-
0204lancholisch in seinen heiteren Scenen, widerwärtig in dem Sen-
0205timentalen und Tragischen. Dabei sündigt „Fiammella“ gegen
0206die erste Regel jedes Balletes: verständlich zu sein. Einem 
0207normal begabten Zuschauer bleibt die Handlung von Anfang
0208bis zu Ende ein Buch mit sieben Siegeln; und wendet er
0209zwanzig Kreuzer an das gedruckte Programm (eine der ori-
0210ginellsten Geistesblüthen Carlchen Mießnick’s), so hat er
0211statt der sieben Siegel acht. Zu dem grellen Farben- und
0212Formentumult der Borri’schen „Hölle“ gesellt sich eine
0213Musik, die lärmender und trivialer nicht gedacht werden kann.
0214Giorza heißt der Edle, der sie verfertigt hat. Ein sehr ge-
0215meiner italienischer Ballet-Compositeur, das ist an sich
0216schon eine dreieinige Vorstellung, bei der aller Spaß
0217vergeht. Aber für das Getöse in der „Fiammella“,
0218wo es keinen Tact ohne Bombardon, Becken und große
0219Trommel und kein Finale ohne Blechmusik auf der Bühne
0220gibt, reicht sie nicht hin. Man müßte ein halbes Dutzend
0221venetianischer Salamimänner betrunken machen und ihnen die
0222Blechinstrumenten-Fabrik von Bock und Stowasser zur
0223Plünderung preisgeben, dann würde man vielleicht Aehnliches
0224erzielen. Herr Doppler, den der Theaterzettel als musikalischen
0225Mitarbeiter nennt, hat sich offenbar an der Fiammella-Parti-
0226tur sehr wenig betheiligt; nur selten taucht aus dem Giorza-
0227Tumult ein freundlicher, wienerisch angehauchter Dreiviertel-
0228tact, welcher das mildere Evangelium unseres flötenkundigen
0229Humanisten predigt. Den malerischen Einzelheiten des
0230neuen Ballets ließen wir bereits Gerechtigkeit wider-
0231fahren; Herr Borri wurde in Anerkennung derselben
0232nach dem ersten und zweiten Acte gerufen. Unter den
0233Mitwirkenden stand Fräulein Couqui (Fiammella)
0234obenan, deren starke Seite allerdings nicht der Ausdruck des
0235Dämonischen ist, die aber thatsächlich die edlere Auffassung
0236des Tanzes, die schöne Anmuth der Bewegungen hier mono-
0237polisirt zu haben scheint. Außer Fräulein Couqui wurden
0238noch besonders die Tänzerinnen Stadelmayer, Jaksch 
0239und Charles applaudirt, sowie die Fräulein Millerschek 
0240und Rotter, welche im Rococco-Costüm eine Duo zwischen
0241zwei mathematischen Linien mit großer Naturwahrheit aus-
0242führten. Erwähnen wir noch der lebensvollen Mimik des
0243Herrn Frappart, der ergötzlichen Laune des Herrn Price 
0244und der effectvollen Schlußlandschaft von Herrn Brioschi,
0245so haben wir Alles gesagt, was wir über die „Macht der
0246Hölle“ wissen. Sie selbst, die Macht der Hölle, vermöchte uns
0247keine weiteren Aufklärungen zu entreißen.

Fußnoten
  • *)Herr Dr. Ed. Hanslick begibt sich als Mitglied der öster-
    reichischen Ausstellungs-Jury nach Paris, von wo er uns musikalische
    Berichte einzuschicken gedenkt. D. Red.