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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1057. Wien, Sonntag den 11. August 1867

[1]

Musikalische Briefe aus Paris. VII.

Auber.

Paris, 7. August.


0004Ed. H. Die beiden musikalischen Großmeister von Paris 
0005machen einander in ihrer Lebensweise die vollständigste Oppo-
0006sition. Während Rossini seine Tage durch olympisches Aus-
0007ruhen genießt, bedarf Auber fortwährender Thätigkeit. Der
0008Eine vermeidet jede Anstrengung, als etwas das Uhrwerk sei-
0009nes Lebens Abnützendes, der Andere scheint im Gegentheil zu
0010fürchten, es könnte die Maschine durch Unthätigkeit einrosten
0011und stehen bleiben. Rossini, ein heiteres Symbol des ita-
0012lienischen dolce far niente, hält sich die Welt vom Leibe,
0013ihre Geschäfte wie ihre Genüsse, und über die Ruhe in der
0014Stadt geht ihm nur die noch ruhigere auf seinem Landsitz.
0015Auber, die Verkörperung französischer Rührigkeit, würde
0016hingegen ohne den steten Contact mit der Gesellschaft verkom-
0017men; selbst in der Sommerhitze ist ihm das bewegte Paris 
0018sympathischer, als die monotone Idylle des Landlebens. Auber 
0019zählt 85 Jahre; es ist kaum anzunehmen, daß seine Thätig-
0020keit derzeit der Kunst noch großen Vortheil bringe, aber diese
0021Thätigkeit selbst ist ein Phänomen. Der greise Meister legt
0022sich um 1 Uhr Nachts zu Bett und steht täglich um 5 Uhr
0023Morgens auf. Eine Tasse Thee zum Frühstück muß als ein-
0024zige Nahrung bis um 7 Uhr Abends vorhalten, wo er ein
0025gediegenes und ausführliches Diner tapfer bewältigt. Um 9
0026Uhr Morgens leidet es ihn selten mehr zu Hause; da wird
0027ins Conservatorium gegangen, in den Senat oder ins Insti-
0028tut, auf den Boulevards flanirt, spazieren gefahren. Im eige-
0029nen Hause ist Auber nicht gesellig wie Rossini, obwol sein
0030glänzender Wohlstand ihm die Gastfreundschaft leicht machte.
0031Vielleicht weil er unverheiratet ist? Es fehlt doch nicht an
0032einer feinen, stattlichen Dame, der man beinahe die Ehren
0033einer Hausfrau erweist. Der im Frauencultus großgewachsene
0034und noch immer empfindsame Componist des „Fra Diavolo“
0035würde es ohne weibliche Umgebung ja doch nicht aushalten.
0036Auber empfängt ungleich weniger Besuche als Rossini. Es hat
0037nicht Jedermann Lust und Muth, einen berühmten Mann vor
00388 Uhr Morgens zu besuchen, obendrein wenn dieser von seinem 
0039Hausgesinde mit furchtbarem Eifer bewacht wird. Die Basis
0040dieser Auberʼschen Festungswerke bildet eine wüste, alte Haus-
0041meisterin, welche seit 40 Jahren sein Hausthor in der Rue
0042St. Georges mit Wort und That vertheidigt. Dieser berühmte
0043weibliche Dämon nimmt jeden ihrem Gebieter zugedachten Be-
0044such als eine persönliche Beleidigung auf und ist im Stande,
0045sich mit ausgebreiteten Armen dem erschreckten Fremdling in
0046den Weg zu werfen. Glücklicherweise hatte ich im Laufe dieser
0047vier Monate reichliche Gelegenheit, Auber sowol von seiner ge-
0048selligen Seite als in seinem künstlerischen und geschäftlichen
0049Wirken näher kennen zu lernen.


0050Es war gegen Ausgang der italienischen Opernsaison.
0051Adelina Patti, in deren eleganter Wohnung in der Avenue
0052des Champs Elysées es nicht so klösterlich herging, wie 1863 
0053in der Klostergasse zu Wien, gab ihren Bekannten eine fröhliche
0054Abschieds-Soirée. Nach Pariser und Londoner Sitte ging der
0055Abendgesellschaft ein Diner für einen engeren Freundeskreis
0056voran. Nebst einigen im Hause befreundeten Damen nahmen
0057der Director der italienischen Oper, Bagier, der russische
0058Staatsrath de Thal, der Maler Gustave Doré und der be-
0059rühmte Hornist Vivier am Tische Platz. Wo Letzterer zuge-
0060gen, ist bekanntlich die gute Laune garantirt. Vivier erfreut
0061sich als amüsanter Gesellschafter, Schnurrenmacher und Anek-
0062doten-Erzähler allenthalben der größten Beliebtheit. Ein wah-
0063res Original, heute Salonheld, morgen „Bohémien“, ist er in
0064der rauchigsten Künstlerkneipe ebenso zu Hause, wie in den
0065Salons Kaiser Napoleonʼs. Eine „deutsche Rede“, die Vivier 
0066gegen den Schluß des Diners hielt, erinnerte mich lebhaft an
0067das verwandte Talent Alexander Baumannʼs. Vivier, dessen
0068gesammtes Deutsch sich auf die Worte „meine Herren“ be-
0069schränkt, erhob sich mit dem Champagnerglas in der Hand
0070und begann mit erschütterndem Ernst einen Unsinn hervorzu-
0071sprudeln, den Niemand verstand, aber Jedermann für deutsch 
0072hielt. Dabei waren die Gesten und Modulationen deutscher 
0073Festredner mit eminenter Komik wiedergegeben. Die Stim-
0074mung war dadurch so heiter geworden, daß jeder neue Spaß
0075fruchtbaren Boden fand, z. B. der Vorschlag, sofort (also bei
0076dunkler Nacht) nach Doréʼs Atelier zu fahren, um dessen
0077neues Bild, „Der Spieltisch in Homburg“, anzusehen. Schnell
0078waren zwei Fiaker in Beschlag genommen und wir fuhren zu
0079dem nahegelegenen Atelier in der Rue Bayard. Das viel-
0080besprochene colossale Genrebild mit nahezu hundert lebens-
0081großen Figuren, das einige Wochen später den Hauptmagnet
0082der Kunstausstellung bildete, stand, noch unvollendet, in völ-
0083liger Dunkelheit da. Es war drollig genug, wie Doré, eine
0084Lampe zur Hand, das Gerüst bestieg und das Bild von rechts
0085beleuchtete, während sein Farbenreiber auf einer Leiter die linke
0086Seite erhellte. Doré, dessen geistvolle Illustrationen des „Don
0087Quixote“, „Dornröschen“ und der „Divina Commedia“ von
0088Dante auch in Deutschland längst bekannt sind, ist ein schmucker
0089junger Mann von sehr einnehmenden Zügen und Umgangs-
0090formen, eine jener echt französischen Künstlernaturen, welche
0091mit dem erstaunlichsten Fleiß den vollsten Genuß der Lebens-
0092freuden verbinden. Er trieb uns aus dem Halbdunkel seines
0093Ateliers zur raschen Rückkehr nach dem hell erleuchteten
0094Salon an. Da wogte es bereits in glänzender Fülle von schönen
0095Damen, gefeierten Künstlern, ordensschimmernden Diplomaten.
0096Eben war die berühmte Sängerin Grisi mit ihren drei Töch-
0097tern eingetreten, jungen, rehschlanken Mädchen mit dunklen
0098Locken und geistsprühenden Augen. Sie nahmen Platz neben
0099der dunklen Centifolie Carlotta Patti und Marie Krebs,
0100dem deutschen Vergißmeinnicht. Marquis de Caux, ein Stern
0101der jungen Herrenwelt von Paris, hat als Anführer des Co-
0102tillons bereits wiederholt in die Hände geklatscht, als plötzlich
0103eine kleine Bewegung am Eingang entsteht und alle Augen sich
0104nach der Thür wenden. Durch die respectvoll zurückweichen-
0105den Reihen schreitet ein kleiner alter Herr, dem unsere junge
0106Hausfrau mit der ganzen Natürlichkeit ihrer Bezauberungs-
0107kunft entgegeneilt. Der späte Gast in tadellosen Lackstiefletten
0108und weißer Cravate, die Rosette im Knopfloch und den Claque-
0109hut unterm Arm, ist Auber. Er begrüßt mit verbindlicher
0110Haltung die Mitglieder des Hauses und sieht stehend eine volle
0111Stunde lang dem Tanze zu. Dann gibt es einige kurze
0112Ansprachen nach rechts und links, bis zwei schöne Frauen den
0113galanten Maestro zu sich aufs Sofa nöthigen. Daß der
011485jährige Mann es mehrmals in jeder Woche über sich bringt,
0115um 10 Uhr Nachts dem bequemen Fauteuil zu entsagen, Toi-
0116lette zu machen und sich dem Drangsal einer großen Soirée
0117zu überliefern — ich habe ihn noch mehr darum bewundert,
0118als ob der „Stummen von Portici“. Die Journale mögen
0119ihn deßhalb immerhin mit den stereotypen Beinamen „unver-
0120wüstlicher Jüngling“, „jugendlicher Greis“ u. dgl. beehren, nur [2]
0121muß der Leser von diesen Ausdrücken jeglichen Beigeschmack
0122von Geckenhaftigkeit oder Gefallsucht ablösen. Er würde sonst
0123schweres Unrecht thun. Man kann sich nicht ernsthafter und
0124einfacher benehmen, als Auber. Die Lust an Spässen, die
0125ewig scherzende Laune Rossiniʼs liegt ihm fern, noch ferner
0126die Geziertheit und jungthuende Koketterie eines A. W. Schle-
0127gel
. Auberʼs ernsthafte Miene erhält durch den scharfen, unter
0128dichten Augenbrauen wie aus dem Busch hervorschießenden Blick
0129sogar etwas Finsteres. Wie Rossini offen und redselig, so
0130ist Auber zugeknöpft, wortkarg, förmlich. Man wird ihn sel-
0131ten lächeln sehen, vielleicht nur im Gespräch mit Damen.
0132Sein Geschmack für glänzende Geselligkeit fand in dieser Sai-
0133son ein ergiebiges Feld. Ich sah Auber gleich unermüdlich
0134in den prachtvollen Soiréen, welche der Kaiser, der Marschall
0135Vaillant, die Minister Rouher und Forcade gaben, dann
0136bei der Preisvertheilung, endlich zu wiederholtenmalen in der Oper.
0137Bei den Italienern fehlte er selten, wenn Adelina Patti 
0138sang, die er als die erste lebende Opernsängerin schätzt. Man
0139sah ihn da vorn in der zweiten Sperrsitzreihe ganz begeistert
0140applaudiren; für ihr Abschieds-Benefice hatte er ein prachtvolles
0141Bouquet aus Nizza kommen lassen. Wenn eine seiner Opern
0142gegeben wird, zeigt sich Auber niemals im Saale, kommt aber
0143gern auf die Bühne. Ich traf ihn da mitten unter den
0144Fischern von Portici, in einer unglückseligen Vorstellung der
0145Stummen“, die traurige Vergleiche in seiner Erinnerung er-
0146weckt haben muß. Aber auch er selbst, der Componist dieser
0147hinreißenden Oper, gab uns Anlaß, die Verheerungen der Zeit
0148zu beklagen: eine große Balletmusik, für die Marktscene des
0149dritten Actes von ihm neu componirt, war so überaus schwach
0150und ordinär, daß man sich förmlich zwingen mußte, an die
0151Autorschaft Auberʼs zu glauben. Ungleich hübscher, wenngleich
0152nicht hervorragend, ist ein kleines einfaches Andante, das Au-
0153ber hier für die Patti componirt hat und das sie als Einlage
0154im „Barbier von Sevilla“ vorzutragen pflegt.


0155In der großen Jury über die Preis-Cantaten und Frie-
0156denshymnen war Auber unser Präsident — kein Präsident
0157auf dem Anschlagzettel, wie Rossini, sondern ein sehr wirkli-
0158cher. Die erste rohe Arbeit des Durchspielens aller 200 Can-
0159taten und 800 Hymnen machte er allerdings nicht mit —
0160der entmenschteste Barbar hätte ihm das nicht zugemuthet —
0161aber den zwei langen letzten Sitzungen, in welchen die besten
0162der eingelaufenen Compositionen gehört wurden, wohnte er 
0163aufmerksam bei. Leider betheiligte er sich an den Urtheilen
0164und Vorschlägen mit keiner Sylbe, sondern beschränkte sich dar-
0165auf, die Abstimmung in präciser Weise zu leiten und das
0166Resultat kundzugeben. Unsere oben erwähnten Vorarbeiten
0167fanden im Conservatorium neben dem Arbeitszimmer Auberʼs
0168statt, in welches er nur durch unseren Saal gelangte. So
0169konnten wir ihn denn täglich in seiner vollen Thätigkeit beob-
0170achten. Bald kam er von den Prüfungen in der Gesangs- 
0171oder Declamations-Classe, um sich sofort zu jenen der Geiger
0172oder Pianisten zu begeben; bald conferirte er mit Lehrern oder
0173Beamten der Anstalt — kurz, er war unermüdlich. Nur wer
0174dies große und complicirte Institut kennt, macht sich einen
0175Begriff von der Thätigkeit, die es dem Director, sei es auch
0176nur in formeller Hinsicht, auferlegt. Zu einer der Classen-
0177prüfungen nahm mich Auber freundlich mit; er saß da mit
0178vier Professoren am grünen Tisch, hörte ein Dutzend Schü-
0179lerinnen ihre Stücke vorspielen und zeichnete nach jeder Pro-
0180duction seinen Calcül ins große Buch.


0181Eine der wenigen Aeußerungen über Musik, die ich von
0182Auber vernahm, zeugte von seinem Studium und seiner Ver-
0183ehrung der Gluckʼschen Musik. Gevart hatte ihm eben mit-
0184getheilt, daß er GluckʼsArmida“ für die Große Oper vor-
0185bereite. Auber lobte die Wahl dieses Werkes, das er der „Al-
0186ceste“ vorzieht, und citirte gleich die hervorragendsten Stücke
0187daraus. „Aber,“ fügte er lebhaft hinzu, „wie viel hat auch
0188der Textdichter dazu gethan! Welche Verse, welche Situationen!
0189Man muß Gluck um so ein Libretto beneiden.“ Ist es nicht
0190charakteristisch für den französischen Componisten, dies Hoch-
0191stellen des Textdichters*) und neidvolle Rühmen eines fast
0193200jährigen Librettos?


0194Eines Morgens, als ich etwas zu früh im Conservato-
0195rium anlangte, fand ich Auber in seinem Directions-Zimmer
0196an dem kleinen tafelförmigen Clavier sitzen, das, wenn ich
0197nicht irre, noch von seinem Vorgänger Cherubini her-
0198stammt. An diesem Instrumente hat Auber in den letzten 20
0199Jahren sehr häufig componirt; es dient ihm auch diesmal als
0200Laboratorium für den Guß einer neuen Oper, die im näch-
0201sten Winter vollendet sein soll. „Cʼest une imprudence dans
0202mon âge“ — dieselben Worte, die vor mehreren Jahren der
0203Greis zu mir gesprochen. War mir damals schon die schuldige 
0204Artigkeit des Widersprechens schwergefallen, so stockte mir jetzt
0205vollends das Wort im Munde. Die traurige Hinfälligkeit jener
0206letzten Oper Auberʼs („La fiancée du roi de Garbes“) und
0207ihr von der Pietät nur äußerlich zum Triumphe herausgeputz-
0208tes Fiasco wehrt wol jeder Hoffnung für die neue Partitur.
0209Aber der Ernst und Arbeitsdrang des greisen Künstlers, der,
0210mit Gold und Lorbeern überhäuft, doch noch rüstig weiter
0211schafft, zwingen zur Bewunderung. Ich betrachtete mir den
0212kleinen, dürren Mann, wie er, noch von innerem Feuer ange-
0213glüht, aufstand und das Clavier schloß. Welche Zeiten sind
0214über dies weiße Haupt hinweggezogen! Als Knabe hatte Auber 
0215noch oft Ludwig XVI. gesehen, dessen Carrossen sein Vater be-
0216malte und vergoldete. Die ersten Romanzen des zwölfjährigen
0217Auber wurden von galanten Damen des Directoriums in den
0218Salons von Barras gesungen. Vor 62 Jahren ward seine
0219erste kleine Oper von einer Dilettanten-Gesellschaft bei Doyen
0220in Paris gespielt. Dann ging er als „Handlungsbeflissener“
0221in ein Bankierhaus nach London, kehrte, dieses Berufes bald
0222überdrüssig, nach Paris zurück und entschloß sich, seine musi-
0223kalischen Studien bei Cherubini von Grund aus neu zu be-
0224ginnen. Seine zwei ersten Opern im Théâtre Feydeau fielen
0225durch. Adolphe Adam, der Componist des „Postillon“, bat
0226sich in späteren Jahren die Partituren derselben aus. „Was,
0227um Himmelswillen, wollen Sie damit anfangen?“ fragte Auber.
0228„Es sind miserable Versuche.“ — „Desto besser,“ entgegnete
0229Adam, „ich will sie meinen Schülern zeigen, so oft sie muth-
0230los werden.“


0231Mit Entzücken habe ich die „Stumme“ und „Fra Dia-
0232volo“ hier wieder gehört, die seit vierzig Jahren nichts an
0233Frische und Glanz eingebüßt. Es stimmte mich glücklich, den
0234Mann zu sehen, der dies einst geschaffen und jetzt in seinem
0235hohen Alter mit ungebrochener Lebenslust fortarbeitet. Er fühlt
0236sich eben innerlich jung, was kümmert ihn das Datum seines
0237Taufscheins? „Der arme Caraffa, wie er alt wird,“ flüsterte
0238Auber, als sein jüngerer College in der Jurysitzung erschien.
0239Mir fiel unwillkürlich unser Heldengreis Radetzky ein und
0240sein Bedenken gegen den „zu alten“ Windischgrätz; Auber 
0241hängt fest, aber ohne Aengstlichkeit am Leben, mitunter sogar
0242nicht ohne Humor. „Der Tod scheint wirklich unter den alten
0243Opern-Componisten aufräumen zu wollen,“ sagte er, von
0244Meyerbeerʼs Todtenfeier heimkehrend, zu einem Freunde —
0245„jetzt kommt die Reihe an Rossini.“

Fußnoten
  • *)Quinault.