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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1089. Wien, Donnerstag den 12. September 1867

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Das Patti-Concert im Carltheater.


0002Ed. H. Nicht ohne Erstaunen gewahrten gestern die Be-
0003wohner Wiens eine verfrühte Kette musikalischer Zugvögel,
0004welche sich an einem der wärmsten Septembertage plötzlich in
0005Ascher’s Musentempel niederließ, um am folgenden Morgen
0006mit Windeseile wieder fortzuziehen. Diese Wander- und Wun-
0007dervögel erscheinen dicht geschaart um einen Anführer von un-
0008scheinbarem Gefieder und großer Weisheit, den sie Ullman 
0009rufen; sie selbst nennen sich Carlotta Patti, Lefort,
0010Auer, Popper und Willmers. Wenn Eine Schwalbe
0011leider noch keinen Sommer macht, so macht gottlob ein Vir-
0012tuosen-Besuch auch keine Concertsaison, und wir dürfen uns
0013ruhig noch einige Wochen in grüneren Landschaften, als die
0014Tuchlauben“ sind, herumtummeln. Dieses Trostes theilhaf-
0015tig, constatiren wir mit doppeltem Vergnügen, daß die frühe
0016Virtuosenkitte am 10. September von den Wienern mit offe-
0017nen Armen aufgenommen und unter zärtlichen Liebkosungen
0018entlassen wurde.


0019Carlotta Patti, die schmetternde Lerche der Gesell-
0020schaft, ist hier aus einer langen Reihe von Concerten wohl-
0021bekannt. Sie hat sich unverändert beibehalten, was dem
0022Publicum sichtlich lieb war — weniger uns Recensenten, die
0023wir Neues über die vielbesprochene Sängerin kaum vorzutra-
0024gen wüßten. Wie vor zwei Jahren, so erregte auch diesmal
0025das kleine Silberglöckchen ihrer in schwindelnder Höhe so
0026reinen und sicheren Stimme Bewunderung; wie damals glitzer-
0027ten ihre Triller, Staccatos und Passagen; wie damals, so
0028spricht auch jetzt ihr Gesang zum Ohr, nicht zum Herzen —
0029recht eigentlich ein glänzend heiteres Spielwerk der Kunst.
0030Virtuosin im eminenten Sinne und obendrein wieder Specia-
0031lität innerhalb dieses Virtuosenthums, sieht Carlotta Patti 
0032sich in einen ziemlich engen Kreis von Productionen gebannt.
0033Mit Ausnahme einer Bravour-Tarantella von Bevignani 
0034haben wir alle ihre Nummern oft und oft von ihr gehört:
0035die Entrée-Arie der „Linda von Chamounix“, die Schlußarie
0036der „Sonnambula“ und die Lachcouplets („Manon Lescant“)
0037von Auber. Daß virtuose Specialitäten, von deren sinn-
0038lichem Zauber man sich anfangs gern überraschen und um-
0039gaukeln läßt, durch verlängerten Verkehr und häufige Wieder-
0040holungen an Wirkung kaum gewinnen können, vielmehr sich
0041leicht abstumpfen, liegt in der Natur der Sache. Wer wird
0042uns demnach verargen, wenn wir von den Bravourstücken
0043Carlotta’s diesmal keinen selbstständigeren Eindruck als den
0044einer freundlichen Erinnerung an ihren ersten Besuch empfin-
0045gen? Der Künstlerin gereicht es darum nicht weniger zum
0046Lob und Vortheil, daß das Publicum ihre oft gehörten Vor-
0047träge mit gleichem Beifall aufnahm, wie vor zwei Jahren.
0048Insbesondere übte das „Lachlied“ wieder seine unwiderstehliche,
0049wahrhaft erheiternde Wirkung. Es ist die frischeste und eigen-
0050thümlichste Production Carlotta’s; sie colorirt die Auber’-
0051sche Zeichnung mit Naturtönen von einer musikalischen Kühn-
0052heit, welche an die äußerste Grenze des Realismus streift, aber
0053durch ihre Naivetät und unfehlbares Gelingen jedes Bedenken
0054entwaffnet. Adelina Patti, welche in Paris das Lachlied 
0055im „Barbier von Sevilla“ vorzutragen pflegt, singt es feiner
0056und gemäßigter, aber weit entfernt von der packenden Wirkung
0057Carlotta’s.


0058Von den mitwirkenden Künstlern gebührt dem Pianisten
0059Herrn Willmers aus dem Titel der Anciennetät die Nen-
0060nung an erster Stelle. Als er vor etwa 25 Jahren zuerst in
0061Oesterreich erschienen war, umgab ein gewisser exotischer Schim-
0062mer das blond umwallte Haupt des jungen Dänen, der mit
0063seiner Transscription: „Flieg’, Vogel, flieg’!“ und anderen
0064Süßigkeiten viel Glück machte. Bei aller Anerkennung seiner
0065eleganten Technik, insbesondere seines berühmten Trillers, ha-
0066ben wir Willmers’ Spiel damals schon nur in den mäßigsten
0067Gaben vertragen können. Es lag eine ungemeine Leere und
0068Mattseligkeit in diesem Spiel, wie in den einander aufs Haar
0069ähnlichen Compositionen. Wie dürftig der musikalische Gehalt
0070dieser Productionen war, erkannte man deutlich, als Willmers 
0071nach einigen Jahren wieder und wieder kam, in stets gleicher
0072Weise trillerte und den „Vogel“ zum Fliegen einlud. Als der
0073Componist sich eines Morgens vergeblich nach einem Hahn
0074umschaute, der noch nach diesem „Vogel“ krähe, warf er sich auf
0075größere, ernstere Compositionen, ohne damit mehr zu reussiren,
0076als sein gleichmäßig vorangegangener College Evers. Es war
0077jedenfalls wohlgethan, wieder zu den eleganten kleineren Sa-
0078lonformen zurückzukehren, in welchen sich Willmers freier und
0079gewandter bewegt. Offen gestanden, hätten wir aber seine alten
0080Trillerstückchen noch immer lieber gehört, als die neue „Steie-
0081rische Phantasie“ und „Ungarische Episode“ (eine Art „Flieg’,
0082Csardas, flieg’!“), womit Herr Willmers sich in dem
0083Patti-Concerte producirte. Wen interessiren noch derlei mit
0084Passagen plump überladene, durch und durch veraltete
0085Transscriptionen ohne Geist und ohne Ende? Herrn Willmers’
0086Technik hat übrigens nichts von ihrer ehemaligen Geläufigkeit
0087eingebüßt, und so nahm denn das Publicum den alten Be-
0088kannten mit großer Freundlichkeit auf. Was wir schon wieder-
0089holt erlebt, daß ein hier erbleichender Stern in einem anderen
0090Welttheile mit neuem Glanze ausgeht, dürfte sich demnächst
0091auch an Willmers vollziehen. Er hat eine sehr schmeichelhafte
0092Einladung erhalten, als erster Professor des Clavierspiels am
0093Conservatorium in Newyork einzutreten gegen einen Jahres-
0094gehalt von 3600 Dollars und vollständige Reisevergütung. Es
0095gibt also noch Conservatorien — sehr weit von hier — wo
0096man gute Clavierlehrer auch gut bezahlt.


0097Ein zweiter von Herrn Ullman hier vorgeführter Künstler,
0098der Sänger Jules Lefort aus Paris, bietet uns wenig Stoff
0099zum Erzählen. Er gehört zu jenen stimmlosen Baritonisten,
0100deren verständig und geschmackvoll accentuirter Gesang — eine
0101Art verschämtes Declamiren — in französischen Salons be-
0102liebt ist. Seine Stimme entbehrt zu sehr der Fülle und des
0103Wohlklangs, um in größeren Räumen zu wirken; sein Vor-
0104trag, dem eine geschickte Verwendung des Falsets und eine
0105deutliche Aussprache zu statten kommt, ist durchwegs anständig.
0106Die Anständigkeit ist aber bekanntlich nichts Zündendes, am
0107wenigsten in der Musik. Ueberdies war Gounod’s gedehnte
0108und kraftlose Melodie „Le Vallon“ keine glückliche Wahl.


0109Von den gegenwärtig bei Ullman engagirten Künstlern
0110sind die zwei jüngsten ohne Frage die bedeutendsten: Popper 
0111und Auer. Ersterer, uns bereits als einer der tüchtigsten
0112Cellisten bekannt, hat seinem Rufe durch den virtuosen Vor-
0113trag eines (leider sehr gehaltlosen) Goltermann’schen Con-
0114certes neuerdings Ehre gemacht. Sein schöner, gesangvoller
0115Ton konnte sich am besten in dem „Adagio“ von Molique gel-
0116tend machen, seine Geläufigkeit und Ausdauer in einer Etude
0117eigener Composition, welche „Le papillon“ betitelt und in [2]
0118ihrer ununterbrochenen Sechzehntel-Bewegung dem „Perpetuum
0119mobile“ von Paganini nachgebildet ist. Leopold Auer,
0120Concertmeister in Düsseldorf, erfreut sich bereits seit mehreren
0121Jahren der glänzendsten Erfolge in Deutschland und England.
0122Deutsch-Ungar von Geburt, ist er ein Landsmann Joachim’s 
0123und war zuletzt dessen Schüler. In dem Vortrage der bekann-
0124ten „Ballade und Polonaise“ von Vieuxtemps, eines
0125Spohr’schen Andante und eines Capriccio von Paganini 
0126entfaltete Auer ebenso solide als glänzende Eigenschaften: schönen,
0127gesangreichen Ton und reine Intonation, bedeutende Bravour
0128in allen Stricharten und Lagen, ruhigen, edlen Ausdruck im
0129Adagio, Kühnheit, Kraft und Ausdauer im Allegro. Auer 
0130dürfte bald neben Joachim und Laub der dritte große
0131Violinspieler aus Oesterreich sein. Hoffentlich hören wir ihn
0132einmal unter günstigeren Verhältnissen, und wenn er sich
0133bleibend in Wien niederlassen wollte, wie das Gerücht sagt, so
0134könnten wir uns zu diesem Gewinn nur gratuliren. Nicht ver-
0135schweigen dürfen wir, daß sämmtliche Solovorträge in dem
0136gestrigen Concerte unter dem Accompagnement eines jungen
0137Herrn litten, welcher wahrscheinlich alles Andere besser versteht,
0138als Clavierspielen.


0139Der wahrhaft überraschende Erfolg von Ullman’s 
0140Concert, das der schönen Jahreszeit zum Trotz das Haus über und
0141über füllte, hat die Geschicklichkeit dieses rastlosen Concert-Unter-
0142nehmers neuerdings bewährt. Die Concerte, die er unmittelbar
0143zuvor in Linz, Salzburg, Laibach, Graz und Preßburg gegeben,
0144sollen 40,000 fl. eingetragen haben; Brünn, Olmütz, Troppau,
0145Krakau, Lemberg und Czernowitz, die nunmehr an die Reihe
0146kommen, versprechen ähnliche Erfolge. Nur eine so geschickte
0147Combination und Administration machen es möglich, mittleren
0148und kleinen Städten, die sonst jahrelang keinen berühmten
0149Virtuosen zu Gesicht bekommen, dieses Vergnügen reichlich und
0150wohlfeil zu verschaffen und den Künstlern selbst im Laufe
0151weniger Wochen beträchtliche, sichere Einnahmen zuzuwenden.
0152Dies geht freilich nur die industrielle Seite der Kunst an,
0153nicht die Kunst selbst; aber einmal zugestanden, daß das ge-
0154schäftliche Interesse bei Virtuosen-Reisen mehr als je im Vor-
0155dergrunde steht, muß man die Idee der Ullman’schen Asso-
0156ciations-Concerte modern und praktisch finden. Ullman,
0157dem ein rastloses Arbeiten, Speculiren und Organisiren 
0158Lebensbedingung ist, wird kaum dabei stehen bleiben. Im
0159Café Helder in Paris, wo Ullman allabendlich
0160mit Moriz Strakosch seine Domino-Partie hatte (sie
0161spielten mit einem Eifer, als hätte Jeder seine Patti einge-
0162setzt) habe ich in Gesellschaft Schulhoff’s den unerschöpflichen
0163Reise-Erzählungen Ullman’s oft mit dem lebhaftesten Ver-
0164gnügen gelauscht. „Ich wette,“ neckten wir ihn einmal, „Sie
0165haben für den nächsten Winter schon einen ganz besonderen
0166großen Plan.“ — „Einen Plan?“ rief Ullman, die Hand
0167akustisch ans Ohr legend; „zwanzig! hundert!“ Und nun
0168entwickelte er verschiedenartige Projecte, worunter der Plan,
0169mit einer Auswahl der besten deutschen Schauspieler in Paris zu ga-
0170stiren, uns besonders glücklich ausgedacht schien. Ullman 
0171hatte eben eine äußerst einträgliche Tournée durch Frankreich 
0172beendet, bereitete seine gegenwärtige Concertreise durch Oester-
0173reich vor und stand gleichzeitig in lebhaften Unterhandlungen
0174für eine große Tour nach Amerika. „Ich habe vorerst mit
0175Alexander Dumas abgeschlossen; in Europa ziehen seine
0176Causerien nicht mehr, aber in Amerika läßt sich etwas damit
0177machen. Außer Dumas engagire ich die Déjazet.“ — „Die
0178Déjazet?“ fiel ich erschrocken ins Wort, „dies wider-
0179wärtige alte Weib, das mit erloschenem Blick und
0180tausend Runzeln jugendliche Rollen spielt? Vielleicht noch vor
018110 oder 15 Jahren . . .“ — „Nein, da hätte ich sie nicht
0182brauchen können; jetzt ist sie 70 Jahre alt (das muß immer
0183auf dem Anschlagzettel stehen), achtzigjährig wäre sie mir für
0184Amerika vielleicht noch lieber. Mein emsigstes Suchen geht
0185aber nach einem ausgezeichneten, berühmten Clavierspieler, der
0186noch nicht in Amerika bekannt ist. Wenn Sie mit mir für
0187sechs Monate nach Amerika gehen,“ fuhr er, zu Schulhoff 
0188gewendet, fort, „will ich Ihnen die allerglänzendsten Bedingun-
0189gen zugestehen.“ Und wirklich offerirte er eine Summe, mit
0190der man Verwaltungsräthe verlocken könnte. Schulhoff 
0191glaubte mit Rücksicht auf seine Kränklichkeit ablehnen zu
0192müssen; er könne nicht für seine Leistungsfähigkeit einstehen
0193und würde oft vielleicht unmittelbar vor dem Concert absagen
0194müssen. „Das thut nichts,“ beschwichtigte Ullman, „das
0195wird Sie dem Publicum nur noch interessanter machen. Man
0196wird Sie für einen noch größeren Künstler halten, wenn Sie
0197manchmal außer Stande sind, zu spielen.“ Ich weiß nicht, 
0198ob Schulhoff diese ebenso scherzhaft vorgebrachten als ernst ge-
0199meinten Worte vielleicht noch beherzigen wird. Jedenfalls wer-
0200den an seiner Statt Dutzende von namhaften Virtuosen sich mel-
0201den zum Eintritt in Ullman’s wilde verwegene Jagd.