Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1104. Wien, Freitag den 27. September 1867
[1]Pariser Opern während der Weltausstellung.
I.
(„Don Carlos“, von Verdi.)
0004Ed. H. „Chacun a deux patries, la sienne d’abord
0005et puis la France!“ lautete der vielbesprochene Toast eines
0006österreichischen Festgebers bei der Weltausstellung. In der
0007berückenden Schmeichelei dieses feingeschliffenen Aperçus ruht
0008ein Tropfen Wahrheit: ganz Europa war jetzt eine zeitlang in
0009Paris zu Hause. Die europäische Journalistik durfte füglich
0010den Satz adoptiren und behaupten, es habe jeder Feuilletonist
0011in diesem Jahre zwei Stoffgebiete: sein heimisches zunächst, so-
0012dann Paris. Einem Leserkreis, dessen größere Hälfte vielleicht
0013die Weltausstellung selbst besucht hat, Neues von dort zu er-
0014zählen, wäre allerdings ein eitles Vorhaben. Aber gerade die
0015Vermuthung, bei unseren Lesern gemeinsame Erinnerungen und
0016Erlebnisse vorzufinden, ermuthigt uns mehr, als sie uns ab-
0017schreckt. Was z. B. die Pariser Bühnen während des großen
0018Völkercongresses brachten, ist dadurch beinahe zum Eigenthum
0019der civilisirten Welt geworden, so daß gegenwärtig in Wien
0020und Berlin über Verdi’s „Don Carlos“, oder Gounod’s
0021„Romeo“ lebhafter debattirt werden mag, als über die No-
0022vität eines einheimischen Capellmeisters.
0023Zahlreich sind die Opern-Novitäten nicht, von welchen
0024wir uns mit unseren Lesern unterhalten wollen. Es gab deren
0025vier im Ganzen, welche die ganze Ausstellungszeit hindurch ge-
0026spielt wurden und noch heute fortgespielt werden: „Don Car-
0027los“ in der Großen Oper, „Mignon“ in der Komischen,
0028„Romeo und Julie“ im Théâtre Lyrique, endlich „Die
0029Großherzogin von Gerolstein“ in den Variétés. Das
0030letztere Stück ist bereits nach Deutschland gedrungen, „Mignon“
0031und „Romeo“ dürften bald nachfolgen und bei guter Darstel-
0032lung wahrscheinlich Glück machen. Vor Verdi’s „Don Car-
0033los“ hingegen möchten wir unsere Theater-Directoren freund-
0034schaftlich warnen, denn mit Ausstattungsprunk allein fesselt
0035man kein deutsches Opernpublicum. Von der Musik verspre-
0036chen wir den Zuhörern nur Langeweile und Betäubung; selbst
0037die Sänger dürften kaum für Rollen Partei nehmen, die auf-
0038reibend, aber nicht dankbar sind. Wir anerkennen Verdi’s
0039eigenthümliches und bedeutendes Talent, das zwar mit rohen,
0040unkünstlerischen Elementen arg vermischt und deßhalb für ein
0041reines, ganzes Kunstwerk unzureichend ist, aber höchst wirksame
0042Einzelheiten geschaffen hat. Wenn wir Verdi in der „Tra-
0043viata“, dem „Trovatore“, „Rigoletto“ und „Ballo in Mas-
0044chera“ so oft mit kräftigem Naturalismus instinctiv ins
0045Schwarze treffen sehen, dann bestreiten wir ihm gewiß nicht
0046länger Recht und Fähigkeit, auch im guten Sinn Er selbst zu
0047sein. Im „Don Carlos“ aber bemüht er sich, Alles, nur
0048nicht „er selbst“ zu sein. Er versucht eine complete Mas-
0049kerade. Nun denke man sich einen Verdi ohne seine natio-
0050nale Frische und unbefangene Sinnlichkeit, einen Verdi ohne
0051Leichtsinn und ohne Melodie, und urtheile, was da noch Gu-
0052tes übrig bleibt. Im „Don Carlos“ verleugnet der Com-
0053ponist ängstlich seine musikalische Wiege, will halb Deutscher,
0054halb Franzose scheinen, nicht melodiös, sondern tief und gelehrt schrei-
0055ben, und dort fortsetzen, wo Meyerbeer aufgehört. An der Partitur
0056des „Carlos“ klebt mehr Schweiß, als an allen früheren Opern
0057Verdi’s zusammengenommen. Dieser stets unentschiedene Kampf
0058zwischen dem alten und dem neuen Verdi, diese krampfhafte
0059Anstrengung, sich höher zu strecken, als er gewachsen ist, wirkt
0060peinlich auf den Hörer. An seiner „Carlos“-Musik ist Alles
0061gezwungen, schwerfällig, dunstig; die Melodien tragen wir we-
0062der im Ohre noch im Herzen heim, uns ist nur, als klebten
0063sie uns an allen Fingern. „Das ist ja Zukunftsmusik!“ rief
0064neben mir entrüstet ein Italiener. Ich tröstete ihn damit, daß
0065einer solchen Musik am wenigsten in Italien eine Zukunft
0066blühe, es hätte denn die italienische Musik überhaupt keine Zu-
0067kunft mehr. Aber ein richtiges Gefühl lag doch in jenem Aus-
0068rufe. Verdi und Wagner vollziehen Beide in ihren neueren
0069Werken einen Bruch mit ihrer eigenen Vergangenheit und ver-
0070leugnen die reizvolleren, populäreren Elemente ihres Talents
0071zu Gunsten einer ihnen vorschwebenden idealeren Dramatik.
0072„Don Carlos“ verhält sich zu „Ernani“ ungefähr wie „Tristan
0073und Isolde“ zum „Tannhäuser“. Das tugendstolze Streben
0074beider Tondichter, in ihren alten Tagen sich der sündhaften
0075Melodie zu enthalten, scheint übrigens hier wie dort von der
0076Natur mächtig unterstützt; die Melodie verläßt man niemals,
0077sie verläßt uns. Ich kann nach dem „Carlos“ kaum mehr
0078zweifeln, daß Verdi — fertig ist. Dafür hat er das für einen
0079Italiener bewundernswerthe Geschick sich angeeignet, die Archi-
0080tektonik der musikalischen Formen zu zerbröckeln, als Amphibium
0081lange Zeit zwischen Cantilene und Recitativ zu athmen, vor Allem
0082aber eine „unendliche Melodie“ zu spinnen, wenn ihm keine end-
0083liche einfällt. Mit großer Mühe hat er scheußliche Accordfolgen
0084und stolpernde Rhythmen erdacht und die Partien der Sänger so
0085eingerichtet, daß sie sich fast nur in den äußersten Grenzen
0086ihrer natürlichen Scala bewegen. Und vollends die Instru-
0087mentirung! Wie licht sah es sonst zwischen den Tactstrichen
0088einer Verdi’schen Partitur aus, wie schnurgerade und wohnlich!
0089Schlagen wir aber die ungeheuren Bände des „Don Carlos“
0090auf, so kriecht uns ein schwarzes, ameisenartiges Gewimmel
0091von Noten entgegen, alle Instrumente arbeiten zugleich, über,
0092unter, neben einander, jeder Moment bringt eine andere Figu-
0093ration, eine verschiedene Klangfarbe, ein neues Solo-Instru-
0094ment, und dazwischen jenes nervenschneidende Tremoliren der
0095getheilten Violinen, das seit dem „Tannhäuser“ zum gemeinen
0096dramatischen Hausmittel geworden ist. Trotz alledem kann
0097man kaum von Einer Stelle im „Don Carlos“ rühmen, daß sie
0098orchestermäßig gut klingt, wie z. B. das Allergewöhnlichste bei
0099Mozart oder Rossini. Vorbereitet finden wir die neue Styl-
0100wendung Verdi’s schon in dem schwerfälligen vierten Act des „Mas-
0101kenballs“, vollkommen ausgeprägt in jener musikalischen Samm-
0102lung von Unglücksfällen, welche uns in Wien unter dem Titel
0103„La forza del destino“ credenzt wurde. Immerhin lächelten
0104aus dem steinigen Geröll dieser Schicksalsmusik noch einzelne
0105Melodien wie frische Steinnelken hervor — für „Don Carlos“
0106würde sich das nicht schicken. Das Textbuch der neuen Oper
0107ist bei handgreiflichen Mängeln doch bedeutend besser, als „La
0108forza del destino“. Daß Verdi, dessen Musik bereits Schil-
0109ler’s „Räuber“, „Kabale und Liebe“ und „Jungfrau von Orleans“
0110überfallen hat, jetzt blos aus Zufall oder Caprice den „Don
0111Carlos“ erwählte, können wir nicht recht glauben; ohne Zwei[2]-
0112fel fühlt sich der allezeit pathetische Verdi von Schiller’s edlem
0113Pathos angesprochen und gehoben. „Don Carlos“ ist übrigens
0114kein günstiger Opernstoff: Elisabeth, Eboli und Carlos, schon
0115bei Schiller in ziemlich allgemeiner Färbung verschwimmend,
0116werden in der Oper zu matten, physiognomielosen Schablonen;
0117die beiden eigenthümlichsten Gestalten, König Philipp und
0118Marquis Posa, sind für musikalische Behandlung zu reflectirt und
0119rhetorisch, die absolutistische Staatsraison wie die Schwärmerei
0120für Gedankenfreiheit streifen gesungen leicht an die Carricatur.
0121Mit Ausnahme des ersten Actes, welcher den Infanten
0122mit der noch unvermälten Elisabeth in Fontainebleau zusammen-
0123führt, somit das übliche große Liebesduett schon als Exposition
0124bringt, folgt das Libretto ziemlich treu der Schiller’schen Handlung.
0125Im zweiten Acte sehen wir Carlos und Posa im Kloster
0126St. Just ihren Freundschaftsbund erneuern, Posa sich der Kö-
0127nigin und ihrem Hofstaat vorstellen; es folgt die Zusammen-
0128kunft Elisabeth’s mit Carlos, die Verbannung der Hofdame
0129und eine politische Vorlesung, welche Posa seinem königlichen
0130Gönner Philipp hält. Der dritte Act bringt ein Maskenfest
0131in den Gärten der Königin und das unvermeidliche Ballet,
0132eine mythologische Allegorie auf die Königin von unabsehbarer
0133Länge und der langweiligsten Balletmusik, die je geschrieben
0134wurde. Carlos, der in der Dunkelheit die Eboli für Elisabeth
0135hält, compromittirt sich mit einer Liebeserklärung, Posa tritt
0136hinzu und ergänzt das Verzweiflungs- und Rache-Terzett. Die
0137Scene verwandelt sich hierauf in einen großen Marktplatz vor
0138der Kathedrale; hier wickelt sich das Finale ab, das, mit
0139grobem Pinsel, aber effectvollen Farben gemalt, den Höhepunkt
0140der Oper bildet. Was ist nicht Alles hier aufgeboten! Großer
0141Krönungszug des Königs mit Regimentsmusik auf der Bühne,
0142festlicher Jubelchor des Volkes, Trauerchor der Mönche und
0143der zum Scheiterhaufen geführten Ketzer, Bittgesang der
0144flandrischen Deputirten (sentimentales Unisono von zwölf
0145Bassisten, Copie des bischöflichen Geschreies im ersten
0146Acte der „Afrikanerin“); Carlos vertheidigt sie, zieht
0147den Degen gegen Philipp, dieser wüthet, die Damen
0148jammern, Posa arretirt den Infanten; es brennen die Schei-
0149terhaufen, es läuten die Glocken, dazu Festmarsch, Jubelchor
0150und Mönchsgebet, Alles zugleich, und aus den Wolken herab
0151ein Engelchor, welcher die verbrannten Ketzer als Märtyrer
0152begrüßt. Kein Zweifel, Verdi müßte denjenigen fordern, der
0153mehr forderte. Nach diesem dritten Acte fühlt sich jeder normal
0154organisirte Mensch halbtodt, hat aber noch zwei Acte vor sich,
0155die alles Frühere zu überbieten sich anstrengen. Der vierte Act
0156beginnt mit dem Monolog des Königs und seinem Gespräch
0157mit dem Groß-Inquisitor, eine großentheils wörtlich aus
0158Schiller genommene Scene, für welche Verdi eine charakteri-
0159stische Färbung zu finden und festzuhalten verstand. Es folgt
0160der heftige Auftritt zwischen dem König und der Königin wegen
0161der entwendeten Cassette, die Selbstanklage der Eboli, Carlos
0162im Gefängnisse und Posa’s Tod an seiner Seite. Mit Hilfe
0163des Groß-Inquisitors bezwingt der König die zu Gunsten Car-
0164los entfesselte Rebellion. Eine Scene statt eines ganzen fünf-
0165ten Actes würde hier zum Abschlusse der Handlung genügen.
0166Aber wir müssen im letzten Acte noch eine Arie der Königin
0167im Kloster St. Just, ein langes Abschiedsduett zwischen ihr
0168und Carlos, endlich das Finale hören, in welchem der König,
0169von Mönchen begleitet, seinen Sohn der Inquisition auslie-
0170fert. Mit dem schaurig-lakonischen: „Cardinal, thun Sie das
0171Ihre!“ fällt bei Schiller der Vorhang, den die Geschichte noch
0172immer nicht ganz zu lüften vermochte. Bei Verdi muß aber
0173nach diesem Ausrufe des Königs noch der Geist Karl’s V. er-
0174scheinen, der mit seinem Mantel den Infanten einhüllt und
0175mit ihm verschwindet. Die über fünf Stunden währende und
0176alle Sinne hinrichtende Oper mußte sich in Paris nach den
0177ersten Vorstellungen mehrere Kürzungen gefallen lassen. Die
0178Londoner Direction („wie sie kurz angebunden war!“) strich
0179sogar den ganzen ersten Act und läßt die Oper ohne Um-
0180stände mit dem zweiten beginnen. Es geht auch so ganz gut.
0181Was das Publicum zu Verdi’s „Don Carlos“ lockt, ist
0182nicht die Musik, sondern die Pracht der gesammten Ausstat-
0183tung und die hohe Beliebtheit der Darsteller. Als wahrhaft
0184künstlerische Leistung steht der König Philipp des Bassisten
0185Obin in erster Linie. Schon seine charakteristische
0186Maske und Haltung frappirt wie ein aus dem
0187Rahmen tretendes Bildniß von Velasquez; sein Spiel
0188erscheint in Scenen wie jene mit dem Groß-Inquisitor
0189des bedeutendsten Schauspielers würdig. Obin ist eines der
0190älteren Mitglieder der Großen Oper; die Blüthe seiner Stimme
0191beginnt etwas zu welken, aber seine Kunst des Vortrages und
0192des Spieles läßt im Hören diese Wahrnehmung kaum auf-
0193kommen. Ganz vorzüglich ist auch Faure als Marquis Posa.
0194Die schlanke Gestalt, das feine, etwas lange Gesicht, das sanfte
0195blaue Auge des berühmten Baritonisten stimmen ebenso treff-
0196lich zu dem Charakter des schwärmerischen Posa, als sein Ge-
0197sangsvortrag zu den gefühlvollen Cantilenen der Rolle. Stets
0198liebenswürdig und von edler Mäßigung, erinnert Faure als
0199künstlerische Individualität an den unvergeßlichen Ander;
0200das Wilde und Dämonische, wie den entfesselten Sturm der
0201Leidenschaft vermag er nur anzudeuten; er ist am schwächsten
0202dort, wo unser Beck seine größte Macht entfaltet: im zweiten
0203Finale des „Don Juan“, im dritten und vierten Acte der
0204„Afrikanerin“ u. dgl. Während Faure’s Gesang alle Vor-
0205züge italienischer Schulung verräth, sind die Tenoristen der
0206Großen Oper im schlimmen Sinne specifische Franzo-
0207sen. Morère, der jetzt meistens den Don Carlos
0208singt, ist ein schreiender, tremolirender Comödiant, dem
0209manches dramatische Schlaglicht gelingt, aber nirgends
0210ein nachhaltig künstlerischer Eindruck. Villaret, der
0211ursprüngliche Darsteller der Rolle, singt um einige Grade bes-
0212ser und ruhiger, gehört aber derselben manierirten Schule an.
0213Die Große Oper besitzt thatsächlich keinen Tenoristen ersten
0214Ranges; der ganze Postzug: Villaret, Morère, Warot
0215und Gueymard, erreicht zusammen keinen Roger oder Du-
0216prez. Madame Marie Sasse bringt für die Rolle der Eli-
0217sabeth wie für jede andere den Talisman einer prachtvollen
0218Sopranstimme mit; wie Orgelklang strömen ihre machtigen
0219Silbertöne durch den Saal. Leider dringt kein Strahl von
0220Poesie oder dramatischem Geist in diesen tönenden Fleischcoloß.
0221Hört man sie ihr Duett mit der gleich robusten und ausdrucks-
0222losen Eboli (Madame Gueymard) singen und sieht die vier
0223colossalsten nackten Arme von Paris durch die Luft sägen, so
0224fühlt man sich den Markthallen beinahe näher, als dem spa-
0225nischen Hofe Philipp’s II. Vorzüglich ist, wie gesagt, alles
0226Scenische im „Don Carlos“, glänzend nicht blos im Sinne
0227stupid-luxuriöser Ausstattung, sondern durch wahrhaft maleri-
0228schen Reiz und historisch treue Charakteristik. Die Fremden, [3]
0229also die gegenwärtigen Herren von Paris, finden im „Don
0230Carlos“ das Glänzendste vereinigt, was die Große Oper an
0231singenden und tanzenden Kräften, an Costümen und Decoratio-
0232nen besitzt. Dies ist der Schlüssel zu dem musikalisch unerklär-
0233lichen Geheimniß der Anziehungskraft von Verdi’s neuester
0234Oper.