Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1106. Wien, Sonntag den 29. September 1867
[1]Pariser Opern während der Weltausstellung. II.
(„Romeo und Julie“, von Gounod.)
0003Ed. H. Verdi hatte nach der zweiten Vorstellung seines
0004„Don Carlos“, unbefriedigt von deren Erfolg, Paris plötzlich
0005verlassen. Es zeugt von einem überaus feinen, fast ahnungs-
0006vollen Ohr, daß Verdi aus dem tobenden Beifallsgeschrei die
0007unmerkliche Dissonanz heraushörte, die sich in der allgemeinen
0008Ueberzeugung immer stärker herausgebildet hat. Aeußerlich war
0009der Erfolg der allerglänzendste; wurde doch „Don Carlos“,
0010dessen erste zwölf Vorstellungen an 130,000 Francs eintrugen,
0011seither wöchentlich zwei- bis dreimal bei vollem Hause gegeben.
0012Allein, wie schon zu gewöhnlichen Zeiten in Paris eine erste
0013Vorstellung (oft auch noch eine fünfte und zehnte) keinen Maß-
0014stab für das wirkliche Gefallen einer Novität abgibt, so hat
0015vollends die Ausstellungs-Völkerwanderung alle normalen Thea-
0016ter-Verhältnisse für ein ganzes Halbjahr alterirt. Für den
0017Fremdenzug wurde jedes Stück zum Zugstück; was davon den
0018Parisern bleibend werthvoll war, muß die nächste Zukunft zei-
0019gen. Die Tageseinnahme der Großen Oper betrug im Monat
0020Mai durchschnittlich 10,400 Francs, im Monat Juni
002112,400 Francs. Und doch spielte man im Juni genau das-
0022selbe wie im Mai: „Don Carlos“ und „Die Afrikanerin“,
0023„Die Afrikanerin“ und „Don Carlos“. Nur die Sonntage
0024waren meistens dem „Repertoire“ geweiht und brachten neben
0025einer sehr schön scenirten und gut besetzten Vorstellung des
0026„Don Juan“ äußerst mangelhafte Reprisen der „Huge-
0027notten“, des „Robert“ und der „Stummen von Por-
0028tici“. Die Proben zu Rossini’s „Tell“ wurden wieder einge-
0029stellt, weil die Direction es für überflüssig erkannte, ihr Re-
0030pertoire aufzufrischen, so lange sie mit „Don Carlos“ und der
0031„Afrikanerin“ jeden Abend 12,000 Francs einnahm. Ich er-
0032lebte die fünfzigste Vorstellung des „Don Carlos“ und hatte
0033doch noch keinen Menschen gefunden, weder einheimischen noch
0034fremden, dem die Oper wirklich gefallen hätte. Ganz anders
0035lautete oder transpirirte die öffentliche Meinung über Gou-
0036nod’s „Romeo“ und Thomas’ „Mignon“. Es gab wenig
0037Leute, die sich nicht von „Romeo“ wenigstens lebhaft angeregt
0038und von „Mignon“ befriedigt gefühlt hätten, und doch er-
0039obern sich beide Vorstellungen ihr Publicum nur mit musi-
0040kalischen Waffen. Daß man auf die dröhnenden Lo-
0041besposaunen der Pariser Kritik nicht viel zu geben
0042habe, weiß jeder deutsche Leser, ebensowenig möch-
0043ten wir aber den höhnisch absprechenden Tadel unterschreiben,
0044mit welchem deutsche Correspondenzen diese und ähnliche fran-
0045zösische Productionen zu überschütten pflegen. Börne äußert
0046irgendwo, daß die Leistungen der deutschen Literatur fast immer
0047entweder Gold oder Kupfer sind, während in Frankreich die Mehr-
0048zahl der Schriftsteller Silber schreibe. Dies treffende Wort paßt
0049auch auf die Opern-Componisten der beiden Nationen. Zu
0050bedürftig, um jahrelang auf Gold zu harren, und zu vornehm,
0051um Kupfer zu berühren, verdanken wir es doch größtentheils
0052dem ausländischen Silber, wenn unsere Theater überhaupt
0053noch Novitäten bringen. Wer mit dem „Don Juan“ in einer
0054und dem „Fidelio“ in der anderen Hand gegen Gounod und
0055Thomas loszieht, der hat freilich leichtes Spiel; die beiden
0056bleiben ohne Frage maustodt. Ob man aber mit solchen Arm-
0057strong-Kritiken etwas Rühmliches oder Nützliches vollbringe,
0058scheint mir sehr zweifelhaft. Die beiden französischen Novitä-
0059ten, von denen wir sprechen, sind weder Schöpfungen bahn-
0060brechender Genies, noch vollendeter Stylisten; es sind aber
0061ernste, gewissenhafte Productionen feiner und individueller Ta-
0062lente, die, ohne das Höchste zu erreichen oder auch nur danach
0063zu greifen, doch Geist und Gemüth ihrer Zeitgenossen mit
0064sympathischem Tone ansprechen. Für „Mignon“ gestehe ich —
0065vielleicht unter dem Einfluß der entzückenden Pariser Darstel-
0066lung — einige persönliche Vorliebe ein; „Romeo“, obwol das
0067Werk des intensiveren Talents, steht daneben in dem Nach-
0068theile der großen, durch den Stoff erregten Erwartungen und
0069der unausweichlichen Vergleichung mit „Faust“.
0070„Romeo und Julie“! Läßt sich ein schönerer Opernstoff
0071denken, als dies Hohelied der Liebe? Zahlreiche Componisten,
0072die Deutschen Steibelt und Georg Benda, die Italiener
0073Zingarelli, Vaccai, Bellini u. A. haben sich daran be-
0074geistert. Nur Eine gewaltige Klippe steht davor, sie heißt
0075Shakspeare. Wer will ihm nachfliegen oder gar im Fluge
0076ihn noch höher tragen? Je fester der Componist sich an
0077Shakspeare’s eigene Worte klammert, desto mehr handelt er
0078auf eigene Gefahr. Ich würde daher für musikalische Zwecke
0079eine Bearbeitung vorziehen, welche nur die Umrisse der
0080Shakspeare’schen Handlung gibt und sie anspruchslos mit
0081eigener Diction ausfüllt. Gounod ist der entgegen-
0082gesetzten Ansicht gefolgt: so viel von der Original-Dichtung
0083beizubehalten, als sich mit den musikalischen und scenischen Le-
0084bensbedingungen einer Oper verträgt. Aus diesem Gesichts-
0085punkte ist das Libretto mit Anstand und Geschick geformt. Es
0086besticht nicht durch den reichen Wechsel an contrastirenden Fi-
0087guren und Scenen wie „Faust“, vermeidet aber dafür unge-
0088hörige Spectakel-Effecte, wie die Walpurgisnacht, die Schluß-
0089verklärung etc. Gestrenge Kritiker, die vielleicht auch die Be-
0090dientengespräche und „salse dicta“ der Amme musikalisch illu-
0091strirt wünschten, tadeln mit Unbilligkeit die „Willkür der Be-
0092arbeitung“. Die beiden einzigen nennenswerthen Abweichungen
0093bestehen in der Verwandlung des Bedienten Balthasar in
0094einen „Pagen“ und in der Einführung von Julia’s Hochzeits-
0095fest mit Paris, während dessen Julia, vom Schlaftranke be-
0096täubt, niedersinkt. Der „Page“ war nothwendig, um eine
0097Sopranstimme für die Ensembles zu gewinnen, das Hochzeits-
0098fest, um zwischen die Klausnerzelle und die Todtengruft doch
0099ein etwas farbenfrischeres Bild einzufügen. Shakspeare’s Worte
0100sind sehr häufig beibehalten, sogar den „Prolog“ hat sich
0101Gounod nicht entgehen lassen, sondern ihn zu einer male-
0102risch-musikalischen Einleitung benützt, der ein seltsamer Reiz
0103nicht abzusprechen ist. Nach einigen düster präludirenden Tacten
0104des Orchesters hebt sich nämlich der Vorhang und wir sehen
0105vor uns eine unbewegliche malerische Gruppe junger Männer
0106und Frauen, ungefähr wie das bekannte Bild von Boccaccio’s
0107florentinischer Gesellschaft. Dieser Chor singt in einfachen,
0108meist unbegleiteten Accorden den kurzen Prolog: „Vérone vit
0109jadis deux familles rivales, les Montaigus, les Capulets“ etc.
0110Das Ganze erscheint und verschwindet, bei gänzlich verfinster[2]-
0111tem Zuschauerraume, wie ein zauberisches Lichtbild. Der erste
0112Act beginnt mit dem Feste bei Capulet; Julia singt ihre un-
0113befangene Fröhlichkeit in einer Arie aus, deren walzerartiger
0114Charakter hier mit Recht Anstoß erregen wird. Offenbar ist
0115die Nummer (wie die Schmuck-Arie im „Faust“) eine Con-
0116cession an Madame Miolan-Carvalho, die mächtige Di-
0117rectrice und Primadonna des Théâtre Lyrique. Romeo er-
0118scheint maskirt mit seinen Freunden, Mercutio singt die Er-
0119zählung von der Fee Mab. Es folgt die erste Begegnung zwi-
0120schen Romeo und Julia, hierauf der von Capulet besänftigte
0121Streit zwischen Tybalt und Romeo. Der zweite Act besteht
0122fast gänzlich aus der Balconscene, welcher ein kurzer Männer-
0123chor der Freunde Romeo’s und ein Arioso des Letzteren vor-
0124angeht. Die Zusammenkunft der beiden Liebenden bei Pater
0125Lorenzo, der sie vereinigt, eröffnet den dritten Act; ein
0126Spottchor und ein Strophenlied des Pagen leiten das Finale
0127ein, welches mit dem Kampfe der beiden feindlichen Parteien
0128und dem Tode Mercutio’s endet. Die erste Hälfte des vierten
0129Actes erfüllt vollständig das große Liebesduett der jungen Neu-
0130vermälten, das musikalisch hervorragendste Stück der Oper.
0131Es folgt eine Arie des Pater Lorenzo, welcher Julien den be-
0132täubenden Schlaftrunk reicht, und das Hochzeitsfest mit Chor,
0133Marsch und einem kurzen Tanze; der Act schließt mit Ju-
0134lia’s vermeintlichem Tode. Der fünfte Act spielt in dem
0135Grabgewölbe ausschließlich zwischen den beiden Liebenden, über
0136deren in letzter Umarmung verschlungenen Leichen der Vor-
0137hang fällt.
0138Eine musikalisch eingehende Kritik der Oper verschieben
0139wir um so lieber, als diese hier zur Aufführung kommt und
0140wir dem ersten Eindruck des Publicums und der Kritik nicht
0141vorgreifen möchten. Keinen Widerspruch dürfte es erfahren,
0142daß der Componist sich seiner schwierigen Aufgabe mit beson-
0143derer Hingebung und Ausdauer gewidmet hat. Gounod ist
0144ein sehr ernsthafter, etwas zur Schwärmerei geneigter Mensch,
0145der die Mission der Kunst vom höchsten Standpunkte auffaßt
0146und ihr mit einem fast religiösen Eifer dient. An der Com-
0147position des „Romeo“, die er unmittelbar nach dem „Faust“
0148begann, hat Gounod (mit wenigen für kleinere Werke nöthigen
0149Unterbrechungen) acht Jahre gearbeitet, und gewiß mit dem
0150reinsten Streben, sein Bestes zu leisten. Wir dürfen darüber
0151allerdings nicht vergessen, daß Gounod Franzose ist und sich
0152von der Anschauungs- und Empfindungsweise seiner Nation
0153unmöglich ganz emancipiren kann. Gounod — ein begeisterter
0154Verehrer und Kenner deutscher Meister — hat sich übrigens
0155dem deutschen Opern-Ideal und dem gemüthvoll-sinnigen Cha-
0156rakter unserer Musik mehr als irgend ein zweiter Franzose
0157genähert. Daß es endlich in einer französischen Oper ohne
0158einige Concessionen an den Theater-Director und die Sänger
0159nicht abgeht, ist sattsam bekannt. Welch innere und äußere
0160Kämpfe Gounod bei solchen Anlässen zu bestehen hat, davon
0161konnte ich mich eines Tages selbst überzeugen. Gounod war
0162von einer der letzten Proben zum „Romeo“ eben nach Hause
0163gekommen und begann, durch die Aufregung noch belebter und
0164gesprächiger als gewöhnlich, über die Hindernisse zu klagen, welche
0165die leidige Theaterwirklichkeit den besten Intentionen des Com-
0166ponisten bereite. Der Director hatte eine Ensemble-Nummer,
0167als die Handlung aufhaltend, streichen wollen, und die Prima-
0168donna bestärkte ihn durch ihre Unlust, darin mitzusingen.
0169Gounod setzt sich also erzählend rasch ans Clavier und spielt
0170und singt uns das betreffende Musikstück — es war das „Epi-
0171thalame“ im dritten Act („O Juliette, sois heureuse!“),
0172ein edler, breit ausströmender Chorsatz, in der That der besten
0173Nummern eine — vor. „Verleugnung,“ ruft Gounod,
0174„Verleugnung heißt die erste Tugend des Sängers, wie sie die
0175erste Pflicht des Componisten ist! Den achte ich nicht als
0176Künstler, der sich nicht mit dem Kunstwerk identificirt, der,
0177statt in seiner Rolle gänzlich aufzugehen, immer daneben die
0178eigene Persönlichkeit im Auge hat. Wenn ein Sänger die Com-
0179position anders vorträgt, als der Tondichter sie geschrieben, so ist
0180dies nichts Anderes als eine Verleumdung; im Privatleben gibt es
0181Rechtsmittel gegen die Verleumdung, in der Kunst nicht. Der
0182Componist hat keine Appellation und ist doch schon geschädigt,
0183wenn eine Sängerin ihre Arie auch nur mit Unlust vorträgt. —
0184Wahr sein und sich verleugnen,“ fuhr er dann mit ge-
0185steigerter Wärme fort, „das ist die erste und höchste Pflicht des
0186dramatischen Componisten. Wehe ihm, wenn er den höchsten
0187Lohn nicht im eigenen Schaffen findet! Die Composition des
0188„Romeo“ hat jahrelang Tag und Nacht meine ganze Seele
0189erfüllt, wonnevoll, schmerzvoll; ihr verdanke ich die seligsten
0190Stunden meines Lebens und habe meinen Lohn dahin. Was
0191nach Vollendung des Werkes folgt, die Proben, die Aufführung,
0192der Erfolg — das ist nur Mühsal und Enttäuschung. Gäbe
0193mir ein Gott die Kraft, ein Meisterwerk zu schaffen, vollendet
0194und unsterblich wie Shakspeare’s, unter der Bedingung, daß
0195niemals ein Sterblicher den Namen des Autors erfahre oder
0196vermuthe, ich wäre tausendmal glücklicher, als mit den höchsten
0197Erfolgen meiner Werke und der Ueberzeugung von ihrer Man-
0198gelhaftigkeit.“ Diese und ähnliche in lebhaftester Erregung aus-
0199geführten Reden zeugten von dem idealen Feuer, das Gounod
0200durchlodert, und ließen den Schwärmer wiedererkennen, der als
0201Jüngling sich ganz der religiösen Kunst hingab, die ersten
0202Weihen nahm und noch vor 12 oder 15 Jahren in geistlichem
0203Kleide einherging. Letztere Schwärmerei hat er überwunden und
0204lebt seit zehn Jahren als glücklicher Gatte und Vater in der
0205erfreulichsten Unabhängigkeit. Fein und weltmännisch in seinen
0206Formen, von offener, intelligenter Gesichtsbildung gehört Gou-
0207nod nicht zu der Classe der schweigsamen, erst am Clavier auf-
0208thauenden Tondichter, sondern zu den lebhaften, mittheilsamen,
0209denen eine fließende Beredtsamkeit und vielseitige Bildung er-
0210lauben, über ihr Streben und Schaffen Rechenschaft zu geben.
0211Haben wir den künstlerisch reinen und hochstrebenden Ab-
0212sichten Gounod’s Gerechtigkeit widerfahren lassen, so können
0213wir uns doch nicht verhehlen, daß sein „Romeo“ im Großen
0214und Ganzen eine Abschwächung der schöpferischen Kraft offen-
0215bare. Den Melodienreichthum, die Frische und Lebendigkeit des
0216„Faust“ konnten wir nur in den glücklichsten Momenten „Ro-
0217meo’s“ wiederfinden. Letzere finden sich am reichlichsten in den
0218zarten, lyrischen Scenen; wo eine hochgespannte und anhaltende
0219dramatische Kraft erfordert ist, erlahmt Gounod’s Kraft. Man
0220wird dies in der Kampfscene und dem Finale des dritten Actes
0221wahrnehmen, wo dem Componisten überdies eine schimme, fast
0222notentreue Reminiscenz an den „Spottchor“ in den „Huge-
0223notten“ passirt. Neben den mit voller Liebe ausgeführten Ge-
0224stalten Romeo’s und Julia’s fallen alle übrigen bedeutend ab; [3]
0225Capulet’s etwas philiströse Biederkeit und Pater Lorenzo’s
0226monotone Salbung lassen den Hörer gleichgiltig. An feinem,
0227geistreichem Detail, an reizenden charakteristischen Zügen findet
0228man, wie sich bei Gounod voraussetzen läßt, reiche Ausbeute.
0229Aber seine dramatische Kraft hat in „Romeo“ einen kurzen
0230Athem und die musikalische Erfindung nicht selten einen mono-
0231tonen, sickernden Fluß. Melodisch und harmonisch, erinnert
0232„Romeo“ stark an die Musik zum „Faust“; die schönste Num-
0233mer der Oper, das Liebesduett im vierten Act, durchströmt
0234derselbe süßbetäubende Akaziengeruch, dem wir in der Garten-
0235scene zwischen Faust und Gretchen uns so gerne gefangen geben.
0236Diese Andeutungen auszuführen, wird uns wol seinerzeit
0237die Wiener Aufführung Anlaß bieten. Sie dürfte, was Or-
0238chester, Chor und die Mehrzahl der Rollen betrifft, die Pa-
0239riser Vorstellung musikalisch entschieden überragen. Wenn schon
0240die trefflichen ersten Vorstellungen des „Faust“ im Hofopern-
0241theater ihrem Pariser Vorbild überlegen waren, so können wir
0242dieselbe Prophezeiung für den im Théâtre Lyrique mangelhaft
0243besetzten „Romeo“ noch viel herzhafter aussprechen.