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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1143. Wien, Dienstag den 5. November 1867

[1]

Concerte.

(Anton Rubinstein. — Erstes Gesellschafts-Concert.)


0003Ed. H. Wir haben Herrn Rubinstein im Laufe der
0004letzten Tage dreimal gehört: in den beiden Concerten, die er
0005mit glänzendem Erfolge im Musikvereinssaal gab, dann in dem
0006durch seine Mitwirkung gezierten ersten „Gesellschafts-Concert“.
0007Das Publicum kam dem gefeierten Künstler mit großen Er-
0008wartungen und ungewöhnlicher Freundlichkeit entgegen; hatte
0009er doch als Virtuose hier wiederholt Triumphe gefeiert und als
0010Componist wenigstens jederzeit Interesse erregt. Seine reiche
0011Begabung ist ihm nach der einen wie nach der andern Seite
0012hin treu geblieben, ohne jedoch in neue Phasen getreten oder
0013zur letzten künstlerischen Vollendung durchgedrungen zu sein.
0014Wir finden denselben Rubinstein wieder, der uns 1857 
0015verlassen, und das will gewiß nicht wenig sagen. Rubinstein 
0016ward als Künstler sehr früh selbstständig; sein kräftiges, eigen-
0017thümliches Talent hatte sich bald formirt und eine gewisse
0018ansehnliche Höhe erreicht, von der es nicht weiter aufstieg und
0019über die es im Großen und Ganzen sich auch schwerlich mehr
0020erheben wird. Seine Individualität ist noch lange nicht er-
0021schöpft, aber, wie uns dünkt, fertig und abgeschlossen. Am ge-
0022winnendsten erschien der Componist Rubinstein in dem Cla-
0023vier-Concert
(D-moll, op. 70), mit welchem er sich Sonn-
0024tags
hier einführte. Es ist die gelungenste größere Composi-
0025tion, die wir von Rubinstein kennen. Obwol nicht ganz frei
0026von Anklängen an Beethoven, Mendelssohn und namentlich
0027Schumann, ist das Concert doch von überwiegend origineller,
0028kräftiger Erfindung, meisterhaft gebaut und instrumentirt, reich
0029an geistvollen Einzelheiten. Durch den ersten Satz (er ist uns
0030der liebste) geht ein starker Zug von Pathos und männlicher
0031Energie; sehr wirksam hebt sich davon das F-dur-Adagio mit
0032seinem nicht sowol tiefen als anmuthig-sentimentalen breiten
0033Gesang ab. Der letzte Satz, ein trotzig wildes Allegro molto,
0034ist als Ganzes weniger abgerundet, hingegen am reichsten an
0035überraschenden, wirksamen Einfällen. Den Clavierpart hat
0036Rubinstein mit Bravour reich bedacht, jedoch nicht in unge-
0037bührlichem Mißverhältniß gegen das Orchester. Das D-moll-
0038Concert hat mehr inneren Zusammenhang und Einheit des
0039Styls, als ähnliche mehrsätzige Compositionen Rubinstein’s,
0040und hält Anfang, Mitte und Ende ziemlich auf gleicher Höhe
0041der schöpferischen Kraft. Was den meisten größeren Werken Rubin-
0042stein’s so empfindlich zu schaden pflegte, ist ihre Ungleichheit in sich
0043selbst. In der Regel war der günstige Eindruck des ersten Satzes im
0044Verlaufe des letzten so gut wie vertilgt. Wir erinnern bei-
0045spielsweise an die „Ocean-Symphonie“ oder das Clavier-
0046Quartett in C-dur (op. 66), das vor zwei Jahren Herr
0047Dachs und jetzt der Componist selbst vortrug. Das Quar-
0048tett, eine der neuesten Arbeiten Rubinstein’s, bricht mit einem
0049prächtigen Thema wie ein heller Morgen an. Der erste Satz,
0050welcher auf diesem Hauptthema allerdings einen ungleich stolze-
0051ren Bau führen konnte, bildet gleichwol einen sehr stattlichen,
0052vielverheißenden Anfang. Es folgt ein leichtgeschürztes, ballet-
0053mäßiges Scherzo, das nicht mehr recht zu dem Früheren stimmt,
0054aber doch pikant und effectvoll heißen muß. Der folgende Satz,
0055ein wüstenartig langgestrecktes sonnen- und blüthenloses Adagio,
0056befremdet und verstimmt den Hörer, welcher schließlich von
0057dem rohen, bizarren Finale mit einem peinlichen Eindruck
0058scheidet. Es freut uns, von dem Clavier-Concert ein Gleiches
0059nicht sagen zu müssen. In letzterem, wie überhaupt in Rubin-
0060stein’s besseren Inspirationen herrscht eine gewisse sinnliche Natur-
0061kraft und Frische, eine energische Wirksamkeit nach Außen, die
0062in der nachbeethoven’schen Musik selten zu werden beginnt.
0063Ohne Zweifel ist Rubinstein in diesem Punkte seinem russi-
0064schen Vaterlande verpflichtet. Wir kennen und anerkennen in
0065der Kunstgeschichte allerdings nur zwei große Völkerracen:
0066die germanische und die romanische. Was von anderen Natio-
0067nen sich in der Tonkunst bemerkbar machte, schloß sich diesen
0068beiden an (wie Rubinstein der deutschen Musik), oder blieb als
0069eine Art Naturproduct an der Scholle des Volksliedes haften.
0070Der Zukunft wollen wir nicht vorgreifen. Ganz angesehen von
0071den speciell musikalischen Naturanlagen der Slaven, steckt in
0072ihnen ein Kapital von unverbrauchter Lebenskraft und derber,
0073noch nicht zu Tod cultivirter Sinnlichkeit. Etwas von dieser
0074Vollkraft und diesem Volltrotz der slavischen Natur wogt in
0075Rubinstein’s Blut und kommt in seiner Composition wie in
0076seinem Spiel zu Tage. Man weiß, daß der deutsche Geist 
0077allen überlegen ist, wo er sich den Tiefen des Lebens zuwendet;
0078dasselbe an der Oberfläche schön und wirksam zu gestalten,
0079bleibt ihm desto häufiger versagt. Rubinstein, den besten
0080unserer musikalischen Zeitgenossen (Brahms, Joachim, Rob.
0081Franz, Kirchner) an Tiefe des Gedankens und Gefühles
0082nicht zu vergleichen, steht doch von Haus aus durch jene sinn-
0083liche Kraft und Wirksamkeit nach Außen wieder im Vortheil.
0084Diese Eigenschaft hat uns längst zu der Ueberzeugung geleitet,
0085daß die dramatische Composition, die Musik auf dem Theater,
0086das günstigste Feld für Rubinstein abgeben müßte. Er ist
0087zwar auch auf diesem Felde bei glänzenden Anläufen stehen
0088geblieben, ohne einen bleibenden Erfolg, aber diese Anläufe
0089reichen hin, unsere Ueberzeugung unerschütterlich zu befestigen.
0090Die ersten Acte der „Kinder der Haide“ (der letzte führt wie-
0091der selbst den Todesstreich) enthalten Scenen von ungemeiner
0092Energie und Farbenpracht, und wir wüßten gegenwärtig keinen
0093deutschen Componisten, der im Stande wäre, etwas Aehnliches
0094für die Oper zu schreiben, wie der erste Act von Rubin-
0095stein’s
Feramors“.


0096Außer seinem Concert und Clavier-Quartett spielte Rubin-
0097stein noch eine Anzahl kleinerer Stücke eigener Composition.
0098Unsere vor zehn Jahren gemachte Wahrnehmung, daß Rubin-
0099stein in kleinen Formen leicht dem Flachen, Unbedeutenden,
0100ja Trivialen verfällt, haben diese neuen Concert-Nummern nur
0101bestätigt. „Nocturne“, „Scherzo“, „Barcarole“ sind äußerlich
0102und gemüthlos; die „Contredanse“, anfangs brillant angelegt,
0103nähert sich gegen das Ende dem Niveau der Gartenmusik und
0104geräth in ein von allen Grazien verlassenes Toben. Die C-dur-
0105Etude, ein aus kühnsten Sprüngen und Arpeggien geflochtenes
0106Bravourstück, erfüllt ihren Zweck als blendende Kraftprobe, die
0107Schönheit hat nichts damit zu thun. Als Clavierspieler 
0108war Rubinstein bereits vor zehn und zwanzig Jahren mit
0109Recht berühmt und bewundert. Ueber seine erstaunliche Vir-
0110tuosität bleibt kaum etwas Neues zu sagen übrig. Er hat die
0111ganze saftige Fülle seines unvergleichlichen Anschlags beibehal-
0112ten, die Titanenkraft im Forte neben der Zartheit eines bis
0113an die Grenze des Hörbaren streifenden Pianissimo. Ja in
0114der Ausführung von Terzen- und Sextenscalen (D-moll-Con-
0115cert) und in den gewagtesten Sprüngen (C-dur-Etude) ent-
0116wickelte er jüngst eine Meisterschaft, die unsere Erinnerung [2]
0117und Erwartung noch übertraf. In der „Etude“ und „Con-
0118tredanse“ producirt er ein solches Wogen von Tönen, sol-
0119chen Umfang durchbrausend, daß den Zuhörer ein wahrer
0120Schwindel des Gehörs erfaßt und das Auge nachhelfen muß,
0121das Unerklärliche zu fassen. Bei alledem bleibt die Haltung
0122Rubinstein’s — worauf wir einigen Werth legen — immer
0123ruhig, unaffectirt und männlich. Fremde Compositionen gibt
0124Rubinstein sehr verschieden, wie er denn auch als reproduci-
0125render Künstler ungleich und dem Einfluß der Laune unter-
0126worfen ist: in seinem ersten Concert spielte er weit schöner
0127als im zweiten, in der ersten Abtheilung des „Gesellschafts--
0128Concerts“ viel besser als in der folgenden. Am schönsten spielt
0129Rubinstein unseres Erachtens die klare, zu keinen Uebertrei-
0130bungen verleitende Musik Mendelssohn’s und Mozart’s.
0131Sein Vortrag des Mozart’schen D-moll-Concerts (das er
0132mit zwei effectvollen, wenngleich etwas selbstständig hervortre-
0133tenden Cadenzen versah) war meisterhaft. Daß Rubinstein die schwie-
0134rigsten Aufgaben von Beethoven, Schumann und Chopin technisch
0135vollendet löst, bedarf keiner Versicherung, doch läßt er in Auf-
0136fassung und Ausführung das virtuose Element mitunter zu
0137stark vorwalten. Wir hatten gehofft, die Jahre würden diesen
0138Hauch auf dem reinen Spiegel der Kunst tilgen. Leider fanden
0139wir auch jetzt noch den Hauptaccent auf die Bravour gelegt;
0140bei aller äußeren Lebendigkeit war Rubinstein’s Vortrag der
0141Beethoven’schen C-moll-Sonate (op. 111) und der „Sym-
0142phonischen Etuden“ von Schumann innerlich kühl, ja, was
0143noch schlimmer für einen Poeten, nüchtern. In den „Etuden“
0144von Schumann entfaltete Rubinstein eine außerordentliche
0145Bravour, aber uns störte das Selbstsüchtige dieser Bravour,
0146das Uebertreiben des Tempos und des Kraftaufwandes, der
0147Mangel an fein nachfühlender Empfindung, an Liebe zum Ge-
0148genstand. Clara Schumann und Brahms (Erstere an
0149Kraft, Letzterer an Schliff der Technik hinter Rubinstein zu-
0150rückstehend) haben mit den „Symphonischen Etuden“ eine un-
0151vergleichlich tiefere Wirkung erzielt, weil sie verwandten Geistes
0152sich in die Composition hineingelebt hatten und nur den Ton-
0153dichter selbst sprechen ließen. Das prachtvolle Finale kam durch
0154die Ueberstürzung des Tempos nicht nur völlig um den ihm
0155so eigenthümlichen Festglanz, es wurde beinahe zum unentwirr-
0156baren Getöse. Gleichfalls zu schnell spielte Rubinstein die 
0157Chopin’sche As-dur-Polonaise; die schlanke, ritterliche Hal-
0158tung, dieser Haupt-Charakterzug der Polonaise, war mit den
0159vier ersten Tacten unrettbar dahin. Wir hatten die Bravour
0160Rubinstein’s auf Kosten der Poesie Chopin’s. Liszt’s 
0161Don-Juan“-Phantasie, ein Virtuosenstück, aber ein geist-
0162reiches, hofften wir von Rubinstein vollendet zu hören. Er be-
0163gann es sehr schön, gerieth aber bereits bei den Variationen
0164(La ci darem la mano) in eine fliegende Hast und endigte
0165mit einem solchen Auf- und Niederrasen über die Tasten, daß
0166das Reinspielen aufhören mußte, geschweige denn das Schön-
0167spielen. In dieser Production war die Bravour so
0168empfindlich mit Rohheit versetzt, daß selbst das große
0169Publicum stutzte und am Schlusse deutliche Zisch-
0170laute sich in den Applaus einschlichen. Bei reinen
0171Virtuosenstücken mag ein Zuviel an Bravour immerhin noch
0172am leichtesten hinzunehmen sein. Wenn sich aber diese virtuose
0173Ueberkraft auch in den edelsten Tondichtungen Beethoven’s,
0174Schumann’s, Chopin’s nicht zu verleugnen weiß; wenn
0175wir so beneidenswerthe Kräfte für so bedenkliche Wirkungen
0176aufgeboten sehen; wenn wir fühlen, wie gerade Rubinstein 
0177das Alles so viel besser und schöner geben könnte, als er es
0178gibt, dann mischt sich ein Gefühl der Trauer in unsere Be-
0179wunderung und wir möchten mit Corneille ausrufen:
0180„O ciel, que de vertus vous me faites haïr!“


0181In Rubinstein’s erstem Concert sang Fräulein He-
0182lene Magnus
mit ihrer bekannten, oft gerühmten Zartheit
0183und Innigkeit zwei tiefpoetische Lieder von Robert Franz 
0184und zwei recht unerquickliche aus den „Persischen Liedern“
0185von Rubinstein. Rubinstein’sNeue Lieder aus dem
0186Russischen von Kolzoff“ hätten ungleich Besseres zur Auswahl
0187geboten. In dem zweiten Concert Rubinstein’s trat Fräulein
0188Therese Seehofer mit rühmlicher Gefälligkeit für den
0189plötzlich verhinderten Herrn Walter ein. Fräulein Seehofer 
0190sang Mendelssohn’s „Frühlingslied“, „Die Post“, „Nacht-
0191gesang“ und „Gretchen“ von Schubert mit großem Beifall.
0192Die jugendliche Sängerin besitzt einen nicht allzu starken, aber
0193frischen und ziemlich umfangreichen Sopran, warme Empfin-
0194dung und feines Verständniß. Wenn sie einige Incorrectheiten
0195in der Aussprache und den etwas gequetschten Ansatz hoher
0196Töne zu beseitigen vermag, wird man ihrem Gesang mit noch 
0197größerem Vergnügen lauschen. Fräulein Seehofer wurde
0198wiederholt und stürmisch gerufen.


0199Das erste Gesellschafts-Concert im großen Re-
0200doutensaale bot außer den zwei erwähnten Productionen Ru-
0201binstein’s
D-moll-Concert von Mozart und „Don-
0202Juan“-Phantasie von Liszt — noch viel des Anziehenden.
0203Zu viel beinahe, wie acht Tage zuvor Rubinstein’s erstes Con-
0204cert, das denselben Fehler übergroßer Freigebigkeit zu büßen
0205hatte. Eine schwedische, bisher in London thätige Sängerin,
0206Fräulein Mathilde Ennequist, fand eine sehr freundliche
0207Aufnahme. Ihre Stimme, ein Sopran von mäßiger Kraft,
0208weichem, aber etwas breitem, nicht durchaus edlem Klang, ist
0209in einer einzelnen Specialität außerordentlich geschult: im Tril-
0210ler. Einen so schnellen, gleichen und langen Triller erinnern
0211wir uns kaum gehört zu haben. Für diese Specialität Fräulein
0212Ennequist’s war die sogenannte „Nachtigall-Arie“ aus Hän-
0213del’s
dramatischer Cantate: „L’Allegro, il Penseroso
0214ed il Moderato“ wie geschaffen. Ein sentimental-kokettes
0215Wetttrillern und Wettschluchzen zwischen einer Flöte und einer
0216Singstimme, erinnert diese Rococco-Arie frappant an die ge-
0217putzten und gestelzten Schäfer des 18. Jahrhunderts. Herr Fr.
0218Doppler blies die virtuose Flötenpartie mit ebensoviel Bra-
0219vour als Geschmack. Fräulein Ennequist, im Vortrage von
0220nordischer Kälte und Gemessenheit, that wohl daran, der Hän-
0221del’schen Bravour-Arie zwei schwedische Volkslieder folgen zu
0222lassen. In diesen allerliebsten Weisen wurde sie etwas freier
0223und wärmer und gefiel so sehr, daß sie der Wiederholung des
0224zweiten Liedes sich nicht entziehen konnte. Auch zwei deutsche
0225Volkslieder
hörten wir, von dem Singverein der „Ge-
0226sellschaft der Musikfreunde“ trefflich vorgetragen. Die beiden
0227(zum erstenmale producirten) Chorlieder: „Liebespein“ und
0228Liebeslied“ gehören zu den schönsten Perlen, welche Herbeck 
0229aus vergilbten alten Liederbüchern hervorgeholt und mit ebenso
0230bescheidener als kunstgeübter Hand neu gefaßt hat. Kein ge-
0231mischter Chorverein sollte sich diese Bereicherung des Reper-
0232toires entgehen lassen. Das vom Hofcapellmeister Herbeck ge-
0233leitete Concert wurde mit Beethoven’s C-dur-Ouvertüre
0234(op. 115) eröffnet, mit Schumann’s C-dur-Symphonie be-
0235schlossen, herrliche Tondichtungen, die man in so vorzüglicher
0236Aufführung nicht oft genug hören kann.