Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1165. Wien, Mittwoch den 27. November 1867
[1]Concerte.
(Zweites Philharmonisches Concert. — Joachim und Brahms.)
0003Ed. H. Componisten, welche sich glücklich auf eine an-
0004sehnliche Ruhmeshöhe hinaufgearbeitet haben, pflegen dann
0005außer dem Glanze ihrer Erfindung auch den müheloseren ihres
0006Namens zu nützen und schwächere Jugendwerke zu veröffent-
0007lichen, welche früher, ohne den Schutz einer berühmten Flagge,
0008unbeachtet auf hoher See verschollen wären. Das sind Geistes-
0009kinder, die nicht sowol dem Namen ihres Erzeugers Ehre ma-
0010chen, als selbst durch diesen Namen zu Ehren kommen sollen.
0011Selbst Beethoven, der doch zuerst der wahllosen Vielschrei-
0012berei ein Ende gemacht, verschmähte es nicht, von seinem ge-
0013sicherten Throne herab zuweilen jugendliche Bagatellen (mit
0014oder ohne diesen Titel) an bittende Verleger auszufolgen. In
0015diesem Punkte gab es kaum ein fleckenloseres Muster von
0016Selbstkritik und Selbstverleugnung, als Felix Mendels-
0017sohn. Früh entwickelt und productiv, wie er war, hatte Men-
0018delssohn viele größere Jugendarbeiten aufgestapelt, um welche
0019ihn später die Verleger bestürmten und deren günstige Auf-
0020nahme zu jener Zeit außer Zweifel stand. Der Meister wider-
0021stand aber heroisch; was sein künstlerisches Gewissen nicht als
0022reif und vollgiltig erkannte, gab er nimmermehr an die Oef-
0023fentlichkeit. Die im zweiten Philharmonie-Concert zum ersten-
0024male aufgeführte C-dur-Ouverture ist ein neuer Beleg
0025für diese Strenge Mendelssohn’s gegen sich selbst. Das
0026Werk stammt aus Mendelssohn’s siebzehntem Lebensjahre
0027und ist erst kürzlich von seinen Erben unter der Opuszahl
0028101 veröffentlicht worden. Die „Trompeten-Ouverture“ (also
0029genannt nach dem dreimal ausrufenden C der Trompeten zu
0030Anfang und im Verlaufe des Stückes) ist ein interessanter
0031Beitrag zur Entwicklungsgeschichte Mendelssohn’s und eine
0032freundlich überraschende Gabe für Jeden, der mit bescheidenen
0033Erwartungen herantritt. Neben der Klarheit und Logik des
0034musikalischen Gedankens, welche Mendelssohn überall auszeich-
0035nen, weist die Ouverture eine Beherrschung der Form und der
0036Orchestermittel auf, wie sie so früh nur wenige Meister er-
0037rungen haben. Sie rauscht in Einem ununterbrochenen Al-
0038legrozug schmuck und festlich dahin. Was sie zu sagen hat,
0039ist freilich nicht von besonderer Neuheit oder Bedeutung, sie
0040sagt es auch mit ziemlich vielen Worten. Mendelssohn’s cha-
0041rakteristische Physiognomie findet sich hier noch nicht ausgeprägt,
0042höchstens daß der Anfang des Durchführungssatzes in B-dur
0043mit dem leisen Wogen der getheilten Violinen die Romantik
0044der „Hebriden“ und der „Melusine“ vorausspiegelt. Im Gan-
0045zen scheint die stark von Mozart’schem Einflusse zeugende
0046Ouverture mehr einer emsigen, ihr Wissen und Können erpro-
0047benden Arbeit, als dem Drange der Begeisterung zu entstam-
0048men; ja die contrapunktischen Partien des Durchführungs-
0049satzes mit ihrer matten Rhythmik und ihrem Rosalien-Ueber-
0050flusse haben etwas geradezu Trockenes, Doctrinäres. An
0051Frische und Originalität der Erfindung stehen die jugendliche
0052„Ruy-Blas“-Ouverture und selbst jene „für Harmonie-Musik“
0053entschieden höher. Immerhin gebührt Herrn Capellmeister
0054Dessoff aufrichtiger Dank für diese interessante Reliquie,
0055desgleichen für eine noch viel ältere Novität, welche er unmit-
0056telbar darauf vorführte. Wir meinen Händel’s G-moll-
0057Concert für Streichorchester mit zwei obligaten Violinen und
0058einem Violoncell. Insoweit Händel’s Instrumentalwerke uns
0059den in der Chor-Composition ungleich mächtigeren Meister über-
0060haupt zu repräsentiren vermögen, ist das G-moll-Concert ein
0061echter und ganzer Händel. Ohne die Tiefe und den Combina-
0062tions-Reichthum ähnlicher Suiten von Bach, besitzt das Werk doch
0063anmuthige und kräftige Ideen in effectvoller Fassung. Es ist das
0064sechste von zwölf großen Concerten, die Händel sämmtlich im
0065Laufe Eines Monats (October 1737), also sehr rasch, geschrie-
0066ben und die in England bald größte Beliebtheit erlangten.
0067Dünkt es unserem ernsthaften philharmonischen Publicum nicht
0068seltsam, daß diese Concerte zu Händel’s Zeit als Lieblings-
0069nummern in den öffentlichen Concerten von Vauxhall und
0070Marylebone figurirten? Der erste Satz des G-moll-Concertes ist
0071ein sehr ernstes Largo von schöner Breite und Fülle. Es führt
0072zu einem vierstimmigen fugirten Allegro, dessen chromatisch an-
0073hebendes, dann in wunderliche Intervalle gerathendes Thema
0074wol vorzüglich durch seine Eigenart und Schwierigkeit den Com-
0075ponisten reizte. Der dritte Satz (der einzige, der die Haupt-
0076tonart verläßt) ist eine Chaconne in Es-dur, mit leierartig
0077fortschnurrendem Baß („musette“), ein überaus wirksames,
0078populäres Stück von altfränkisch graziöser Haltung. Nach
0079Burney’s Erzählung war dieser Satz bei dem Componisten
0080wie beim Publicum beständig und vorzüglich in Gunst und
0081wurde von Händel oft zwischen die zwei Theile seiner Ora-
0082torien eingeschoben. Dem Wiener Publicum gefiel wider Er-
0083warten das kurze darauffolgende Allegro im Drei-Achtel-Tact
0084noch besser, das zur Wiederholung kam. Es wirkt mehr durch
0085die feinen Vortrags-Effecte, als durch besonderen Ideengehalt.
0086Das Concert schließt mit einem energisch einsetzenden Allegro,
0087das mit seiner geringen Modulation und stereotypen Phrasen
0088nicht über eine gewisse conventionelle Stimmung hinauskommt.
0089Das Finale ist von Ferdinand David mit einer Cadenz
0090versehen, die mehr wie ein Ueberbein als wie ein natürlicher
0091Schmuck herauswächst und sehr schwächlich „händelt“, wo sie
0092von dem Recht des Lebenden guten Gebrauch hätte machen
0093können. Das Händel’sche Concert wurde mit unübertreffli-
0094cher Feinheit gespielt und mit stürmischem Beifall aufgenom-
0095men. Beethoven’s C-moll-Symphonie, deren leuchtendes
0096Antlitz durch einige Sommersprossen in der Horn- und Fagott-
0097Partie nicht entstellt werden konnte, beschloß das Concert, in
0098welchem überdies die Arie der Kunigunde aus Spohr’s
0099„Faust“ von Frau Wilt ganz vortrefflich gesungen wurde.
0100Und nun zu dem zweiten Concerte von Orest und Pyla-
0101des, oder, wenn man lieber will, von Joachim und Brahms.
0102Wir wissen, theurer Leser, wie langweilig es sich liest, daß
0103wiederum dieses oder jenes Concert „sehr gut besucht“ war
0104und einen „hohen Genuß“ gewährte. Aber mit dem besten
0105Willen können wir von dem erwähnten Abend-Concerte nicht
0106schreiben, es sei langweilig, barbarisch und glücklicherweise nur
0107von sehr wenig Menschen besucht gewesen. Die Wiener haben
0108eine feine musikalische Witterung und wissen, wo sie ihre [2]
0109Rechnung finden. Dabei finden auch wieder die Concertgeber
0110die ihrige, und so ereignet sich das seltene Schauspiel von Con-
0111certen, welche nicht mittelst einer mörderischen General-Decharge
0112von Freibilletten gefüllt werden und die zartesten Hörerinnen
0113mit den entmenschtesten Kritikern in Einem Gefühle der Freude
0114und Erbauung vereinigen. Das Programm des Concertes
0115konnte vielleicht noch reicher und bedeutender sein — was möchte
0116man nicht Alles gerade von diesen zwei Künstlern vorgetragen
0117hören? Die Ausführung hingegen erfüllte alle Wünsche.
0118Brahms, der diesmal ungleich prägnanter und wirksamer
0119spielte, als im ersten Concerte, gab in der That sein Bestes
0120mit dem Vortrage von drei prächtigen Clavierstücken Sebastian
0121Bach’s. Die elegische Anmuth des „Pastorale“, der ernsthafte
0122und doch so launige Geist der „Gigue“ (dieser frappanten
0123Weissagung auf Schumann), endlich die entfesselte Harmonien-
0124fluth der „Phantasie“ wirkten jedes in seiner Weise hinreißend.
0125Wenn Brahms in Tonstücken wie die „Phantasie“ alle Re-
0126gister zieht und über einem unabsehbaren, dröhnenden Orgel-
0127punkt eine Zauberwelt von Accorden mit „vollem Werk“ er-
0128brausen läßt, da ist er geradezu einzig. Auf diesem Felde
0129hat er keinen Nachbar, geschweige denn einen Rivalen. Die
0130„Balladen“ von Brahms (op. 10) gehören einer Gährungs-
0131Epoche an, die der Componist bereits hinter sich hat. So
0132charaktervoll der Ausdruck, so geistreich die Clavierbehandlung
0133ist, das Ganze führt doch noch zu viel trübe, ungelöste Ele-
0134mente mit sich. Daß die ein großes Publicum gewiß wenig
0135bestechenden „Balladen“ mit einem dreimaligen stürmischen
0136Hervorruf des Componisten ausgezeichnet wurden, ist uns ein
0137guter Maßstab für die Stellung, die Brahms in Wien sich
0138bereits errungen hat. Möchte Brahms nicht einmal die von
0139ihm aufgefundenen und herausgegebenen zwei Stücke von
0140Schumann (Scherzo und Presto passionato) vorführen,
0141welche unserem Publicum leider noch ganz unbekannt sind?
0142Joachim spielte mit Brahms das „Rondo brillant“
0143in H-moll von Schubert, das nach einer sehr stattlichen
0144Einleitung sich ziemlich ungleich fortsetzt und uns weniger be-
0145friedigt, als das jüngst gehörte C-dur-Duo. Ferner Beet-
0146hoven’s G-dur-Sonate op. 96. Diese Tondichtung, von
0147allen Violin-Sonaten des Meisters gewiß die tiefste und eigen-
0148thümlichste, hat den Beethoven-Auslegern viel zu schaffen ge-
0149macht. Lenz, der daraus einen fabelhaften Staub aufwir-
0150belt, legt den größten Nachdruck auf den „magyarischen Cha-
0151rakter“ des Finale. „Der große Hierophant des Humors“
0152habe diese Melodie wahrscheinlich auf dem Schloß der Gräfin
0153Erdödy in Ungarn gehört u. s. w. Es wundert uns, noch
0154in keinem Winkel der labyrinthischen Beethoven-Literatur die
0155Bemerkung gefunden zu haben, daß dieses Thema identisch ist
0156mit dem Liede des Jobsen: „Der Knieriem bleibet meiner
0157Treu’“ aus dem „Lustigen Schuster“ von Adam Hiller.
0158Wissentlich hat es Beethoven hier kaum verwendet, denn er
0159ändert den zweiten Theil vollständig; aber unbewußt klang in
0160ihm die Erinnerung an jene Operette nach, die in seiner
0161Jugendzeit ein Lieblingsstück aller deutschen Bühnen war. Es
0162sind den Ungarn bereits so viele Concessionen gemacht, daß wir
0163den „Lustigen Schuster“ unmöglich noch dazugeben können.
0164Wie herrlich spielte Joachim hierauf „Barcarole und
0165Scherzo“ von Spohr und das Abendlied von Schumann!
0166Das war ein Singen, in dessen reiner, vollendeter Schönheit
0167man schwelgen konnte. Die von leiser Wehmuth angehauchte
0168liebliche „Barcarole“ von Spohr klang unter Joachim’s
0169Bogen zauberhaft. Das „Scherzo“ desselben Meisters be-
0170wegte sich edler und natürlicher als bei anderen Virtuosen, die
0171mit gewaltsamem Wohlwollen mehr Humor in das wunder-
0172liche Ding bringen möchten, als darin steckt und als der Com-
0173ponist überhaupt besaß. Kaum hatte ein zweiter deutscher
0174Componist so wenig Anlage zu Scherz und Heiterkeit, wie
0175Spohr. Seine Scherzos gleichen dem Hofnarren Rigoletto,
0176der sich zu Possen zwingt, während ihm jämmerlich zu Muthe
0177ist. Das von Joachim gespielte Scherzo hat etwas noch rea-
0178listischer Schneidendes, Leibschneidendes. So quirlt die forcirte
0179Lustigkeit auf dem Antlitze eines Unglücklichen, in dessen Ein-
0180geweide der Teufel gerade eine Tartini’sche Sonate unterm
0181Steg spielt. Nächst der „Barcarole“ war es das Schu-
0182mann’sche Abendlied (Joachim mußte es wiederholen), was
0183den tiefsten Eindruck hervorbrachte. Es waren die schönsten
0184Vorträge Joachim’s, obwol die darauf folgenden „Capricen“ von
0185Paganini hundertmal schwerer sind. Paganini hat uns
0186auf dem Programm Joachim’s ein wenig überrascht, da Letzterer
0187diesen Schöpfer und Schutzheiligen des excentrischen Virtuosen-
0188thums sonst nicht öffentlich vorzuführen pflegt. Wem nicht die
0189persönliche Erinnerung an Paganini’s Spiel einen verklären-
0190den Schimmer für dessen Compositionen mitgibt, der kann
0191darin nur das Extrem der absolut gewordenen Bravour er-
0192blicken. Das Bedenkliche dieser und anderer Paganini-Stücke
0193liegt darin, daß sie selbst von größten Meistern nur beiläufig
0194bewältigt, aber nimmermehr ganz rein, geschweige denn wahr-
0195haft schön vorgetragen werden können. Zu viel ist darin gegen
0196den Charakter des Instrumentes gesündigt, als daß es nicht
0197unter dem Bogen seines Bändigers winseln und kreischen
0198müßte. Die Bewunderung für den Virtuosen und das phy-
0199sische Unbehagen über die schrillen Töne streiten im Hörer, so
0200daß dieser manchmal mit den zum Klatschen erhobenen Hän-
0201den unwillkürlich nach den Ohren fährt. Seine immense
0202Technik bewährte Joachim am glänzendsten in der Pizzicato-
0203Variation und in jener der Terzen- und Septenscalen, die
0204Niemand ihm nachspielt. Die Hetzjagd mit den drei- und
0205vierstimmigen Accorden gegen den Schluß gehört zwar ohne
0206Frage in den Bereich des Wunderbaren, aber vom Wunder ver-
0207langen wir, daß es unfehlbar sei. Sehr gern hätten wir von
0208Joachim ein Solo auf der Viola gehört, für welche er selbst
0209eine Reihe interessanter Stücke geschrieben hat. Wäre es nicht
0210in seinen Quartett-Unterhaltungen möglich? Bezüglich dieser
0211Soiréen, welche ein wahres Fest zu werden versprechen, hätten
0212wir noch einen Wunsch, der gewiß kein blos persönlicher ist.
0213In dem Programme ist nämlich Haydn mit zwei Quar-
0214tetten bedacht, Schubert hingegen gar nicht. Vielleicht thut
0215Joachim noch nachträglich, was Vater Haydn, falls er noch
0216lebte, zweifelsohne selbst vorschlagen würde.