0003Ed. H. Wer die Geschichte der Empörung im anglo-
0004indischen Reiche studirt, verfällt gewiß nicht auf den Gedan-
0005ken, daß sie Stoff zu einem Ballet enthalte. Was könnte die
0006fröhlichste Kunst, was die Kunst überhaupt in dieser Revolu-
0007tion suchen, die aus einer Kette von Verrath, Feigheit und
0008teuflischer Mordlust besteht? In dem kurzen Zeitraume vom
0009Mai 1857 bis Ende December 1858 — so lange währte der
0010Krieg — wurden auf einem verhältnißmäßig kleinen Stück
0011Erde mehr Grausamkeiten und Schlächtereien vollführt, als
0012die Vorstellung des Lesers fassen kann. Die moralische Empö-
0013rung, die uns bei der Lectüre erfaßt, überspringt bald in
0014einen geradezu physischen Ekel, wir schlagen das Buch zu, un-
0015fähig, diesem unaufhörlichen Andrang von Blut und Lei-
0016chen länger Stand zu halten. Der eigentliche Held dieser Metze-
0017leien war Dandy Pant, bekannt unter der Ehrenbenennung
0018„Nena Sahib“, zu deutsch: Herr Großvater. Dieses
0019Scheusal, Sohn eines Brahminen und adoptirt von dem
0020letzten Peschwah der Maharatten, entbehrte nicht eines gewis-
0021sen Culturfirnisses. Seinen unbegrenzten Haß gegen die Eng-
0022länder wußte er mit vollendeter Heuchelei zu verbergen. Die
0023englischen Blätter rühmten damals das gute, fast freundschaft-
0024liche Einvernehmen, in welchem der „Herr Großvater“ mit
0025den englischen Officieren lebte und europäische Sitten anzu-
0026nehmen bestrebt war. Der Maharatte verstand und sprach
0027Englisch, hielt die Illustrated News von London, trank Cham-
0028pagner und gab Festessen am Geburtstage der Königin Vic-
0029toria. Beim Ausbruche der Empörung wurde sein Benehmen
0030noch freundlicher, seine Friedensbetheuerungen täuschten den
0031ehrlichen General Wheeler, Gouverneur von Cawnpore, der nur
0032zu bald wehrlos zusehen mußte, wie Nena Sahib die engli-
0033schen Gefangenen, Frauen und Kinder, denen er Schutz ver-
0034sprochen, niederschießen ließ. Es folgten die entsetzlichen
0035Blutbäder von Delhi, Cawnpore etc.
0036Der eigentliche Inhalt des Ballets von Desplaces ist
0037durchaus freie Erfindung und bildet eine Art Vorhandlung zu
0038diesem blutigen Kriege, welcher am Schlusse allegorisch ange-
0039deutet wird. Der Ort der Handlung scheint nach einer Stelle
0040des Librettos Cawnpore selbst zu sein. Wir erblicken beim
0041Aufgehen des Vorhanges Nena Sahib auf einem freien Platze
0042im Walde gelagert, umgeben von Dienern und Bajaderen. Die
0043tropische Landschaft, die malerische Pracht der Gewänder und
0044Tänze, Alles stimmt zu einem Bilde üppigsten Genusses zu-
0045sammen und erinnert an die Aufschrift des im selben Kriege
0046zerstörten Palastes von Delhi: „Gibt es ein Paradies hienieden,
0047hier ist es!“ Ein Hilferuf in der Nähe unterbricht die Tänze.
0048Eine junge Engländerin flieht vor einem Tiger, Nena Sahib
0049erlegt das Thier und nähert sich zärtlich dem Mädchen, dessen
0050Schönheit ihn hinreißt. Die Gerettete ist Ophelia, Tochter
0051des Gouverneurs von Cawnpore, unter dem wir uns den
0052General Wheeler denken, obwol ihn der Theaterzettel „Lord
0053Bentinck“ nennt. Der Gouverneur eilt mit seinem
0054Jagdgefolge herbei und dankt dem Radschah für
0055die Rettung seiner Tochter, zu deren bevorstehender
0056Vermälung er ihn einladet. Der zweite Act beginnt
0057mit dem Ballfeste beim Gouverneur. Nena Sahib, der mit
0058glänzender Suite erscheint, hat nur Augen für die junge Braut,
0059wird bald mit dem Bräutigam handgemein und sieht sich end-
0060lich von den Engländern zum Palast hinausgedrängt. Gede-
0061müthigt und auf Rache sinnend kehrt Nena Sahib in seinen
0062Harem zurück, wo Sita, seine Lieblings-Sklavin, vergebens
0063sich bemüht, ihn zu besänftigen, zu erheitern. Da bringt ein
0064Sklave die ohnmächtige Ophelia, die er auf Sahibʼs Befehl
0065geraubt, auf den Armen hereingetragen. Es folgt nun eine
0066Scene des Werbens und Zurückstoßens, bis sich Sita zur
0067Rettung Opheliaʼs zwischen die Beiden stürzt. Nena Sahib
0068ersticht die Sklavin, indeß Ophelia von ihrem Vater und
0069Bräutigam gerettet wird. In voller Raserei ergreift nun
0070Sahib die Trauerfahne und stürmt mit seinem Volk hinaus,
0071das Signal zum Vernichtungskrieg gegen die Engländer gebend.
0072Eine Vision zeigt uns Nena Sahib von der „Rache“ und der
0073„Gerechtigkeit“ verfolgt; eine zweite die geopferte Sita, von
0074Schutzgeistern zum Himmel emporgetragen. Mit diesen schön
0075gedachten und wirksam ausgeführten Bildern schließt das
0076Ballet — einen malerischen Effect an die Stelle eines drama-
0077tischen Abschlusses setzend.
0078Die dramatische Anlage des Ballets verdient in der
0079Hauptsache aufrichtiges Lob, sie ist durchwegs ernsthaft ge-
0080dacht und logisch ausgeführt. Von den unsinnigen Wider-
0081sprüchen und Albernheiten, welche die meisten modernen Bal-
0082lette entstellen, findet sich in „Nena Sahib“ keine Spur. Der
0083Inhalt bildet eine zusammenhängende dramatische Handlung,
0084die handelnden Personen sind wirkliche Charaktere, Sita steht
0085der Ophelia, Nena Sahib dem Gouverneur als wirksamer Con-
0086trast gegenüber. Die Tänze entwickeln sich zwanglos aus der
0087Situation. Haben wir die Handlung als klar und logisch an-
0088erkannt, so folgt daraus noch nicht, daß sie auch reich und
0089spannend sei. Im Gegentheil, es fehlt ihr an Verwicklung
0090und Abwechslung; dadurch entstehen allzu große Lücken und
0091Ruhepunkte, welche dann durch allzu lange Tänze ausgefüllt
0092werden müssen. Wie er vorliegt, genügt der Stoff allenfalls
0093für ein Ballet, das nach italienischer Sitte zwischen den Acten
0094einer Oper gespielt wird, aber nicht für einen ganzen Theater-
0095abend. Manche geschichtliche Züge, namentlich die den Hel-
0096denmuth der Europäer in glänzendem Lichte zeigen, hätten
0097glücklich benützt werden können — nicht zu sprechen von dem
0098unfehlbaren Knalleffect, mit dem Nena Sahib am 17. Juli 1857
0099das Pulvermagazin zu Cawnpore in die Luft sprengte. Mehr
0100noch bedauern wir, daß die Localfarbe des Stoffes so wenig für
0101die Musik und den Tanz verwerthet ist. „Almeen und Bajaderen“
0102finden wir zwar auf dem Theaterzettel, aber von ihren so [2]
0103eigenthümlichen, bedeutsamen Tänzen kaum eine Spur. Herr
0104Desplaces muß wol dergleichen Hindutänze in Paris und
0105London gesehen haben, mit ihrer strengen Symmetrie, ihren
0106monotonen Schwingungen des Oberleibes und der seltsam
0107starren Musik; aus diesen nationalen, von unserer Kunst
0108grundverschiedenen Tänzen waren gerade für dieses Ballet die
0109glücklichsten neuen Motive zu gewinnen. Die Tänze des Herrn
0110Desplaces sind geschmackvoll erfunden, nur mitunter etwas
0111lang und monoton. In dem großen Ballabile des ersten Actes
0112bemerkten wir manchen hübschen Zug: die Art, wie eine, zwei,
0113drei Tänzerinnen sich aus dem Ensemble loslösen und damit
0114wieder verschmelzen, manche glückliche Verflechtung von Solo-
0115und Chortanz, der Effect mit dem Kugelwerfen etc. An
0116Schwung und sinnlicher Lebendigkeit stehen die Tänze hinter
0117jenen von Taglioni, Rota oder Golinelli zurück, wie
0118denn Herr Desplaces nicht nur bezüglich der Handlung,
0119sondern auch des Tanzes mehr zur älteren Schule zurückneigt.
0120Viel größere Wirkung würden die Tänze in „Nena Sahib“
0121machen, hätte der Compositeur seine Aufgabe besser ver-
0122standen. Leider ist die Musik ohne melodiösen Reiz, ohne
0123rhythmische Kraft, ohne jegliche Originalität, ein Lederhaufen
0124zwischen fünf Notenlinien. In den dramatischen Scenen läßt
0125sichʼs der Componist mitunter sauer werden mit biedermänni-
0126schen Contrapunkten und ausdrucksvollen Modulationen; für
0127den eigentlichen Tanz verwendet er meist matte, leblose Themen,
0128von welchen er sich obendrein kaum zu trennen vermag. Wir
0129glauben nicht, daß einer der im ersten Acte so erfolgreich auf-
0130tretenden Jagdhunde an dem besten Knochen länger nagt, als
0131Maestro Panizza an dem magersten Thema.
0132Die Wichtigkeit des musikalischen Theiles im Ballet
0133scheint uns im Allgemeinen jetzt sehr unterschätzt zu werden.
0134Die Hälfte des Erfolges hat der Componist in Händen und
0135nur zu oft die Hälfte des Fiasco auf dem Gewissen. Es ist
0136kein bloßes Paradoxon, daß die Musik im Ballet einen noch
0137wichtigeren Dienst habe, als in der Oper: des Orchester muß
0138hier auch das Wort und den Gesang ersetzen. Wie viel hat
0139nicht die hübsche Musik zu den Erfolgen der „Satanella“ bei-
0140getragen — selbst in „Flick und Flock“ schwimmen zwischen
0141Hummern und Seespinnen einige melodiöse Pflänzchen, welche
0142das Publicum regelmäßig mit sichtbarem Vergnügen bemerkt.
0143Ehemals trugen namhafte Opern-Componisten kein Bedenken,
0144die Tanzpoёme tüchtiger Balletmeister zu illustriren. Wie viele
0145Ballette (um blos von Wien zu sprechen) haben Weigel,
0146Winter, Gyrowetz hier componirt! Heutzutage würden
0147Componisten, welche nicht die Hälfte von dem Talent und
0148Ansehen jener Männer besitzen, gegen solche Zumuthung höch-
0149lich protestiren. Wir haben doch in Deutschland eine Menge
0150kleiner Talente — aber die machen große Opern.
0151Das Ballet fand in einzelnen Scenen und Tänzen leb-
0152haften Beifall, welcher aber stets nach den Actschlüssen mehr
0153ab- als zunahm. Zu Ende des ersten Actes schien das un-
0154schöne, viel zu lange Herumzerren des halbtodten Engländers
0155die Zuschauer zu verstimmen, welche obendrein von der Länge
0156des Ballabile ermüdet waren. Das überwiegend Ernste, schließ-
0157lich Tragische der Handlung traf unser Ballet-Publicum un-
0158vorbereitet, mitunter widerstrebend, es sah den allegorischen
0159Schluß befremdet an. Vielleicht bessert sich dieser Eindruck bei
0160den nächsten Wiederholungen, wie das ja bei manchen Novi-
0161täten vorkommt, besonders wenn sie gut dargestellt sind. „Nena
0162Sahib“ ist zum größten Theile glänzend und geschmackvoll
0163ausgestattet, die malerischen Costüme, Brioschiʼs Walddeco-
0164ration im ersten Acte, das Schlußtableau im zweiten sind
0165sehenswerth. Dazu kommt noch die makellose Exactheit unseres
0166Balletcorps und die ausgezeichnete Durchführung der Solopar-
0167tien. Obenan nennen wir Fräulein Couqui als Sita. Sie tanzte
0168ihren anstrengenden Part nicht blos mit vollendeter Virtuosi-
0169tät, sondern zugleich mit jener ihr eigenen, nie versagenden
0170Grazie, welche erst das Schwierige zum Schönen macht.
0171Die Anmuth, dies Geschenk der Natur, adelt und beseelt bei
0172ihr das erworbene, an sich todte Kapital der Kunstfertigkeit.
0173Das Tanzen der Couqui macht niemals den erkältenden Ein-
0174druck einer blos mechanischen, von der Strömung des Geistes
0175und Gemüthes total isolirten Pedal-Virtuosität. Jede Fiber
0176ihres Körpers, jede Muskel des Gesichtes erzittert mit, die
0177Schönheitslinien ihres Tanzes umweben feinere, individuellere
0178Elemente, als wir bei den meisten Tänzerinnen wahrnehmen,
0179Elemente, die man schwer definiren, vielleicht aber auf gut
0180Helmholzisch als mitklingende „Obertöne“ der Seele auf-
0181fassen kann. Ueber die vollendete technische Meisterschaft dieser
0182Tänzerin sind alle Sachkundigen längst einig, und daß hier
0183von einer ernsthaften „Rivalin“ der Couqui derzeit nicht die
0184Rede sein kann, begreift selbst der Laie. Außer Fräulein Cou-
0185qui war von allen Tänzerinnen nur noch Fräulein Lucas
0186mit einer größeren, selbstständigen Rolle bedacht; sie gab die
0187junge Miss Ophelia. Ihre ganze Erscheinung stimmte vortreff-
0188lich zu dem Charakter des blühenden, unschuldigen Mädchens,
0189das sich vor Nena Sahib nicht viel weniger fürchtet, als vor
0190dem sprungbereiten Tiger. Die graziöse Gewandtheit und Si-
0191cherheit, mit welcher Fräulein Lucas ihre schwierigen Tänze
0192ausführte, verdiente und erfuhr die allgemeinste Anerkennung.
0193Fräulein Lucas wurde mit Beifall überschüttet, auch ein Blu-
0194menstrauß flog ihr zu.
0195Jedenfalls kann die neueste Leistung Fräulein Lucasʼ
0196die Hoffnungen nur bestärken, welche das Publicum auf die
0197künstlerische Zukunft dieses so rasch vorschreitenden jungen
0198Talentes setzt. — Von den übrigen — wie gesagt wenig be-
0199schäftigten Tänzerinnen erhielten die Fräulein Jacksch,
0200Stadelmayer und Wildhack den meisten Applaus. Herr
0201Frappart, ein tüchtiger Mimiker nicht blos im komischen
0202Fach, war als Nena Sahib in Maske und Spiel vortrefflich.
0203Er hatte ganz den durchdringenden Blick des Maharatten und die
0204zwischen anmaßender Straffheit und Nachlässigkeit charakteristisch
0205wechselnde Haltung des Despoten. Auch die kleineren Rollen
0206waren sorgfältig ausgeführt, und so ließ eigentlich Niemand
0207etwas zu wünschen übrig, als — der Erfolg.