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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1192. Wien, Dienstag den 24. December 1867

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Musikalische Novitäten.

(PohlʼsHaydn in London“; JahnʼsMozart“; NottebohmʼsBeethoven-Katalog“; „Biographie und Neue Briefe Beethovenʼs“, von L. Nohl; „Geschichte der Musik“, von A. v. Dommer; Editionen von Bach, Mozart und Beethoven.)


0005Ed. H. Das musikalische Deutschland, derzeit spärlich be-
0006dacht mit productiven Componisten von Bedeutung, zeigt sich
0007desto thätiger auf dem Gebiete musikalischer Geschichtsforschung
0008und Geschichtsschreibung. Namentlich im Fache der Biographie
0009sind, angeregt durch Jahnʼs mustergiltigen „Mozart“, eine
0010Reihe größerer und kleinerer Arbeiten erschienen, welche als
0011wesentliche Bereicherungen der Musikgeschichte anzusehen sind.
0012Dazu gehört die Monographie „Mozart und Haydn in
0013London
“, von C. F. Pohl, dem verdienstvollen Archivar un-
0014serer „Gesellschaft der Musikfreunde“. Was wir vor mehreren
0015Monaten in diesem Blatte zum Lobe des ersten Theiles
0016(Mozart in London) angeführt, gilt in noch höherem Maße
0017von der eben erschienenen zweiten >Abtheilung, welche Haydnʼs 
0018zweimaligen Aufenthalt in der Weltstadt schildert. Die Auf-
0019gabe war hier viel lohnender. Im ersten Theile ist es weniger
0020der Held, der uns geschildert wird, als der Boden, auf dem
0021er sich bewegt. Mozart war nur kurze Zeit und im zartesten
0022Alter in London; das siebenjährige Wunderkind trat zwar in
0023höchst interessante Musikverhältnisse ein, konnte aber natürlich
0024auf dieselben nicht selbst Einfluß nehmen, ja nicht einmal eine
0025bleibende bedeutende Einwirkung davon erfahren. Haydn 
0026hingegen kam nach London als ein „gemachter Mann“,
0027als gefeierter und erfahrener Meister; sein Aufenthalt betrug
0028(beide Besuche zusammengerechnet) an vier Jahre. Die bio-
0029graphische Ausbeute mußte daher viel reichlicher als bei Mozart 
0030ausfallen. Zunächst kam dem Verfasser der von Karajan 
0031veröffentlichte Briefwechsel Haydnʼs mit Frau v. Gentzinger 
0032in Wien sehr zu statten, außerdem aber noch Haydnʼs hand-
0033schriftliches Tagebuch aus dem ersten Londoner Aufenthalt. An
0034der Hand des Verfassers begleiten wir nun den Wiener Meister
0035Tag für Tag, Schritt für Schritt in den Straßen und den
0036Umgebungen der Weltstadt. Wir gehen mit ihm zu Hofe und
0037ins Concert, besuchen mit ihm die Notabilitäten der englischen 
0038Musikwelt und deutsche Freunde wie Gryowetz und Pleyel.
0039Ueberall sehen wir Haydn durch seine liebenswürdige Be-
0040scheidenheit und Einfachheit alle Gemüther gewinnen, die In-
0041triguen der Gegner entwaffnen, ja sogar das Herz einer be-
0042jahrten Witwe, Mrs. Schröter, zu schüchterner Liebe für den
0043sechzigjährigen Mann entflammen. Er hatte seine Anbeter
0044unter dem höchsten Adel wie unter den Gewerbsleuten. Ist es
0045nicht von rührender Gemüthlichkeit, wenn der reiche Strumpf-
0046wirker Gardiner Haydn, neun Jahre nach dessen Auf-
0047enthalt in England, ein Dankschreiben sammt einem
0048Geschenk von sechs Paar wollenen Strümpfen sendet, in
0049welche sechs Themas aus Haydnʼschen Compositionen ein-
0050gewirkt sind, darunter das Volkslied „Gott erhalte etc.“?
0051Haydn hat auf das Musikleben in England einen bleibenden
0052Einfluß geübt. Umgekehrt hat aber auch er von den großartigen
0053Verhältnissen Londons, von der Hochfluth des englischen Lebens
0054und Verkehrs einen merkwürdigen, folgenreichen Eindruck
0055empfangen. Haydn stand zwar schon vor seiner englischen
0056Reise hoch in der allgemeinen Anerkennung, aber die politischen
0057und geselligen Verhältnisse, in denen der fürstlich Eszterhazyʼsche
0058Capellmeister sich bisher bewegt hatte, waren eng und unfrei.
0059London hob seine Kraft, sein Selbstbewußtsein; er erklomm
0060jetzt erst den höchsten Gipfel seiner Leistungsfähigkeit, schrieb
0061seine glänzendsten Symphonien und seine beiden Meisterwerke
0062Schöpfung“ und „Jahreszeiten“. Bei der epochemachenden
0063Wichtigkeit dieses Londoner Aufenthaltes für Haydnʼs Leben
0064erscheint die Ausführlichkeit und Genauigkeit der Pohlʼschen
0065Mittheilungen sehr dankenswerth. Mit unermüdlichem Fleiß
0066hat Pohl in London alle Geschichtsbücher, Memoiren, Zeitun-
0067gen und Programme durchforscht, welche irgend einen Aufschluß
0068bieten konnten. Allerdings hat es dem Verfasser unverkennbare
0069Mühe gekostet, dies massenhafte Material, diese Fülle von
0070Thatsachen und Berichtigungen übersichtlich zu gruppiren.
0071Es war ihm auch gar nicht darum zu thun, ein Unter-
0072haltungsbuch zu schreiben, sondern den objectiven Thatbestand
0073in einer gewissen Periode durch quellenmäßige Forschung fest-
0074zustellen. Dies ist so vollständig gelungen, daß sämmtliche
0075musikalische Fachblätter in dem Lobe des Pohlʼschen Werkes
0076geradezu einhellig sind. Pohlʼs Forschungen haben hie und da 
0077schon Früchte getragen. „Wir sind über den Aufenthalt Mo-
0078zartʼs
in London nicht genauer unterrichtet,“ hieß es in der
0079ersten Auflage von JahnʼsMozart“; die zweite Auflage be-
0080nützt bereits Pohlʼs Erzählung. Auf diese „zweite, durch-
0081aus umgearbeitete Auflage
“ des Jahnʼschen Buches
0082— sie erschien soeben bei Breitkopf und Härtel in Leipzig —
0083möchten wir unsere Leser recht dringend aufmerksam machen.
0084Ueber die Vortrefflichkeit der Jahnʼschen Mozart-Biographie 
0085brauchen wir kein Wort mehr zu verlieren, Jedermann kennt
0086ihren Werth wie ihren tiefgreifenden Erfolg. Aber welche Ar-
0087beit der Verfasser daran gesetzt hat und mit welch glücklichem
0088Gelingen, sein Werk noch vollkommener und nützlicher zu ma-
0089chen, das muß hervorgehoben werden. Zuerst war es der große
0090Umfang dieser vier Bände starken Biographie, welche nach-
0091träglich des Verfassers Bedenken erregte, sodann die Masse des
0092in den Anmerkungen vorgeführten gelehrten Materials. Jahn 
0093entschloß sich zu der für einen Autor gewiß heroischen That,
0094das Buch in der zweiten Auflage auf zwei Bände zu redu-
0095ciren. Er nahm Kürzungen vor, wo es nur möglich war
0096(insbesondere in der Analyse der Jugendwerke Mozartʼs), und
0097warf den größten Theil der gelehrten Anmerkungen über Bord.
0098Während in der ersten Auflage thatsächlich der Text auf den
0099Noten schwamm, findet der Leser gegenwärtig unter einem
0100gleichartig fortlaufenden Texte nur kurze literarische Nachwei-
0101sungen für den, der controliren oder weiter forschen will. Der
0102Musikhistoriker erblickte allerdings in jenen Anmerkungen einen
0103wahren Schatz, und wir bekennen, daß die erste Auf-
0104lage ihren alten hohen Werth für uns behält. Die alte Auf-
0105lage ist nicht überflüssig, aber die neue ist unentbehrlich ge-
0106worden. Wie sehr hat Jahn sein Material bereichert, seine
0107Studien vertieft! Die gesammte Correspondenz zwischen Mo-
0108zart und seinem Vater lag diesmal vor, sämmtliche Compo-
0109sitionen Mozartʼs standen zum erstenmale vollständig zu Ge-
0110bote. Das inzwischen von Köchel herausgegebene „Thematische
0111Verzeichniß“ leistete wesentliche Dienste und erlaubte das Weg-
0112lassen vieler jetzt unnöthig gewordenen Aufzählungen und Unter-
0113suchungen. Auch über Mozartʼs persönliche Verhältnisse erfah-
0114ren wir manches Neue, z. B. über seine Beziehungen zu Sa-
0115lieri
, zu Hummel etc. So hat denn Jahn zugleich den [2]
0116Stoff seines Buches bereichert und die Darstellung gekürzt;
0117eine Operation, die schwieriger ist, als die Mehrzahl der Leser
0118ahnen dürfte. Wie viel leichter und angenehmer sich jedoch die
0119zweite Auflage des „Mozart“ liest, darüber wird das
0120ganze Publicum einig sein, und so hat denn diese
0121Neugestalt des trefflichen Werkes eine noch größere
0122Verbreitung und Einwirkung zu erwarten als bisher.


0123Neben Haydn und Mozart ist in diesem Jahre auch
0124Beethoven nicht leer ausgegangen. Dr. L. Nohl hat den
0125zweiten Band der „Biographie“ und eine neue Sammlung 
0126von Briefen Beethovenʼs herausgegeben. Ferdinand Hiller*) 
0129nennt die erste, vor zwei Jahren erschienene Briefsammlung 
0130Beethovenʼs mit Recht „eine wahre Blumenlese von Misèren,
0131welche man mit einem moralischen Katzenjammer aus der Hand
0132legen müßte, wenn Einem beim Lesen nicht die unsterblichen
0133Symphonien und Sonaten des Meisters durch den Kopf zö-
0134gen“. Was würde er erst von den bei Cotta erschienenen
0135Neuen Briefen Beethovenʼs“ sagen? Der günstige Erfolg
0136jener ersten Sammlung, die neben Unbedeutendem jedenfalls
0137auch Erhebliches und Interessantes brachte, hat Herrn Nohl 
0138angespornt, das abgemähte Feld rasch noch einmal abzugehen
0139und „zwischen den Garben“ zu suchen. Er suchte und fand
0140in der That — eine Masse Spreu und Unkraut. Nehmen wir
0141die (ursprünglich von Köchel publicirten, jetzt von Nohl ein-
0142verleibten) Briefe an den Erzherzog Rudolph aus, und etwa
0143ein Halbdutzend anderer interessanterer Schreiben, so empfan-
0144gen wir in diesen „322 Neuen Briefen“ nur Eindrücke des Un-
0145bedeutenden, wo nicht Abstoßenden. Was sollen uns all die klei-
0146nen Zettel von zwei bis drei Zeilen, welche nichts enthalten
0147als: „Kommen Sie morgen Nachmittags zu mir“, oder:
0148„Schicken Sie mir die Quartette zurück“, oder: „Ich bin un-
0149päßlich und kann nicht kommen“? Was sollen uns ferner die
0150zahllosen Hauswirthschaftsbriefe (sie bilden den größten
0151Theil der Sammlung), welche von nichts Anderem
0152handeln, als von Dienstbotenwechsel, Wohnungs-Calami-
0153täten, von kleinen Geld- und Geschäftsaufträgen, von Hem-
0154den, Speisen und Arzneien? Wird uns Beethoven als Künstler
0155größer, als Mensch liebenswerther erscheinen, wenn wir all
0156die zornigen Schimpfwörter über seine Schwägerin, seinen
0157Bruder, seine Dienstboten und über einzelne ihm näherstehende
0158Bekannte lesen, deren Diensteifer er doch fortwährend in An-
0159spruch nimmt? Müssen wir es wörtlich durchmachen, das
0160Verhandeln mit der Köchin, das Mäkeln mit den Verlegern,
0161das Andediciren großer Herren? Auch der Respect vor Beet-
0162hovenʼs demokratischem Stolz wird durch diese neue Brief-
0163sammlung ebensowenig erhöht, wie durch die erste, welche, nach
0164F. Hillerʼs Bemerkung, vollauf beweist, „daß Beethoven sich
0165den Großen der Erde gegenüber ebenso benahm, wie andere
0166Erdenkinder, die etwas von ihnen wollen“. Briefe, die an
0167und für sich nicht den geringsten substantiellen Gehalt haben,
0168soll man doch wol nur veröffentlichen, wenn das Bild des
0169Schreibenden uns dadurch klarer, bedeutender, schöner wird.
0170Ist es Pietät oder deren Gegentheil, wenn man Genies
0171wie Beethoven, zum Dank für all das Große, was sie uns
0172gespendet, in ihren kleinlichsten Bedrängnissen und Bekennt-
0173nissen für die Nachwelt bloßlegt? Die Verwerthung jedes Papier-
0174schnitzels verzeihen wir dem Autographensammler, nicht dem
0175Schriftsteller. Das ist die pure Industrie im Gewand der
0176Pietät, die uns obendrein weißmachen will, daß solche kopf- 
0177und herzlose Publicationen nothwendig seien, „um die wahre
0178Idealität, die wahre sittliche Größe“ des Helden zu verstehen.


0179Ganz anderen Geist athmet eine neue Beethoven-Publi-
0180cation, die wir unserem bewährten Geschichtsforscher G. Notte-
0181bohm
verdanken: die zweite Ausgabe des „Thematischen
0182Katalogs
“ von Beethovenʼs Compositionen. Sie unterscheidet
0183sich von dem im Jahre 1851 (gleichfalls bei Breitkopf und
0184Härtel) erschienenen Verzeichnisse hauptsächlich durch die beige-
0185fügten Anmerkungen, welche in gedrängtester Kürze die Zeit
0186der Composition, der Veröffentlichung und ersten Aufführung
0187der Werke angeben und die vorhandenen Manuscripte, Original-
0188Ausgaben und Bearbeitungen namhaft machen. Ein chrono-
0189logisches Register und ein Verzeichniß aller Dedicationen
0190Beethovenʼscher Werke ist beigefügt. In diesen Anmerkungen 
0191steckt ein Maß von Mühe und Studium, von dem der Laie
0192sich kaum eine Vorstellung macht. Die Persönlichkeit des Ar-
0193beiters bleibt natürlich hinter der Arbeit selbst gänzlich ver-
0194steckt; wer aber letztere auf ihre Vollständigkeit und Gewissen-
0195haftigkeit prüft, der erkennt unschwer die ganze Tüchtigkeit der
0196ersteren.


0197Der rechte Mann, eine Beethoven-Biographie zu schrei-
0198ben, ein Seitenstück zu JahnʼsMozart“, ist ohne Zweifel
0199kein Anderer, als wieder Jahn. Seit Jahren arbeitet er
0200wirklich an dieser Aufgabe, und die musikalische Welt sieht der
0201hoffentlich bald gereiften Frucht mit Begierde entgegen. Dr.
0202Nohl ist zwar Jahnʼs „Beethoven“ zuvorgekommen, aber er
0203scheint diesen nicht nur nicht überflüssig, sondern erst recht
0204nothwendig zu machen. Die ersten Schriften, mit denen
0205Nohl in die Musik-Literatur eintrat, zeigten gerade hinrei-
0206chendes Talent und Streben, hatten gerade genug von des Ver-
0207fassers persönlicher Liebenswürdigkeit an sich, um ein nachsich-
0208tig aufmunterndes Verhalten der Kritik zu rechtfertigen. Seit
0209einiger Zeit hat aber Nohlʼs athemlose Schreiberei Dimen-
0210sionen und Tendenzen angenommen, die selbst einer milden
0211Kritik die Pflicht ausdrücklichen Protestirens auflegen. Wie
0212schon in seinem „Skizzenbuch“, so scheint Nohl auch in seinem
0213Beethoven“ den großen Meister hauptsächlich zur verschämten
0214(oder auch unverschämten) Glorification Richard Wagnerʼs 
0215zu benützen. In dem kürzlich erschienenen zweiten Bande der
0216Beethoven-Biographie weist Nohl dem „Fidelio“ („der nur
0217an einzelnen hervorragenden, besonders drastischen Stellen über
0218Cherubini und dessen Nachfolger weit hinauskam“) einen sehr
0219bescheidenen Platz an, rühmt ihm aber das Verdienst einer
0220Anregung nach, „welche erst heute in Richard Wagnerʼs 
0221Schöpfungen, zumal in „Tristan und Isolde“, eine Vollen-
0222dung fand, von welcher sich weder Cherubini noch selbst
0223Beethoven in ihren dramatischen Werken etwas träumen ließen,
0224sondern gegen die sich Beide nur wie allerdings mächtige Pro-
0225pheten des alten Bundes verhalten“. Dies zur Charakteristik
0226von Nohlʼs ästhetischem Urtheil. Von seinem Beruf zum Hi-
0227storiker geben wir statt jedes eigenen Urtheils nur ein kleines
0228allerliebstes Factum. In seinem ersten Bande fand Nohl „mit [3]
0229Bestimmtheit anzunehmen“, daß der 22jährige Beethoven auf
0230seiner Reise nach Wien (1792) in Mainz abstieg und ver-
0231weilte. War Beethoven damals in Mainz, folgert Nohl wei-
0232ter, so hat er ohne Zweifel von den französischen Soldaten
0233daselbst die Marseillaise singen hören. Und nun wird mit
0234lyrischem Schwung ausgemalt, welchen übermächtigen, bleiben-
0235den Eindruck dieser Gesang auf den jungen Beethoven gemacht
0236habe. Man müsse, phantasirt Nohl weiter, aus der „Eroica“
0237und anderen Werken des Meisters die Einwirkung dieses
0238Päans der Revolution“ heraushören, den zu vernehmen er
0239später nie wieder Gelegenheit bekam. Nun finden wir in
0240Nohlʼs zweitem Band, auf Seite 458, schüchtern unter den
0241Anmerkungen versteckt die Mittheilung, daß Beethoven damals
0242eine ganz andere Reiseroute nach Wien genommen und Mainz 
0243gar nicht gesehen habe! Also keine singenden Franzosen, keine
0244Marseillaise, kein tiefer Eindruck, keine „Eroica“ — das ganze
0245kindisch aufgethürmte Kartenhaus fällt über den Haufen.


0246Ein tüchtiges Handbuch der Musikgeschichte gehört unstrei-
0247tig zu den Bedürfnissen des musikliebenden Publicums, das
0248sich entweder mit schwerverständlichen gelehrten Werken plagen
0249oder mit oberflächlichen, phrasenreichen Surrogaten behelfen
0250muss.**)  Historische Gründlichkeit mit populärer Darstellung
0265(soweit diese in der Musik überhaupt möglich) zu vereinigen, 
0266ist die Aufgabe, die Arrey v. Dommer in seinem „Hand-
0267buch der Musikgeschichte“ (Leipzig 1868) sich gestellt hat. Von
0268allen uns bekannten Bearbeitungen ist die Dommerʼsche die-
0269sem Ziele am nächsten gekommen. Der Verfasser genießt als
0270gewissenhafter und kenntnißreicher Schriftsteller eines begrün-
0271deten Rufes; sein Buch trägt überall den Stempel tüchtiger
0272Forschung und reifen, unbefangenen Urtheils. Er läßt sich nur
0273auf Dinge ein, die wirklich untersucht sind, und unterscheidet
0274strenge, ob das, was er eben vorträgt, gewiß, ob es nur
0275wahrscheinlich, oder ob es blos möglich ist. Dommerʼs 
0276Darstellung ist schlicht und sachgemäß, vielleicht mitunter etwas
0277trocken, aber frei von Phrasen und Parteitendenz. Die ältere
0278Geschichte ist in 16 Capiteln mit möglichster Ausführlichkeit
0279behandelt, die neuere, von Bach und Händel bis zu Beethovenʼs
0280Tod, in drei Capiteln und gedrängter. Auf Einzelheiten
0281einzugehen ist hier nicht der Ort, auch konnten wir das eben
0282erst erschienene Buch bisher nur flüchtig durchgehen. Da fiel
0283uns aber gleich anfangs die vorurtheilsfreie, alle philologischen
0284Träumereien abweisende Beurtheilung des griechischen Musik-
0285wesens angenehm auf, desgleichen die klare Darstellung der
0286ersten contrapunktischen Versuche (wobei mit Recht Oskar
0287Paulʼs
neue Auslegung des Hucbaldʼschen Organons verwor-
0288fen wird), die Charakteristik Palestrinaʼs, die volle Würdi-
0289gung des genialen Alessandro Scarlatti etc. Die späteren
0290italienischen Opern-Componisten hätten wir gern ausführlicher
0291und schärfer charakterisirt gesehen.***)  Den musikalischen 
0310Werth und Segen des protestantischen Chorals scheint uns
0311Dommer, gleich den meisten protestantischen Schriftstellern, zu
0312hoch zu schätzen. Hingegen bemerkten wir mit Vergnügen, wie
0313Dommer, der Freund und Mitarbeiter des Händel-Biographen
0314Chrysander, keineswegs Händel auf Kosten Bachʼs erhebt,
0315sondern über beide Meister mit gleicher Liebe und Unbefangen-
0316heit urtheilt. Sei denn das Buch nochmals aufs wärmste
0317empfohlen. Ueber Einzelheiten der Darstellung und des Ur-
0318theils wird man streiten können, über die Tüchtigkeit des
0319Ganzen gewiß nicht.


0320Gestatte uns der Leser zum Schlusse noch einen kurzen
0321Abstecher von den Büchern über Musik zur Musik selbst. Zwei
0322neue Ausgaben classischer Tonwerke sind es, die in neuester
0323Zeit sich großen Erfolg errangen und verdienen. Wer nach
0324einer correcten, vollständigen und sehr billigen Ausgabe der
0325Clavier-, Violin- oder Orgel-Compositionen Seb. Bachʼs 
0326fahndet, wird deren neue Publication durch C. F. Peters in
0327Leipzig mit Freuden begrüßen. Die Freunde vierhändigen Cla-
0328vierspiels hingegen können die Clavier- und Violin-Concerte
0329von Mozart und Beethoven kaum besser arrangirt und
0330eleganter ausgestattet finden, als in der neuen Ausgabe von
0331Leuckart in Breslau. Unser Fingerzeig dürfte a tempo
0332kommen, denn eben jetzt, wo Joachim und Rubinstein 
0333mit Concerten von Mozart und Beethoven, mit Bachʼschen
0334Suiten und Sonaten hier ihre größten Triumphe feierten,
0335wird der Sinn vieler Concertbesucher sich nach dem Besitz
0336dieser Tondichtungen und ihr Schritt nach den Musikhandlun-
0337gen wenden. Groß ist die Macht des Beispiels — wenn es
0338von Virtuosen kommt.

Fußnoten
  • *)In seiner höchst anziehenden Sammlung von Aufsätzen „Aus
    dem Tonleben unserer Zeit“, auf die wir ein andermal zurückkommen.
  • **)Mitunter wäre eine verläßliche Musikgeschichte auch manchen
    Schriftstellern nützlich, deren Leichtfertigkeit gerade bei musikalischen
    Themen am stärksten explodiert. So fiel uns jüngst eine Nummer der
    beliebten „Gartenlaube“ in die Hand, worin (Seite 776) eine längere
    biographische Skizze Wenzel Müllerʼs in novellistsichem Gewande
    unter dem Titel „Das Donauweibchen in Prag“ erscheint. Wenzel
    Müller, die Sängerin Grünbaum, C. M. Weber, kurz alle
    Musik-Notabilitäten des damaligen Prag sind die handelnden Perso-
    nen. Die ganze Erzählung gruppirt sich darum, dass W. Müller „sein“
    Donauweibchen in Prag aufführen sieht, von diesem „seinen“ Lieb-
    lings-Melodien sehr gerührt wird (es werden eine Menge Stellen dar-
    aus citirt) u.s.w. Alles Mögliche weiß der Verfasser der Skizze, mit
    Ausnahme der einen Kleinigkeit, dass das berühmte „Donauweibchen“
    gar nicht von Wenzel Müller, sondern von Ferdinand Kauer ist.
  • ***)Mit den Opern-Partituren der älteren Italiener und Franzosen
    scheint der Verfasser sich selbst weniger beschäftigt zu haben, er wie-
    derholt fast nur die Urteile Anderer. Dadurch kommt z. B. Per-
    golese
    entschieden zu kurz, dessen „Serva Padrona“ geradezu die
    Mutter der gesammten späteren Opera buffa ist. Bei Stradella 
    vermuthet der Verfasser richtig, dass die ihm zugeschriebene Kirchen-Arie
    Se i miei sospiri „einer etwas späteren Zeit angehören dürfte“.
    In der That liegt hier eine absichtliche Fälschung vor, deren Fabri-
    cationsort Paris ist und die hoffentlich bald ihre vollständige Beleuch-
    tung finden wird. Der zweiten, wiederholt aufgelegten „Kirchen-Arie 
    Stradellaʼs“ (dem Wiener Publicum durch Concertvorträge Auberʼs 
    und Dr. Schmidʼs bekannt) erwähnt Dommer nicht. Sie ist ebenso-
    wenig von Stradella und beruht auf einer Mystification, die ich
    jüngst zufällig entdeckte. Ich fand nämlich diese angebliche Kirchen-Arie 
    in Gluckʼs wenig bekannter Oper „Paris und Helena“ in der-
    selben Tonart (G-moll), mit demselben Texte: „O del mio dolce
    ardor“, Note für Note wieder. Paris singt sie zu Anfang des
    ersten Actes.