Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1281. Wien, Dienstag den 24. März 1868
[1]Musik.
(Hofoperntheater. Concerte.)
0003Ed. H. Der berühmte französische Gesangskünstler Garat
0004behauptete einmal, man könne die Kunst eines Sängers nicht
0005richtig beurtheilen, bevor man ihn nicht in einem Krankenzim-
0006mer singen gehört, ohne daß der Patient dabei erwacht ist.
0007Wollte man gleich jenem Meister einer sanfteren Gesangs-
0008epoche heutzutage auf solchen Proben bestehen, man käme über
0009wenig Opernhelden, am wenigsten über Herrn Emil Scaria
0010ins Klare. Dieser athletische junge Bassist, ein echter Sohn
0011der Steiermark, dürfte seine Kunst kaum vor dem Schwarzen-
0012berg-Monument entfalten, ohne daß die tapferen Schläfer der
0013Heumarktkaserne von ihren Pritschen aufspringen. Denn löwen-
0014artig ist seine Stimme und noch wenig gezähmt. Kein Zwei-
0015fel, daß aus einer so bedeutenden materiellen Kraft durch an-
0016haltendes Bilden sich auch eine wahrhaft künstlerische gewinnen
0017ließe und hoffentlich noch gewonnen wird. Zunächst müßte das
0018eifrigste Studium des Sängers dahin gehen, die manchmal un-
0019schöne, sprachrohrartige Tonbildung (die z. B. den Vocal a
0020wie o erklingen macht) zu veredeln und den massiven Klang-
0021körper beweglicher, geschmeidiger zu machen. Die nur mäßig
0022ausgestattete Tiefe (g, f) wird kaum mehr an Kraft, aber sie
0023kann doch an Festigkeit gewinnen. Die Arbeit würde sich loh-
0024nen, denn Herrn Scaria fehlt es weder an Intelligenz noch
0025an speciell dramatischem Talente. Sein Marcell frappirte
0026durch manche Einzelheiten, die wir an dieser völlig stereotyp
0027gewordenen Rolle zum erstenmale bemerkten, die somit auf
0028Eigenes hindeuten. Herr Scaria nahm den Marcell jünger
0029und lebhafter, als er gewöhnlich dargestellt und wol auch vom
0030Dichter beabsichtigt ist; eine Freiheit, gegen die wir nicht das
0031Mindeste einwenden, solange sie sich in künstlerischen Grenzen
0032hält und nicht zur ungeberdigsten Maßlosigkeit ausartet. Die-
0033ser Marcell schien sich aber im Vortrag den 50 Männer über-
0034schreienden homerischen Stabsofficier Stentor und in der
0035Action den hundertarmigen Riesen Briareus zum Vorbild
0036genommen zu haben. Die Wirkung konnte natürlich keine künst-
0037lerische sein, wenn sie auch häufig materiell einschlug. Einem
0038so gewaltig aufgebauten jungen Manne wie Herr Scaria ver-
0039zeiht man gerne einige Ueberkraft, aber schade wäre es doch,
0040sein Schaden zunächst, wenn er lange zögerte, ein schweres
0041künstlerisches Gegengewicht in die andere Wagschale zu legen.
0042Als eigentliches Fach Herrn Scaria’s werden uns Buffo-Par-
0043tien genannt, und wirklich gibt die Lebhaftigkeit und strotzende
0044Fülle seines Vortrages (dazu seine deutliche Aussprache) manch
0045gute Vorbedeutung dafür. Im Interesse dieses langverwaisten
0046komischen Faches konnte auch das Versuchsgastspiel des
0047Herrn Scaria hier einen Sinn haben, den es neben unserem ernsten
0048vierblätterigen Baßkleeblatt (Schmid, Draxler, Mayerho-
0049fer, Rokitansky) derzeit nicht hat. Leider sind wir durch jahre-
0050lange, consequente Zurücksetzung des musikalischen Lustspiels in
0051Wien dahin gekommen, daß wir schlechtweg keine komische Oper
0052mehr haben. Das k. k. Hofoperntheater in Wien ist wahr-
0053scheinlich die einzige Bühne in Deutschland, die den „Czar und
0054Zimmermann“ nicht zu geben vermag. Weder diese noch eine
0055der anderen zahlreichen Buffo-Opern, in welchen Herr Sca-
0056ria den Dresdenern gefällt, könnte ihm hier zur Verfügung
0057gestellt werden. Das ist eine bedenkliche, große Lücke. Möge
0058die Direction bald von diesem Ufer aus Rettungsboote senden,
0059ehe wir in den tragischen Wellen der fünfactigen Opern gänz-
0060lich versinken.
0061Gleichzeitig mit Herrn Scaria’s Donnerschlägen er-
0062tönte am 17. d. M. das melodische Stimmchen des Fräuleins
0063Magnus. Ausgerüstet mit einem genauen Chronometer,
0064schnellen Beinen und äußerster Gewissenhaftigkeit, vermochte ein
0065frommer Musikkritiker sich seinen Abend zwischen der Kärntner-
0066straße und den Tuchlauben allenfalls einzutheilen. Im Musik-
0067vereinssaal lehrte ihn jedenfalls die Vergleichung, daß der Geist
0068der Poesie (wie Jehova’s in der Bibel) sich eher im Säuseln
0069des Lüftchens offenbare, als im dröhnenden Sturm. Fräulein
0070Helene Magnus, deren feinen, verständnißinnigen Liedervor-
0071trag zu rühmen wir schon oft Gelegenheit hatten, feierte auch
0072an diesem Abend einen festlichen Erfolg. Sie darf denselben
0073um so höher anschlagen, als ihr Programm eigenthümliche
0074Schwierigkeiten darbot. Die ganze „Dichterliebe“ von Robert
0075Schumann durchzusingen, ist ein verlockendes Experiment; es
0076war ein gelungenes, wie die Aufnahme zeigte, dennoch möchten
0077wir es nicht gerade gutheißen. Eigenartig, fein und geist-
0078voll, wie sie ist, weht die Musik dieses Liederkreises doch in
0079einem zu dämmerigen, gebrochenen Lichte, um nicht als Ganzes
0080schließlich etwas abzustumpfen. Keine Nothwendigkeit, nicht
0081einmal eine starke innere Nöthigung zwingt uns aber, diese
008215 Lieder als ein Ganzes aufzufassen und vorzutragen. Sie
0083hängen nicht durch den Faden erzählenden oder psychologischen
0084Fortschreitens fest aneinander, wie die „Schöne Müllerin“ oder
0085„Die Winterreise“ von Schubert, „Frauenliebe und -Leben“
0086von Schumann, Cyklen, die schon vom Dichter als ein Gan-
0087zes, eine Einheit concipirt waren. Heine hat an einen an-
0088geblichen Cyklus „Dichterliebe“ nicht gedacht; was Schu-
0089mann so nennt, ist eine von ihm beliebig getroffene Aus-
0090wahl aus dem „Buch der Lieder“, welcher er den Gesammt-
0091titel „Dichterliebe“ gab, wie einer ähnlichen Liedersammlung
0092(op. 25) den Namen „Myrthen“. Zwischen den einzelnen
0093Liedern der „Dichterliebe“ herrscht ein nothwendiger Zusam-
0094menhang weder poetisch noch musikalisch, wie denn der Com-
0095ponist zwar manchmal zwei aufeinanderfolgende Lieder durch
0096verwandte Tonarten einander nähert, aber noch öfter durch
0097ganz entfernte sie von einander trennt (z. B. gleich anfangs
0098Nr. 2 und 3, 4 und 5, 5 und 6 u. s. w.). Lyrische Cyklen
0099wie die „Müllerlieder“, welche den doppelten Vortheil eines
0100strengeren Zusammenhangs und einer reicheren musikalischen
0101Abwechslung besitzen, bilden trotzdem schon für zusammen-
0102hängende Recitation eine schwierige Aufgabe. Sie vollständig
0103zu lösen, wird nicht jedem trefflichen Liedersänger gelingen,
0104sondern nur den wenigen daraus, die, wie Stockhausen,
0105über einen reicheren Wechsel von Stimmungs- und Ausdrucks-
0106schattirungen verfügen. Fräulein Magnus hat einige sehr
0107ausdrucksvolle, überzeugende Farben auf ihrer Palette, aber
0108sie hat deren nur eine sehr kleine Zahl. Da wird die Ge[2]-
0109fahr des Cyklussingens schon größer. Nun kam aber noch
0110dazu, daß Fräulein Magnus nach den 13 „Dichter-Liebes-
0111liedern“ noch drei andere Lieder, abermals von Schumann,
0112sang und dazwischen Herr Brüll (der talentvolle „kleine Ig-
0113naz Brüll“ von ehedem, jetzt eine Art Ignatius Magnus)
0114Clavierstücke, ebenfalls von Schumann, vortrug. Das ist
0115etwas zu viel des Guten und sei es selbst vom Besten. Wir
0116haben Fräulein Magnus schon beglückwünscht, daß ihr Vor-
0117trag derlei grämliche Bedenken im Publicum gar nicht auf-
0118kommen ließ.
0119Schreiten wir weiter in dem dichten, vor Bäumen kaum
0120mehr sichtbaren Musikwald der letzten Woche. Von concerti-
0121renden Virtuosen sind vornehmlich Herr Davidoff und Fräu-
0122lein Mehlig zu nennen. Herr Davidoff errang in seinem
0123eigenen Concert am 21. d. einen viel entschiedeneren und nach-
0124haltigeren Erfolg als jüngst im Redoutensaale, wo eine leichte
0125Befangenheit oder Indisposition ihn vielleicht in der vollen
0126Entfaltung seiner Kunst beeinträchtigt hat. Im Musikvereins-
0127saale entlockte er seinem herrlichen Stradivari-Violoncell (einer
0128kostbaren Seltenheit) wahre Silbertöne und ließ das Licht sei-
0129ner eminenten Virtuosität in allen Strahlenbrechungen glän-
0130zen. — Die Pianistin Fräulein Anna Mehlig gab ihr erstes
0131(zugleich letztes) eigenes Concert vor einer ziemlich zahlreichen
0132Versammlung, die mit Beifall nicht kargte, obwol sie von kei-
0133nem der Vorträge Fräulein Mehlig’s besonders erwärmt schien.
0134Die Künstlerin konnte durch diese Production die Achtung nur
0135befestigen, welche Publicum und Kritik ihr ob der Correctheit,
0136Sicherheit und Eleganz ihrer Technik bereits reichlich gezollt
0137haben. Einen bedeutenden Eindruck hat sie auch diesmal nicht
0138hervorgebracht. Selbst vom einseitig virtuosen Standpunkte
0139vermissen wir an der Bravour Fräulein Mehlig’s jenen
0140freien, kühnen Wurf, jene Siegesfreude an technischen Aben-
0141teuern, welche die Poesie des Virtuosenthums bilden und uns
0142momentan für ein tieferes Gefühlsleben entschädigen mögen. Wir
0143erinnern (um bei den Starken des schwachen Geschlechtes zu
0144bleiben) an Mary Krebs, welche in dieser Richtung weit über
0145Fräulein Mehlig hinausflog. Der tiefere Zauber, welcher, fesselnd
0146und entfesselnd, die Schleusen unseres Herzens in der Hand hält,
0147der ist Fräulein Mehlig vollends versagt. Die kleinen
0148poetischen Stücke von Chopin und Schumann (die Concert-
0149geberin spielte sie wie alles Andere aus dem Notenheft, was
0150den Eindruck des Unfreien noch ein klein wenig verstärkt) ent-
0151ließen den Hörer nüchtern und nur der sauberen Ausführung
0152gedenkend. Am besten gelang Fräulein Mehlig das ihrem Na-
0153turell wahrscheinlich verwandtere C-moll-Trio von Men-
0154delssohn, welches sie sehr hübsch spielte, ohne uns trotzdem
0155für das stark ausgekühlte Stück neu interessiren zu können.
0156Ein sehr zahlreiches Auditorium fand sich zu dem „Histo-
0157rischen Concert“ ein, das der Redacteur der „Blätter für
0158Musik“, Herr Zellner, veranstaltet hatte und von namhaf-
0159ten Künstlern des Operntheaters, des Conservatoriums etc.
0160ausführen ließ. Das Programm hatte hauptsächlich eine musi-
0161kalische Illustration des deutschen Minne- und Mei-
0162stergesanges zum Gegenstande. Die zarte, ritterliche
0163Poesie der Minnesänger im 12. und 13. Jahrhundert,
0164die derbere, aber noch immer gemüthvolle, anheimelnde
0165Reimkunst der Meistersänger üben als literarische Schlagworte
0166einen eigenthümlichen Zauber, den der Uneingeweihte nur zu
0167gern auch auf die musikalische Seite dieser Leistungen
0168hinüberträumt. Diese Illusion schwindet kläglich bei halbwegs nähe-
0169rer Bekanntschaft. Der niedrige, sehr unentwickelte Zustand der
0170deutschen Musik im 12. und 13. Jahrhundert überhaupt
0171erklärt schon von vornherein, daß die Musik zu den Minne-
0172liedern nicht entfernt auf der Höhe der Poesie stehen konnte.
0173Die Musik hatte dabei gar keine selbstständige Bedeutung,
0174sondern nur den untergeordneten Dienst, dem Metrum und
0175den Accenten des Gedichtes sich genau anzuschließen, mehr
0176eine gesteigerte Recitation als wirklicher Gesang in unserem
0177Sinne. Von musikalischen Aufzeichnungen der Minnesänger
0178ist sehr wenig auf uns gekommen. Nachdem sich die Dichtun-
0179gen der Minnesänger lange nur durch Tradition fortge-
0180pflanzt, das Schreiben erst mit dem Verfalle der höfischen
0181Kunst dafür in Gebrauch kam, und selbst Dichter wie
0182Wolfram von Eschenbach nicht schreiben konnten, ist es be-
0183greiflich, wie äußerst selten erst die Kunst der musikali-
0184schen Zeichenschrift unter den Minnesängern war.
0185Man braucht blos die Abhandlung „über die Musik
0186der Minnesänger“ im vierten Bande des großen Ha-
0187gen’schen Werkes zu lesen, um sich klar zu werden,
0188wie unvollständig, zweifelhaft und willkürlichster Deutung unter-
0189worfen selbst das Wenige sei, was von den Melodien der
0190Minnesänger bis auf uns gekommen. Ein erheblicher Verlust
0191für den Historiker, nicht für den praktischen Musikfreund. Der
0192Versuch von Stade und Lilienkron (Weimar 1854), Me-
0193lodien der Minnesänger wieder ins Leben einzuführen, zeigt
0194am deutlichsten, daß sie unlebensfähig sind. Denn obwol die
0195Herausgeber die alten Melodien sehr frei gedeutet und redigirt
0196(wie dies bei dem Mangel an Pausen, an Tactstrichen etc.
0197nicht zu vermeiden), obwol sie dieselben ganz modern vierstim-
0198mig für Männerchor harmonisirt haben, so starren uns doch
0199diese Lieder in ihrer geistlosen Gleichförmigkeit, ihrem trost-
0200losen Mangel an Ausdruck und rhythmischem Leben so mumien-
0201haft an, daß wir sie bald auf Nimmerwiedersehen aus der
0202Hand legen. Man darf es dem „Historischen Concert“ Herrn
0203Zellner’s nachrühmen, daß es von den Gesängen und der
0204Vortragsweise der Minne- und Meistersinger wenigstens an-
0205näherungsweise, so weit dies möglich ist, eine angemessene Vor-
0206stellung gab. Trotz mancher modernisirender Licenz schien diese
0207Singerei dennoch auf das Publicum mehr wie eine Geduld-
0208probe zu wirken, als wie ein musikalischer Genuß. Recht
0209passend waren zwei deutsche Tänze aus dem 16. Jahrhun-
0210dert angefügt, welche Herr Zellner wahrscheinlich aus
0211Ammerbach’s „Orgel-Tabulatur“ (1571) für Streich-
0212Instrumente arrangirt hat und welche man in Becker’s
0213„Hausmusik“ (1840) finden kann. Nur in der Zubereitung
0214der „alten Volkslieder“ drängten sich mehr und größere Frei-
0215heiten vor, als man selbst historischen „Concertgebern“ zu-
0216gestehen dürfte. Daß man im zwölften Jahrhundert (!) compo-
0217nirt und gesungen habe, wie die „Drei Fräulein“, das wird
0218Herr Zellner wol Niemanden glauben machen wollen, am
0219wenigsten es selber glauben. Es wäre auch gar zu traurig, [3]
0220wenn wir in ganzen 700 Jahren von Nithart bis auf
0221Kücken und Abt so gar keine Fortschritte gemacht hätten!
0222Das „Fastnachtspiel“ von Hanns Sachs gehörte zwar, als
0223musiklos, nicht in ein „Historisches Concert“, wurde aber von den
0224Herren Sonnenthal, Schöne und Meixner sehr wirksam
0225declamirt und von dem Publicum ziemlich einhellig als die
0226amüsanteste Nummer des Abends gerühmt.
0227Zwei Productionen (die siebente und achte) des „Flo-
0228rentiner Quartettvereins“ brauchen wir mit Hinwei-
0229sung auf frühere Berichte wol nur zu nennen, um damit
0230abermals an zwei der genußreichsten Abende erinnert zu haben,
0231welche den Musikfreunden Wiens in dieser Saison zu Theil
0232wurden.
0233Die Gesellschaft der Musikfreunde hat Sonntag
0234Mittags ihren diesjährigen Abonnements-Cyklus mit einer
0235großartigen Production abgeschlossen oder, wie man hier von
0236ganzem Herzen sagen darf, gekrönt. Den Anfang machte
0237Beethoven’s Erstes Clavier-Concert in C-dur (op. 15),
0238das man nach vielen Jahren mit Recht wieder einmal in Er-
0239innerung brachte. Freilich erscheint hier Beethoven noch in
0240sehr homöopathischer Verdünnung, und das Concert selbst steht
0241so weit von den späteren ab, wie die Erste Symphonie von
0242ihren acht Nachfolgerinnen. Aber dies Concert und diese
0243Symphonie, sie waren doch eben die „ersten“ einer unsterblichen
0244Reihe und bilden schon aus diesem Grunde ein Kunstvermächt-
0245niß, das keine musikalische Stadt der Vergessenheit überliefern
0246darf, am wenigsten die Hauptstadt Oesterreichs, in welcher
0247und für welche der junge Beethoven dies Concert gleichsam
0248als seine musikalische Promotions-Musik geschrieben hat. Er
0249spielte es am 29. März 1795 in der Akademie der
0250„Wiener Tonkünstler-Societät“ — die erste bekannte Auf-
0251führung eines Beethoven’schen Concertes. In dem süßen, see-
0252lenvollen und doch nicht weichlichen Adagio klingt unverkennbar
0253schon Ton und Stimmung mancher späteren Beethoven’schen
0254Adagios an. Der erste und letzte Satz berühren uns heute,
025573 Jahre nach jener ersten Aufführung, freilich nur schwach
0256und mehr in einzelnen, von uns durch historische Reflexion
0257(bewußt oder unbewußt) verwertheten Zügen, als in ihrem To-
0258tal-Eindrucke. Man kennt die Zartheit und Noblesse, mit wel-
0259cher Herr Epstein Mozart’sche Compositionen spielt, und dies
0260Beethoven’sche Concert ist beinahe eine. Im ersten Satze
0261schien Herr Epstein die großen Dimensionen des Saales zu
0262wenig zu beachten und spielte zu leise — ein Fehler, den er
0263jedoch allmälig immer mehr verbesserte. Wie zu erwarten, ge-
0264lang ihm besonders das Adagio vortrefflich; dem Finale wäre
0265etwas mehr Humor zu statten gekommen. Man rief Herrn
0266Epstein wiederholt hervor.
0267Es folgten zwei von Herbeck sehr wirksam arrangirte
0268und vom „Singverein“ vortrefflich gesungene Volkslieder:
0269„Murray’s Ermordung“, eine schottische Melodie, deren etwas
0270krause Melismen am Schluß jeder Strophe sich nicht ganz
0271gut für Chorvortrag eignen; dann „Im Mai“, das ohne be-
0272sondere Originalität frisch und lieblich klingt und auf Verlan-
0273gen repetirt wurde. Den Schluß machte Beethoven’s „Neunte
0274Symphonie“. Man wußte von dem rastlosen Eifer, mit dem
0275Herr Hofcapellmeister Herbeck seit längerer Zeit diese Auf-
0276führung vorbereitete, und hatte somit große Erwartungen mit-
0277gebracht. Sie sind glänzend gerechtfertigt worden. Zunächst
0278waren alle äußeren Bedingungen reichlichst erfüllt, welche für
0279die volle Wirkung gerade dieses Werkes nothwendig sind: ein
0280grandioses, akustisches Local; ein Aufgebot von Instrumenta-
0281listen, wie es so zahlreich noch in keinem Gesellschafts-Concerte
0282fungirte; der frische und musikfeste Chor des „Singvereins“,
0283und endlich Gesangskünstler wie Frau Wilt, Herr Bignio
0284und Herr Walter für die Soli im Freudenhymnus. An
0285der Spitze dieser imposanten, muthigen Schaar stand ein
0286Mann, dessen Energie und musikalisches Feldherrntalent, hun-
0287dertfach erprobt, heute noch verdoppelt schienen: Hofcapellmei-
0288ster Herbeck. Durch die Muster-Aufführung einer der größ-
0289ten und für die Praxis gefährlichsten Tondichtungen hat sich
0290Herbeck neuerdings um den musikalischen Ruhm Wiens ver-
0291dient gemacht. Es war die beste Darstellung dieses Werkes,
0292deren man sich in Wien erinnert, und wahrscheinlich auch die
0293beste, deren sich irgend eine Stadt rühmen kann.