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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1371. Wien, Mittwoch den 24. Juni 1868

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Richard Wagnerʼs „Meistersinger von Nürnberg“.


0002München, 22. Juni.
0003Ed. H. Die erste Aufführung der neuesten Wagnerʼschen
0004Oper hat gestern bei sehr besuchtem, wenn auch nicht gänzlich
0005gefülltem Hause hier stattgefunden und von 6 bis 11 Uhr
0006Nachts gedauert. Ueber den äußeren Erfolg dieser Festvor-
0007stellung bedarf es wol keiner Meldung; derselbe war von vorn-
0008herein gewiß, wo die Freunde und Verehrer des Componisten aus
0009allen Weltgegenden zusammenströmten und an ihrer Spitze der
0010König selbst eine begeisterte Protection übte. Ueberdies war das
0011Publicum längst nach der wunderbaren Ausstattung lüstern
0012und durch eigene, stark instrumentirte Zeitungsartikel in eine
0013zweckmäßige Stimmung gebracht. „Die Aufführung der „Mei-
0014stersinger“ wird ein künstlerisches Ereigniß sein, wie es bis
0015jetzt noch kein Publicum der Welt erlebte,“ schrieb am Vor-
0016abend der Liebenswürdigste und Toleranteste von Wagnerʼs
0017literarischem Generalstab, Peter Cornelius. Es ist bei
0018einer solchen Ausnahmsvorstellung überaus schwer, der Mei-
0019nung des eigentlichen Publicums auf den Grund zu sehen;
0020mir schien dasselbe erst im dritten Acte wirklich warm zu
0021werden. Verglich man den allerdings stattlichen Applaus nach
0022dem ersten und zweiten Acte mit dem zehnfach stärkeren und
0023herzlicheren, welcher in der Mitte des dritten Actes sich erhob
0024— genau um ein Viertel auf Elf, als die erste faßlich geglie-
0025derte, anmuthige Melodie auftauchte — und der bei dem
0026prachtvollen Arrangement des Volksfestes sich noch steigerte,
0027so muß man auf ein nur theilweises und mäßiges Gefallen
0028der beiden ersten Acte zurückschließen. Diese zwei ersten Auf-
0029züge mit dem Anfang des dritten machen den Eindruck einer 
0030trostlosen, nur selten von einem Blümchen erheiterten Sand-
0031steppe, welche allerdings gegen das Ende zu einigen blühenden
0032Oasen führt — denjenigen führt, der überhaupt nach solcher
0033Ueberanstrengung noch gehen kann. Wenn Freund Corne-
0034lius
in dem erwähnten Artikel verkündigt, „man werde auch
0035einmal fünf Stunden lang einer dramatischen Handlung bei-
0036wohnen können, ohne sich ermüdet oder erschöpft zu fühlen“,
0037so können wir ihn um so robuste Constitution nur beneiden.
0038Als wir, ein Häuflein Wiener und Münchener Musikfreunde,
0039halbtodt einem mildthätigen Bierwirth in die Arme stürzten,
0040hielt man uns nicht für Leute, die aus einer komischen Oper,
0041sondern aus einem unglücklichen Feldzug heimkehren.


0042Der junge, schlanke König mit dem schwärmerischen Blicke
0043lauschte der Oper vom Anfange bis zum Schlusse, anscheinend
0044allein, in der großen Hofloge. Als aber nach dem zweiten
0045Acte nebst den Sängern auch Richard Wagner anhaltend geru-
0046fen wurde, trat dieser aus dem Hintergrunde der königlichen
0047Loge an deren Brüstung vor und verbeugte sich von hier gegen
0048das Publicum. Dieser wohlaffectionirte Gruß, welcher sich
0049nach dem dritten Acte genau so wiederholte, wirkte etwas über-
0050raschend auf die Fremden, von denen Einige erwarteten, es
0051werde nun auch der König herausgerufen werden.


0052Als theatralische Vorstellung sind die „Meistersinger“
0053eine Sehenswürdigkeit, vortrefflich im musikalischen Theil, un-
0054vergleichlich im scenischen. Bilder von blendender Farbenpracht
0055und Neuheit, Gruppen voll Leben und Charakteristik entfalteten
0056sich vor den Augen des Zuschauers, der kaum zum Nachden-
0057ken kommt, wie viel oder wie wenig von diesem Effecte der
0058eigentlich musikalischen Schöpfung zuzuschreiben sei. Erzählen
0059wir Jemandem die Handlung der „Meistersinger“, was mit we-
0060nigen Worten gethan ist, so wird er kaum begreifen, wie dar-
0061aus eine Oper von größerem Umfange als der „Prophet“ und
0062die „Hugenotten“ entstehen konnte. Die gewaltsame Dehnung 
0063und Zerrung einer kleinen, ärmlichen Handlung, die ohne
0064spannende Verwicklung und Intrigue fortwährend stillesteht
0065und kaum hinreichenden Stoff für ein bescheidenes, zweiactiges
0066Singspiel bietet, ist der größte praktische Fehler der „Meister-
0067singer“. Von der zähen Weitschweifigkeit aller dieser Reden
0068und Gegenreden, häuslichen Gespräche und trockenen Beleh-
0069rungen, bei stetem Festsitzen der Handlung läßt sich schwer eine
0070Beschreibung geben. Dabei ist das Alles in derselben, bald
0071näher zu bezeichnenden monotonen Ausdrucksweise und in lang-
0072samem Tempo componirt, da ja Wagner in seiner neuesten
0073Flugschrift „Deutsche Kunst und Politik“ die Entdeckung ge-
0074macht hat, das specifisch „deutsche Tempo“ sei das Andante.
0075Sollen die „Meistersinger“ irgendwo mit Erfolg gegeben wer-
0076den, so ist dies — wie die erfahrensten Capellmeister mit mir
0077meinen — nur mittelst ungewöhnlich heroischer Amputationen
0078möglich, welche etwa zwei Sechstel der Partitur beseitigen. In
0079München waren Kürzungen, obwol von berufenen und ein-
0080flußreichen Rathgebern beantragt, nicht durchzusetzen, da der
0081Componist keinen seiner Tacte und noch weniger seiner Verse
0082opfern wollte.


0083Die Wahl des Stoffes an sich dünkt mir ohneweiters
0084ein Fortschritt, ein Weg zum Besseren und Gesunderen im
0085Vergleiche zu Wagnerʼs vorhergehenden Opern. Er hat diesen
0086Fortschritt allerdings gegen seine eigene Lehre gemacht, welche
0087nur den Mythus als das berechtigte Stoffgebiet des Opern-
0088Componisten will gelten lassen. Wagner ist von seinen un-
0089faßlichen und unaufführbaren Opern: dem theils unter den
0090Fluthen, theils über den Wolken spielenden „Rheingold“, dem
0091von Halbgöttern, Zwergen und Walkyren wimmelnden „Ni-
0092belungenring“ etc., wieder zum wirklichen Theater zurückgekehrt.
0093Er stellt sich mitten in die reale Welt und gibt uns Bilder
0094aus dem deutschen Volks- und Bürgerleben. Diese Nürnber-
0095ger Handwerker mit ihren echt menschlichen, verständlichen Er[2]-
0096lebnissen und Empfindungen sind uns trotz ihrer Plattheit
0097immer noch weit lieber als die widerliche habituelle Ver-
0098zückung des Wagnerʼschen „Tristan“. Die sinnlos faselnden
0099Reden, die jede Seite von „Tristan und Isolde“ füllen und
0100zum Theile schon sprichwörtlich geworden sind (wie „Wonne-
0101hehrstes Weben, Nie-Wieder-Erwachens holdbewußter Wunsch“),
0102sie waren in einem Hanns-Sachs-Drama von vornherein unmög-
0103lich. Die hausbackenen Knittelverse der Wagnerʼschen Zunft-
0104meister schmecken uns nach Tristanʼs atemlosem Allitera-
0105tions-Gestotter beinahe wie der schwarze Rettig, welchen
0106Eduard Mörike gierig anbeißt, um sich von dem Syrup
0107eines faden Lyrikers zu erholen. Auch läßt sich Wagner zum
0108erstenmal wieder zu der Bezeichnung „Oper“ herab, während
0109er noch „Tristan und Isolde“ durch den verschwommenen
0110Titel „Handlung“ adeln zu müssen glaubte. Ein weiteres er-
0111freuliches Zeichen von Wagnerʼs Rückkehr zu einer vernünfti-
0112geren Theaterpraxis ist, daß die „Meistersinger“ keiner be-
0113sonderen scenischen Zurüstungen bedürfen. Wo man ein vor-
0114treffliches Orchester besitzt und Sänger, deren Gedächtniß-
0115kraft, Intonations- und Tactfestigkeit mit der riesigen Auf-
0116gabe fertig werden, da ist die Oper aufführbar. Man kann,
0117wie es hier geschehen, eine prachtvolle Ausstattung anbringen
0118und 50,000—60,000 Gulden an die „Meistersinger“ wenden,
0119es ist dies auch dringend anzurathen, aber durch den Inhalt
0120des Stückes ist keinerlei Prunk bedingt. Der Regisseur kann,
0121wenn es sein muß, für die „Meistersinger“ mit den Decora-
0122tionen und Costümen aus LortzingʼsHanns Sachs“ aus-
0123reichen, und es wäre selbst kein Unglück, wenn etwas von
0124Lortzingʼs heiteren Melodien noch daran haftete.


0125Neben der Schilderung des mittelalterlichen deutschen
0126Volkslebens ist es hauptsächlich die Gegenüberstellung der
0127freien, aus innerster Begeisterung quellenden Dichtung gegen
0128die geistlos schulmäßige Poesiemacherei, was den Kern und das 
0129Pathos des Wagnerʼschen Werkes bildet. Der Dichter Walther 
0130vertritt das eine, die Zunft der Nürnberger Meistersinger das
0131andere Princip. Ein genialer Poet steht gegen ein Dutzend
0132pedantischer Zunftmeister, die ihn nicht begreifen und doch zu
0133beurtheilen wagen. Merkst du etwas, scharfsinniger Leser? In
0134der That wird die Ueberlegenheit der sich selbst Gesetze geben-
0135den genialen Persönlichkeit gegen den Regelzwang der Schule
0136in jedem Acte mit besonderem Eifer und nur allzu großer
0137Redseligkeit vertheidigt. In diesen Seitenblicken und Seiten-
0138hiebe erinnern die „Meistersinger“ an HebbelʼsMichel
0139Angelo“ und seine versteckte, gleichwol unverkennbare persön-
0140liche Tendenz. Das Ventil für die verhaltenen Anti-Kritiken
0141Wagnerʼs ist in der Regel Hanns Sachs, der als unparteiischer
0142Dritter und Vermittler zwischen beiden Parteien steht. In den
0143Schulregeln der Sängerzunft aufgewachsen, von Waltherʼs
0144„freier Poesie“ plötzlich erleuchtet, ist Hanns Sachs eine Art
0145zum Wagnerthum bekehrter Mozartianer, der ein Separat-
0146votum zu Gunsten der Zukunftsmusik abzugeben wagt. „Wollt
0147ihr nach Regeln messen,“ ruft er, „was nicht nach eurer Re-
0148geln Lauf — sucht davon erst die Regeln auf!“ Und dann
0149zu Walther: „Nur mit der Melodei — seid ihr ein wenig
0150frei — doch sagʼ ich nicht, daß es ein Fehler sei — nur istʼs
0151nicht leicht zu behalten — und das ärgert unsʼre Alten!“
0152Diese Stelle — vom Componisten weislich auf Waltherʼs Lied
0153angewendet, die beste Melodie in der Oper und auch von
0154den „Alten“ sehr leicht zu behalten — wurde durch eine Elite
0155von „Jungen“ mit Ostentation beklatscht. Schließlich resumirt
0156Sachs sein freisinniges ästhetisches System in dem Satze:
0157„Wer als Meister ward geboren, der hat unter Meistern den
0158schlimmsten Stand.“ Das ist sehr schön, aber leider wird eben
0159Niemand als Meister geboren, nicht einmal als italienischer
0160Maëstro!
0161(Der Schluß folgt im morgigen Blatte.)