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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1372. Wien, Donnerstag den 25. Juni 1868

[1]

Richard Wagnerʼs „Meistersinger von Nürnberg“.

II.

München, 22. Juni.


0004Ed. H. Es gilt jetzt den schwierigen Versuch, eine Oper zu
0005schildern, in welcher unendlich wenig geschieht und unendlich
0006viel gesungen wird. Die Ouvertüre zu den „Meister-
0007singern“, die nacheinander alle „Leitmotive“ der Oper brocken-
0008weise in eine Fluth von chromatischen Gängen und Sequenzen
0009wirft, um sie schließlich in einem wahren Ton-Orcan über-
0010und durcheinander zu schleudern, muß in Uneingeweihten die
0011Vermuthung erregen, daß die Nürnberger Meistersinger sich
0012hauptsächlich mit Cyankali beschäftigten. Dieses Orchesterstück
0013für die unangenehmste Ouvertüre der Welt zu erklären, hin-
0014dert mich lediglich die Rücksicht auf das noch entsetzlichere
0015Vorspiel zu „Tristan und Isolde“. Ich muß dabei immer
0016an das alte italienische Bild jenes Märtyrers denken, dem die
0017Eingeweide langsam aus dem Leibe herausgehaspelt werden.
0018Das Meistersinger-Vorspiel geht wenigstens rasch und beherzt
0019mit der Keule vor. Beim Aufziehen des Vorhanges sehen wir
0020das Innere der Katharinenkirche in Nürnberg. Die Gemeinde
0021singt einen Choral, zwischen dessen Absätzen das Orchester die
0022zärtlichen Empfindungen eines jungen Ritters malt, welcher,
0023im Anblicke eines jungen Bürgermädchens versunken, im Vor-
0024dergrund steht. Der Gottesdienst ist aus, der junge Ritter,
0025Walther v. Stolzing, eilt auf die schöne Unbekannte zu:
0026„Mein Fräulein sagt, seid Ihr schon Braut?“ Mit der blitz-
0027artigen Gegenseitigkeit und Energie, welche alle Liebesverhält-
0028nisse bei R. Wagner charakterisirt, erwidert ihm Eva Pogner 
0029bald: „Euch wählʼ ich oder Keinen“. Nur müßte der Werber
0030zuvor die von ihrem Vater gestellte Bedingung erfüllen, den 
0031Preis im Meistergesang zu erringen. Eva eilt mit Magda-
0032lena, ihrer älteren Begleiterin, von dannen; Walther verbleibt
0033in der Kirche, wo eben Vorbereitungen zu einer Versammlung
0034der Meistersinger getroffen werden. Walther wendet sich an
0035David, einen der geschäftig ordnenden Lehrbuben, und befragt
0036ihn, auf welche Art man Meistersinger werden könne. Mit
0037einer entsetzlichen Gründlichkeit belehrt ihn David über die
0038Einrichtungen des „Singgerichtes“ und die poetischen Regeln
0039der Tabulatur. Er zählt ihm an 40 bis 50 verschiedene
0040„Töne und Weisen“ vor, wie „die englische Zinn-, die Zimmt-
0041röhrenweisʼ, die Frösch-, die Kälber-, die Stieglitzweisʼ, die ab-
0042geschiedene Vielfraßweisʼ“ u. s. w. — es klingt wie ein in
0043Musik gesetzter Auszug aus Wagenseil. Endlich kommen
0044die Meister, conversiren eine zeitlang und werden dann na-
0045mentlich aufgerufen. Die Sitzung beginnt mit einer Rede des
0046Goldschmieds Pogner, worin er die Hand seiner Tochter
0047Eva sammt seinem reichen Hab und Gut demjenigen zusagt,
0048der „im Kunstgesang vor allem Volke den Preis errang, am
0049Sanct Johannistag, sei er, wer er auch mag“. Diese An-
0050rede Pognerʼs fällt trotz ihrer großen Länge wie ein Sonnen-
0051strahl in die trübverschwommene, langweilige Musik, die bisher
0052allein geherrscht. Das kurze Anfangsmotiv ist einer der we-
0053nigen erfreulichen Melodienkeime in der Oper, die auch von
0054Anfang bis zu Ende damit durchflochten wird. Nach einer
0055langwierigen Verhandlung der Meister über diesen Antrag
0056tritt Walther auf und wird zu singen aufgefordert.*)


0062Der Stadtschreiber Beckmesser, ein boshafter alter
0063Geck, übt das „Merker-Amt“, d. h. er merkt, hinter einem
0064Vorhang verborgen, mit Kreide alle Fehler an, welche der 
0065Sänger gegen die Schulregeln des Meistersangs begangen.
0066Zuvor werden dem Ritter noch die Gesetze aus der Tabulatur
0067vorgelesen, worauf der Zuschauer, schon übersättigt von all
0068den früheren Explicationen der Meistersinger-Regeln, gerne
0069verzichten würde.**)


0076Walther singt ein Lenz- und Liebeslied, das trotz einiger
0077geistvoller und anmuthiger Details es zu keiner rechten und
0078vollen Wirkung bringt, hauptsächlich durch die maßlose Unruhe
0079in der Begleitung und Modulation. Wir ziehen die stimmungs-
0080vollen Strophen vor, mit denen Walther unmittelbar vorher
0081die gestellten Fragen beantwortet („Am stillen Herd in Win-
0082terszeit“). Schade, daß die Gesänge Waltherʼs, welche — mit
0083Pognerʼs Anrede — das Beste in der Oper bilden, einander
0084gar so ähnlich sind. Walther hat zwar ziemlich lange, aber
0085doch noch nicht ausgesungen, als Beckmesser, die vollgekreidete
0086Tafel zur Hand, aus dem „Gemerke“ hervorspringt und eine
0087Unzahl von Fehlern nachweist. Auch die übrigen Meister sind
0088über die Regelwidrigkeit des Gesanges entrüstet, den sie als
0089„eitel Ohrgeschinder“ bezeichnen. Der einzige Hanns Sachs 
0090nimmt die Partei Waltherʼs und erregt dadurch den höchsten
0091Zorn Beckmesserʼs, der in dem Ritter einen gefährlichen
0092Rivalen ahnt. Es folgt ein tobendes, chaotisches Durcheinander
0093aller Stimmen, das endlich mit dem Wahrspruch endet, der
0094Ritter habe „versungen und verthan“. Der Total-Eindruck
0095dieses Actes ist, trotz der erwähnten schönen, nur allzu rasch
0096verschwindenden Einzelheiten, ein höchst ermüdender, nieder-
0097drückender. Die Gespräche der Meistersinger und die uner-
0098sättliche Aufzählung ihrer Regeln und Gepflogenheiten sind [2]
0099wahre Geduldproben für den Hörer. Der Stoff gäbe, rasch
0100und launig behandelt, eine wirksame Introduction; zu einem
0101ganzen, langen Act ausgedehnt, wird er von unerträglich pro-
0102saischer Schwere. Für die komische Oper — und das sind
0103die „Meistersinger“ nach ihrer ganzen Anlage, Verwicklung
0104und Lösung, ganz abgesehen von den zwei ausgesprochenen
0105Buffo-Figuren David und Beckmesser — erscheint Wagnerʼs 
0106Talent in keiner Weise geschaffen. Der Conversationston, wel-
0107cher doch fast ausschließlich in den zwei ersten Acten herrscht,
0108klingt nicht einen Augenblick leicht und fließend, sondern ist
0109durch eine schwerfällige, gesuchte, fortwährend unruhige Musik
0110wiedergegeben, deren Instrumentirung obendrein in complicir-
0111tester und lautester Weise arbeitet. Die Sänger müssen
0112einander die alltäglichsten, auf den gewöhnlichen Sprach-
0113ton angewiesenen Fragen und Antworten zuschreien,
0114um den Schwall des Orchesters zu übertönen. Schreiten wir
0115von dieser ganz verfehlten Färbung des gewöhnlichen Gesprächs
0116zu dem Ausdruck des eigentlich Komischen weiter, so wird das
0117Unzureichende der Wagnerʼschen Musik noch auffallender. Wo
0118sie, in den Rollen Davidʼs und Beckmesserʼs, komisch wirken
0119will, wird sie gespreizt, überladen, ja häßlich bis zur Unaus-
0120stehlichkeit. Mit den grausen Dissonanzen, in welchen Beck-
0121messer schimpft oder lamentirt, könnte man beinahe die Blen-
0122dung Glosterʼs in „König Lear“ oder das Erwürgen der
0123Desdemona begleiten. Wenn der Lehrjunge David vom
0124„Knieriem“ oder „eitel Brot und Wasser“ spricht, spielt das
0125Orchester Mord und Brandstiftung. Man höre den Chor, in
0126welchem am Schlusse das Volk den schlechten Gesang Beck-
0127messerʼs verlacht, und frage sich, ob er nicht von einem wü-
0128thenden Pöbel bei einer gelungenen Lynchjustiz gesungen werden
0129könnte. Die Musik hat allerdings wenig selbstständige Mittel
0130für komische Wirkungen; sie muß sich in den meisten Fällen
0131damit begnügen, das Komische des Textes auf den leichten
0132Wellen heiterer, anmuthig scherzender Weisen zu tragen und 
0133hervorzuheben. Humor und Grazie fehlen aber Wagner voll-
0134ständig, das hat er mit seinem italienischen Gegenbild Verdi 
0135gemein. Wenn es schon Meyerbeer schwerfällt, den Aus-
0136druck unbefangener Fröhlichkeit und natürlicher Komik zu tref-
0137fen und durch fünf Minuten festzuhalten — dem noch pathe-
0138tischeren Wagner ist es geradezu unmöglich. Der zweite
0139Act
der „Meistersinger“ dürfte davon Jeden überzeugen, der
0140es nicht schon nach dem ersten weiß. Der Schauplatz stellt
0141eine Straße in Nürnberg vor; rechts im Vordergrund das
0142schmucke Haus Pognerʼs, links die Schusterwerkstatt von Hanns
0143Sachs. Zwischen beiden sieht man in einer wunderbaren Per-
0144spective die ganze Länge der Straße hinauf, welche, durchaus
0145plastisch, durch Versetzstücke dargestellt ist, wie denn in der
0146ganzen Münchener Vorstellung keine Seitencoulissen vorkom-
0147men. Diese prachtvolle Nürnberger Straße, über welche sich
0148das Licht des Vollmondes ergießt, während aus den niedrigen
0149Fenstern der Giebelhäuser trauliche Lichter glänzen, ist ein
0150Haupteffect der Vorstellung; von ihr hört man sofort mit
0151Entzückung sprechen, wenn von der Musik des zweiten Actes
0152die Rede ist.


0153Dieser Act beginnt mit einem Singen und Springen
0154der Lehrbuben, die sich auf das Johannesfest freuen und, wie
0155gewöhnlich, ihren Collegen David hänseln. Pogner und Eva 
0156kommen des Weges und singen ein höchst uninteressantes Ge-
0157spräch. Eva geht zu Sachs hinüber, um über das Schicksal
0158des Ritters bei dem Freisingen etwas zu erfahren;***) Sachs 
0163berichtet ihr den ungünstigen Ausgang. Von der Schwerfällig-
0164keit dieses sich endlos hinziehenden Dialogs läßt sich schwer eine
0165Vorstellung geben. Jeder „alte Meister“ hätte sich hier leicht
0166mit dem einfältigen Mittel geholfen, die Beiden auch einmal 
0167zusammen singen zu lassen, allenfalls die Conversation mit
0168einem Duettsatz zu schließen. Aber bei Richard Wagner 
0169dürfen die Leute nur Einer nach dem Andern, nie zugleich
0170singen, weil das unnatürlich sein soll und obendrein angenehm
0171klänge.


0172Ritter Walther kommt auf Eva zu; trotz der verlockenden
0173Verse: „Ja, Ihr seid es! Nein, du bist es!“ u. s. f. kommt
0174es auch hier zu keinem Duettsatz; Jedes singt dem Andern
0175seine Gedanken extra vor, welche — musikalisch sehr reizlos
0176und gezwungen — sich endlich in dem Plane zur Flucht
0177vereinigen. Das Liebespaar ist bereit, doch muß es sich zuerst
0178vor dem vorbeiziehenden Nachtwächter und jetzt gar vor Herrn
0179Beckmesser in die Ecke drücken. Beckmesser präludirt auf
0180der Laute, um vor Evaʼs Fenster ein Ständchen zu singen,
0181Hanns Sachs jedoch kommt ihm mit einem Schusterlied zuvor
0182(„Jerum! Jerum! Holla, holla heh!“), das, angeblich komisch,
0183mehr an einen brüllenden Tiger erinnert, als an einen lusti-
0184gen Schuster. Nicht weniger als drei Strophen gibt Hanns
0185Sachs davon zum Besten, dann folgt eine Verhandlung zwi-
0186schen ihm und Beckmesser, der durchaus Ruhe für seine Ge-
0187sangs-Production haben will. Sachs verspricht ihm endlich, zu
0188schweigen, behält sich aber vor, jeden Fehler Beckmesserʼs mit
0189einem Hammerschlag auf die Sohle, die er eben bearbeitet, zu
0190markiren. Es ist unbegreiflich, wie bis auf den letzten Tropfen
0191dieser Spaß ausgepreßt und dadurch schließlich ganz abge-
0192schmackt wird. Beckmesser beginnt seine Serenade, die, von
0193glücklichem, charakteristischem Anfang, sich nur zu bald verkün-
0194stelt; Sachs klopft bei jedem Tact ein- bis zweimal mit dem
0195Hammer auf, Beckmesser stellt ihn entrüstet zur Rede, Sachs 
0196beruhigt ihn, Beckmesser fängt wieder zu singen, Sachs wieder
0197zu klopfen an, sie zanken abermals und schließlich doch so aus-
0198giebig, daß die Nachbarn die Köpfe herausstrecken und sich
0199über den Lärm beklagen. Der Lehrjunge David erwischt Beck-
0200messer und prügelt ihn, auf dessen Geschrei füllt sich die [3]
0201Gasse mit Menschen, die nun alle zu schimpfen, zu schreien
0202und prügeln beginnen, bis ein wahrer Teufelslärm
0203entsteht, wie man nie einen ähnlichen auf der Bühne
0204gehört hat. Beim Studium der Partitur hatte ich mir
0205gerade von diesem Finale viel mehr erwartet; Wagner 
0206hat mit wahrhaft raffinirter Kunst dieses Durcheinander auf-
0207gebaut, in welchem bald einzelne Stimmen, bald ganze Chor-
0208gruppen sich gegenüberstehen, einander im Eifer das Wort vom
0209Munde abfangend. Seltsamerweise hat den Componisten hier
0210sein scharfer praktischer Blick getäuscht: von der ausge-
0211tüpfelten musikalischen Disposition ist nichts, gar nichts zu
0212unterscheiden, man hört nichts als ein wahrhaft brutales
0213Schreien und Lärmen. Eine sehr gute Idee, daß Wagner 
0214den Act nicht geradezu mit dem Straßenspectakel schließen,
0215sondern die Leute sich verlaufen und den Lärm allmälig ver-
0216hallen läßt. Wir sehen den Nachtwächter allein langsam durch
0217die leere, mondbeglänzte Straße schreiten — einer jener poe-
0218tisch-pittoresken Effecte, auf die sich Wagner vor Allen ver-
0219steht. Der zweite Act ist zu Ende, und wir haben geistreiche
0220Details bemerkt, aber kaum etwas gehört, was uns anhaltend
0221hätte erfreuen und erwärmen können. Um 9 Uhr beginnt
0222der dritte Act, der längste, aber auch beste der Oper. Zu An-
0223fang desselben geht es freilich noch ganz in dem flauen, ge-
0224dehnten Declamirton des zweiten Actes fort. Da gibt es eine
0225spießbürgerliche Einleitungs-Scene zwischen Sachs und seinem
0226Lehrjungen, der eine Johannes-Legende singt und dem Meister
0227zum Namenstage gratulirt. Es folgt ein langer, langer Mono-
0228log des Sachs, worin er über den „Wahn“ philosophirt;
0229blitzte nicht eine reizende kleine Instrumental-Schilderung
0230(„Glühwürmchen“) mitten in den salbungsvollen Singsang,
0231man geriethe in Gefahr, einzunicken. Ritter Walther tritt
0232unter Harfen-Arpeggien bei Sachs ein, dieser fordert ihn auf,
0233seinen Traum zu erzählen. Waltherʼs Lied: „Morgenlich
0234leuchtend“, beginnt mit einer zarten Melodie, die zum Glücke 
0235nicht schon mit dem dritten Tacte sich in den Ocean der
0236„Unendlichkeit“ verliert und sogar eine recht ruhige, einfache
0237Begleitung hat. Die Melodie macht einen günstigen Eindruck,
0238was der Componist nur zu gut weiß, denn er kann davon
0239nicht mehr fortkommen. Die vielen Strophen und späteren
0240Wiederholungen des Liedes schaden ohne Frage. Während
0241Walther singt, schreibt Sachs das Gedicht auf. Beckmesser,
0242der später eintritt, will das Blatt stehlen, Sachs schenkt es
0243ihm und erlaubt dem Ueberglücklichen, es beim Preissingen
0244am Johannesfeste ohneweiters als sein eigenes vorzutragen.
0245Die Unterredung zwischen Sachs und Beckmesser (der jetzt in
0246seiner Freude ebenso barbarisch und unnatürlich singt, wie
0247früher im Zorne) ist abermals eine starke Geduldprobe für
0248den Hörer. Zum Glück kommt endlich Eva in vollem Fest-
0249schmucke, läßt sich vom Sachs den Schuh abziehen und aus-
0250dehnen, als plötzlich auch Walther im rothseidenen Wamms
0251hereintritt. Es versteht sich beinahe von selbst, daß die Beiden
0252(wie „Senta“ und der „Holländer“) einander mehrere Minu-
0253ten lang „wie festgebannt“ in sprachlosem Entzücken gegenüber-
0254stehen müssen. Walther singt abermals eine Strophe seiner
0255„Morgentraumdeut-Weise“, die Sachs nun feierlich unter Bei-
0256ziehung des Lehrbuben und der Magd auf diesen Namen tauft.
0257Wir würden auf diese etwas kindische Feierlichkeit gern ver-
0258zichten, wenn sich nicht daraus etwas höchst Ueberraschendes
0259und Erfreuliches entwickeln würde. Nämlich nichts weniger
0260als ein sehr wohlingendes, schön abgerundetes Vocal-
0261Quintett
, dessen melodiöse Oberstimme zuerst Eva allein
0262intonirt. Von 6 Uhr bis halb 11 Uhr hatte das Publicum
0263nichts gehört als declamatorischen Einzelgesang über dem Ge-
0264woge der „unendlichen Melodie“ oder lärmenden Chortumult.
0265Nun kommt ganz unerwartet dieses gesangvolle Quintet, in
0266welchem überdies Fräulein Mallinger zum erstenmale Ge-
0267legenheit erhält, einigermaßen als Sängerin hervorzutreten,
0268und das Publicum jubelt im Anhören dieses kurzen Ensemble-
0269satzes, welcher in irgend einer anderen Oper vielleicht keine
0270ungewöhnliche Aufmerksamkeit erregt hätte. Das ist eines der
0271Geheimnisse unseres modernen Meistersingers. Die Scene
0272verwandelt sich in einen freien Wiesenplatz vor den Thoren
0273Nürnbergs. Es ist Johannesfest, die verschiedenen Zünfte zie-
0274hen in festlicher Kleidung, mit Musik und Fahnen auf; die
0275Schuster, die Schneider, die Bäcker singen ihre Handwerks-
0276lieder, deren poetische und musikalische Derbheit man sich hier
0277gern gefallen läßt. Ein kleiner Walzer, von einfachster Me-
0278lodie, aber köstlicher Instrumentirung, belebt die Scene. Trom-
0279petengeschmetter auf der Bühne verkündigt das Herannahen
0280der Meistersingerzunft. Die Scene bietet ein so prachtvolles,
0281rechtbewegtes und historisch treues Bild, daß das Auge mehr
0282beschäftigt ist als das Ohr. Man horcht deßhalb nicht so
0283genau auf die allzu gedehnte, salbungsvolle Anrede Hanns
0284Sachsens. Beckmesser ist der erste Sänger, der um den
0285Preis zu kämpfen hat; er beginnt sich mit den fremden Fe-
0286dern Waltherʼs zu schmücken. Aber verwirrt und furchtsam,
0287wie er ist, vergißt er den Text und verdreht jeden Satz zu
0288Unsinn, so daß er unter Spott und Gelächter abtreten muß.
0289Hanns Sachs erklärt, daß das Gedicht ursprünglich vortreff-
0290lich sei und nur durch die arge Verstümmelung so sehr miß-
0291fallen konnte. Auf seine Aufforderung singt nun Walther selbst
0292das Lied, das mit Jubel aufgenommen wird. Wir verstehen
0293allerdings nicht recht, wie dieselben Meistersinger, welche Tags
0294zuvor einen ganz ähnlichen Gesang Waltherʼs als „eitel Ohr-
0295geschinder“ verhöhnten, nun von seiner Poesie plötzlich so hin-
0296gerissen sein können, daß sie ihm den Preis und damit Evaʼs
0297Hand votiren. Das wird uns Richard Wagner vielleicht ein
0298andermal erklären, für heute sind wir froh, daß das liebende
0299Paar vereinigt und die Oper mit einer malerischen Schluß-
0300gruppe zu Ende ist.


0301(Schluß folgt.)

Fußnoten
  • *)„Meint Junker Ihr, in Sangʼ und Dichtʼ — Euch rechtlich
    unterwiesen — seid Ihr bereit, ob Euch gerieth — mit neuer Findʼ
    ein Meisterlied — nach Dichtʼ und Weisʼ Euʼr eigen, — zur
    Stunde jetzt zu zeigen?“ Walther antwortet: „Was heilig mir, —
    der Liebe Panier — schwingʼ ich und singʼ ich, mir zu Hoffʼ!“
  • **)Kothner singt: „Ein jedes Meistergesanges Bar — stellʼ
    ordentlich ein Gemäße dar — aus unterschiedlichen Gesetzen, die Keiner
    soll verletzen — Ein Gesetz besteht aus zweenen Stollen — die gleiche
    Melodey haben sollen, — der Stollʼ aus etlicher Versʼ Gebänd —
    der Vers hat seinen Reim am Endʼ — darauf so folgt der Abge-
    sang“ u. s. w. u. s. w.
  • ***)Eva: „Ihr wißt nichts, Ihr sagt nichts? Ei, Freund Sachs!
    Jetzt merkʼ ich wahrlich, Pech ist kein Wachs.“
    Sachs: „Lieb’ Evchen, machst mir blauen Dunst?“
    Eva: „Nicht ich! Ihr seidʼs, Ihr macht mir Flausen“ u. s. f.