0005Ed. H. Es gilt jetzt den schwierigen Versuch, eine Oper zu
0006schildern, in welcher unendlich wenig geschieht und unendlich
0007viel gesungen wird. Die Ouvertüre zu den „Meister-
0008singern“, die nacheinander alle „Leitmotive“ der Oper brocken-
0009weise in eine Fluth von chromatischen Gängen und Sequenzen
0010wirft, um sie schließlich in einem wahren Ton-Orcan über-
0011und durcheinander zu schleudern, muß in Uneingeweihten die
0012Vermuthung erregen, daß die Nürnberger Meistersinger sich
0013hauptsächlich mit Cyankali beschäftigten. Dieses Orchesterstück
0014für die unangenehmste Ouvertüre der Welt zu erklären, hin-
0015dert mich lediglich die Rücksicht auf das noch entsetzlichere
0016Vorspiel zu „Tristan und Isolde“. Ich muß dabei immer
0017an das alte italienische Bild jenes Märtyrers denken, dem die
0018Eingeweide langsam aus dem Leibe herausgehaspelt werden.
0019Das Meistersinger-Vorspiel geht wenigstens rasch und beherzt
0020mit der Keule vor. Beim Aufziehen des Vorhanges sehen wir
0021das Innere der Katharinenkirche in Nürnberg. Die Gemeinde
0022singt einen Choral, zwischen dessen Absätzen das Orchester die
0023zärtlichen Empfindungen eines jungen Ritters malt, welcher,
0024im Anblicke eines jungen Bürgermädchens versunken, im Vor-
0025dergrund steht. Der Gottesdienst ist aus, der junge Ritter,
0026Walther v. Stolzing, eilt auf die schöne Unbekannte zu:
0027„Mein Fräulein sagt, seid Ihr schon Braut?“ Mit der blitz-
0028artigen Gegenseitigkeit und Energie, welche alle Liebesverhält-
0029nisse bei R. Wagner charakterisirt, erwidert ihm Eva Pogner
0030bald: „Euch wählʼ ich oder Keinen“. Nur müßte der Werber
0031zuvor die von ihrem Vater gestellte Bedingung erfüllen, den
0032Preis im Meistergesang zu erringen. Eva eilt mit Magda
0033lena, ihrer älteren Begleiterin, von dannen; Walther verbleibt
0034in der Kirche, wo eben Vorbereitungen zu einer Versammlung
0035der Meistersinger getroffen werden. Walther wendet sich an
0036David, einen der geschäftig ordnenden Lehrbuben, und befragt
0037ihn, auf welche Art man Meistersinger werden könne. Mit
0038einer entsetzlichen Gründlichkeit belehrt ihn David über die
0039Einrichtungen des „Singgerichtes“ und die poetischen Regeln
0040der Tabulatur. Er zählt ihm an 40 bis 50 verschiedene
0041„Töne und Weisen“ vor, wie „die englische Zinn-, die Zimmt-
0042röhrenweisʼ, die Frösch, die Kälber-, die Stieglitzweisʼ, die ab-
0043geschiedene Vielfaßweisʼ“ u. s. w. — es klingt wie ein in
0044Musik gesetzter Auszug aus Wagenseil. Endlich kommen
0045die Meister, conversiren eine zeitlang und werden dann na-
0046mentlich aufgerufen. Die Sitzung beginnt mit einer Rede des
0047Goldschmieds Pogner, worin er die Hand seiner Tochter
0048Eva sammt seinem reichen Hab und Gut demjenigen zusagt,
0049der „im Kunstgesang vor allem Volke den Preis errang, am
0050Sanct Johannistag, sei er, wer er auch mag“. Diese An-
0051rede Pognerʼs fällt trotz ihrer großen Länge wie ein Sonnen-
0052strahl in die trüberschwommene, langweilige Musik, die bisher
0053allein geherrscht. Das kurze Anfangsmotiv ist einer der we-
0054nigen erfreulichen Melodienkeine in der Oper, die auch von
0055Anfang bis zu Ende damit durchflochten wird. Nach einer
0056langwierigen Verhandlung der Meister über diesen Antrag
0057tritt Walther auf und wird zu singen aufgefordert.*)
0063Der Stadtschreiber Beckmesser, ein boshafter alter
0064Geck, übt das „Merker-Amt“, d. h. er merkt, hinter einem
0065Vorhang verborgen, mit Kreide alle Fehler an, welche der
0066Sänger gegen die Schulregeln des Meistersangs begangen.
0067Zuvor werden dem Ritter noch die Gesetze aus der Tabulatur
0068vorgelesen, worauf der Zuschauer, schon übersättigt von all
0069den früheren Explicationen der Meistersinger-Regeln, gerne
0070verzichten würde.*)
0077Walther singt ein Lenz- und Liebeslied, das trotz einiger
0078geistvoller und anmuthiger Details es zu keiner rechten und
0079vollen Wirkung bringt, hauptsächlich durch die maßlose Unruhe
0080in der Begleitung und Modulation. Wir ziehen die stimmungs-
0081vollen Strophen vor, mit denen Walther unmittelbar vorher
0082die gestellten Fragen beantwortet („Am stillen Herd in Win-
0083terszeit“). Schade, daß die Gesänge Waltherʼs, welche — mit
0084Pognerʼs Anrede — das Beste in der Oper bilden, einander
0085gar so ähnlich sind. Walther hat zwar ziemlich lange, aber
0086doch noch nicht ausgesungen, als Beckmesser, die vollgekreidete
0087Tafel zur Hand, aus dem „Gemerke“ hervorspringt und eine
0088Unzahl von Fehlern nachweist. Auch die übrigen Meister sind
0089über die Regelwidrigkeit des Gesanges entrüstet, den sie als
0090„eitel Ohrgeschinder“ bezeichnen. Der einzige Hanns Sachs
0091nimmt die Partei Waltherʼs und erregt dadurch den höchsten
0092Zorn Beckmesserʼs, der in dem Ritter einen gefährlichen
0093Rivalen ahnt. Es folgt ein tobendes, chaotisches Durcheinander
0094aller Stimmen, das endlich mit dem Wahrspruch endet, der
0095Ritter habe „versungen und verthan“. Der Total-Eindruck
0096dieses Actes ist, trotz der erwähnten schönen, nur allzu rasch
0097verschwindenden Einzelheiten, ein höchst ermüdender, nieder-
0098drückender. Die Gespräche der Meistersinger und die uner-
0099sättliche Aufzählung ihrer Regeln und Gepflogenheiten sind
[2]
0100wahre Geduldproben für den Hörer. Der Stoff gäbe, rasch
0101und launig behandelt, eine wirksame Introduction; zu einem
0102ganzen, langen Act ausgedehnt, wird er von unerträglich pro-
0103faischer Schwere. Für die komische Oper — und das sind
0104die „Meistersinger“ nach ihrer ganzen Anlage, Verwicklung
0105und Lösung, ganz abgesehen von den zwei ausgesprochenen
0106Buffo-Figuren David und Beckmesser — erscheint Wagnerʼs
0107Talent in keiner Weise geschaffen. Der Conversationston, wel-
0108cher doch fast ausschließlich in den zwei ersten Acten herrscht,
0109klingt nicht einen Augenblick leicht und fließend, sondern ist
0110durch eine schwerfällige, gesuchte, fortwährend unruhige Musik
0111wiedergegeben, deren Instrumentirung obendrein in complicir-
0112tester und lautester Weise arbeitet. Die Sänger müssen
0113einander die alltäglichsten, auf den gewöhnlichen Sprach-
0114ton angewiesenen Fragen und Antworten zuschreien,
0115um den Schwall des Orchesters zu übertönen. Schreiten wir
0116von dieser ganz verfehlten Färbung des gewöhnlichen Gesprächs
0117zu dem Ausdruck des eigentlich Komischen weiter, so wird das
0118Unzureichende der Wagnerʼschen Musik noch auffallender. Wo
0119sie, in den Rollen Davidʼs und Beckmesserʼs, komisch wirken
0120will, wird sie gespreizt, überladen, ja häßlich bis zur Unaus-
0121stehlichkeit. Mit den grausen Dissonanzen, in welchen Beck-
0122messer schimpft oder lamentirt, könnte man beinahe die Blen-
0123dung Glosterʼs in „König Lear“ oder das Erwürgen der
0124Desdemona begleiten. Wenn der Lehrjunge David vom
0125„Knieriem“ oder „eitel Brot und Wasser“ spricht, spielt das
0126Orchester Mord und Brandstiftung. Man höre den Chor, in
0127welchem am Schlusse das Volk den schlechten Gesang Be-
0128messerʼs verlacht, und frage sich, ob er nicht von einem wü-
0129thenden Pöbel bei einer gelungenen Lynchjustiz gesungen werden
0130könnte. Die Musik hat allerdings wenig selbstständige Mittel
0131für komische Wirkungen; sie muß sich in den meisten Fällen
0132damit begnügen, das Komische des Textes auf den leichten
0133Wellen heiterer, anmuthig scherzender Weisen zu tragen und
0134hervorzuheben. Humor und Grazie fehlen aber Wagner voll-
0135ständig, das hat er mit seinem italienischen Gegenbild Verdi
0136gemein. Wenn es schon Meyerbeer schwerfällt, den Aus-
0137druck unbefangener Fröhlichkeit und natürlicher Komik zu tref-
0138fen und durch fünf Minuten festzuhalten — dem noch pathe-
0139tischeren Wagner ist es geradezu unmöglich. Der zweite
0140Act der „Meistersinger“ dürfte davon Jeden überzeugen, der
0141es nicht schon nach dem ersten weiß. Der Schauplatz stellt
0142eine Straße in Nürnberg vor; rechts im Vordergrund das
0143schmucke Haus Pognerʼs, links die Schusterwerkstatt von Hanns
0144Sachs. Zwischen beiden sieht man in einer wunderbaren Per-
0145spective die ganze Länge der Straße hinauf, welche, durchaus
0146plastisch, durch Versetzstücke dargestellt ist, wie denn in der
0147ganzen Münchener Vorstellung keine Seitencoulissen vorkom-
0148men. Diese prachtvolle Nürnberger Straße, über welche sich
0149das Licht des Vollmondes ergießt, während aus den niedrigen
0150Fenstern der Giebelhäuser trauliche Lichter glänzen, ist ein
0151Haupteffect der Vorstellung; von ihr hört man sofort mit
0152Entzückung sprechen, wenn von der Musik des zweiten Actes
0153die Rede ist.
0154Dieser Act beginnt mit einem Singen und Springen
0155der Lehrbuben, die sich auf das Johannesfest freuen und, wie
0156gewöhnlich, ihren Collegen David hänseln. Pogner und Eva
0157kommen des Weges und singen ein höchst uninteressantes Ge-
0158spräch. Eva geht zu Sachs hinüber, um über das Schicksal
0159des Ritters bei dem Freisingen etwas zu erfahren;*)Sachs
0164berichtet ihr den ungünstigen Ausgang. Von der Schwerfällig-
0165keit dieses sich endlos hinziehenden Dialogs läßt sich schwer eine
0166Vorstellung geben. Jeder „alte Meister“ hätte sich hier leicht
0167mit dem einfältigen Mittel geholfen, die Beiden auch einmal
0168zusammen singen zu lassen, allenfalls die Conversation mit
0169einem Duettsatz zu schließen. Aber bei Richard Wagner
0170dürfen die Leute nur Einer nach dem Andern, nie zugleich
0171singen, weil das unnatürlich sein soll und obendrein angenehm
0172klänge.
0173Ritter Walther kommt auf Eva zu; trotz der verlockenden
0174Verse: „Ja, Ihr seid es! Nein, du bist es!“ u. s. f. kommt
0175es auch hier zu keinem Duettsatz; Jedes singt dem Andern
0176seine Gedanken extra vor, welche — musikalisch sehr reizlos
0177und gezwungen — sich endlich in dem Plane zur Flucht
0178vereinigen. Das Liebespaar ist bereit, doch muß es sich zuerst
0179vor dem vorbeiziehenden Nachtwächter und jetzt gar vor Herrn
0180Beckmesser in die Ecke drücken. Beckmesser präludirt auf
0181der Laute, um vor Evaʼs Fenster ein Ständchen zu singen,
0182Hanns Sachs jedoch kommt ihm mit einem Schusterlied zuvor
0183(„Jerum! Jerum! Holla, holla heh!“), das, angeblich komisch,
0184mehr an einen brüllenden Tiger erinnert, als an einen lusti-
0185gen Schuster. Nicht weniger als drei Strophen gibt Hanns
0186Sachs davon zum Besten, dann folgt eine Verhandlung zwi-
0187schen ihm und Beckmesser, der durchaus Ruhe für seine Ge-
0188sangs-Production haben will. Sachs verspricht ihm endlich, zu
0189schweigen, behält sich aber vor, jeden Fehler Beckmesserʼs mit
0190einem Hammerschlag auf die Sohle, die er eben bearbeiter, zu
0191markiren. Es ist unbegreiflich, wie bis auf den letzten Tropfen
0192dieser Spaß ausgepreßt und dadurch schließlich ganz abge-
0193schmackt wird. Beckmesser beginnt seine Serenade, die, von
0194glücklichem, charakteristischem Anfang, sich nur zu bald verkün-
0195stelt; Sachs klopft bei jedem Tact ein- bis zweimal mit dem
0196Hammer auf, Beckmesser stellt ihn entrüstet zur Rede, Sachs
0197beruhigt ihn, Beckmesser fängt wieder zu singen, Sachs wieder
0198zu klopfen an, sie zanken abermals und schließlich doch so aus-
0199giebig, daß die Nachbarn die Köpfe herausstrecken und sich
0200über den Lärm beklagen. Der Lehrjunge David erwischt Beck-
0201messer und prügelt ihn, auf dessen Geschrei füllt sich die [3]
0202Gasse mit Menschen, die nun alle zu schimpfen, zu schreien
0203und prügeln beginnen, bis ein wahrer Teufelslärm
0204entsteht, wie man nie einen ähnlichen auf der Bühne
0205gehört hat. Beim Studium der Partitur hatte ich mir
0206gerade von diesem Finale viel mehr erwartet; Wagner
0207hat mit wahrhaft raffinirter Kunst dieses Durcheinander auf-
0208gebaut, in welchem bald einzelne Stimmen, bald ganze Chor-
0209gruppen sich gegenüberstehen, einander im Eifer das Wort vom
0210Munde abfangend. Seltsamerweise hat den Componisten hier
0211sein scharfer praktischer Blick getäuscht: von der ausge-
0212tüpfelten musikalischen Disposition ist nichts, gar nichts zu
0213unterscheiden, man hört nichts als ein wahrhaft brutales
0214Schreien und Lärmen. Eine sehr gute Idee, daß Wagner
0215den Act nicht geradezu mit dem Straßenspectakel schließen,
0216sondern die Leute sich verlaufen und den Lärm allmälig ver-
0217hallen läßt. Wir sehen den Nachtwächter allein langsam durch
0218die leere, mondbeglänzte Straße schreiten — einer jener poe-
0219tisch-pittoresken Effecte, auf die sich Wagner vor Allen ver-
0220steht. Der zweite Act ist zu Ende, und wir haben geistreiche
0221Details bemerkt, aber kaum etwas gehört, was uns anhaltend
0222hätte erfreuen und erwärmen können. Um 9 Uhr beginnt
0223der dritte Act, der längste, aber auch beste der Oper. Zu An-
0224fang desselben geht es freilich noch ganz in dem flauen, ge-
0225dehnten Declamirton des zweiten Actes fort. Da gibt es eine
0226spießbürgerliche Einleitungs-Scene zwischen Sachs und seinem
0227Lehrjungen, der eine Johannes-Legende singt und dem Meister
0228zum Namenstage gratulirt. Es folgt ein langer, langer Mono-
0229log des Sachs, worin er über den „Wahn“ philosophirt;
0230blitzte nicht eine reizende kleine Instrumental-Schilderund
0231(„Glühwürmchen“) mitten in den salbungsvollen Singsang
0232man geriethe in Gefahr, einzunicken. Ritter Walther tritt
0233unter Harfen-Arpeggien bei Sachs ein, dieser fordert ihn auf
0234seinen Traum zu erzählen. Waltherʼs Lied: „Morgenlich
0235leuchtend, beginnt mit einer den Melodie, die zum Glücke
0236nicht schon mit dem dritten Tacte sich in den Ocean der
0237„Unendlichkeit“ verliert und sogar eine recht ruhige, einfache
0238Begleitung hat. Die Melodie macht einen günstigen Eindruck,
0239was der Componist nur zu gut weiß, denn er kann davon
0240nicht mehr fortkommen. Die vielen Strophen und späteren
0241Wiederholungen des Liedes schaden ohne Frage. Während
0242Walther singt, schreibt Sachs das Gedicht auf. Beckmesser,
0243der später eintritt, will das Blatt stehlen, Sachs schenkt es
0244ihm und erlaubt dem Ueberglücklichen, es beim Preissingen
0245am Johannesfeste ohneweiters als sein eigenes vorzutragen.
0246Die Unterredung zwischen Sachs und Beckmesser (der jetzt in
0247seiner Freude ebenso barbarisch und unnatürlich singt, wie
0248früher im Zorne) ist abermals eine starke Geduldprobe für
0249den Hörer. Zum Glück kommt endlich Eva in vollem Fest-
0250schmucke, läßt sich vom Sachs den Schuh abziehen und aus-
0251dehnen, als plötzlich auch Walther im rothseidenen Wamms
0252hereintritt. Es versteht sich beinahe von selbst, daß die Beiden
0253(wie „Senta“ und der „Holländer“) einander mehrere Minu-
0254ten lang „wie festgebannt“ in sprachlosem Entzücken gegenüber-
0255stehen müssen. Walther singt abermals eine Strophe seiner
0256„Morgentraumdeut-Weise“, die Sachs nun feierlich unter Bei-
0257ziehung des Lehrbuben und der Magd auf diesen Namen tauft.
0258Wir würden auf diese etwas kindische Feierlichkeit gern ver-
0259zichten, wenn sich nicht daraus etwas höchst Ueberraschendes
0260und Erfreuliches entwickeln würde. Nämlich nichts weniger
0261als ein sehr wohlingendes, schon abgerundetes Vocal-
0262Quintett, dessen melodiöse Oberstimme zuerst Eva allein
0263intonirt. Von 6 Uhr bis halb 11 Uhr hatte das Publicum
0264nichts gehört als declamatorischen Einzelgesang über dem Ge-
0265woge der „unendlichen Melodie“ oder lärmenden Chortumult.
0266Nun kommt ganz unerwartet dieses gesangvolle Quintet, in
0267welchem überdies Fräulein Mallinger zum erstenmale Ge-
0268legenheit erhält, einigermaßen als Sängerin hervorzutreten,
0269und das Publicum jubelt im Anhören dieses kurzen Ensemble-
0270satzes, welcher in irgend einer anderen Oper vielleicht keine
0271ungewöhnliche Aufmerksamkeit erregt hätte. Das ist eines der
0272Geheimnisse unseres modernen Meistersingers. Die Scene
0273verwandelt sich in einen freien Wiesenplatz vor den Thoren
0274Nürnbergs. Es ist Johannesfest, die verschiedenen Zünfte zie-
0275hen in festlicher Kleidung, mit Musik und Fahnen auf; die
0276Schuster, die Schneider, die Bäcker singen ihre Handwerks-
0277lieder, deren poetische und musikalische Derbheit man sich hier
0278gern gefallen läßt. Ein kleiner Walzer, von einfachster Me-
0279lodie, aber köstlicher Instrumentirung, belebt die Scene. Trom-
0280petengeschmetter auf der Bühne verkündigt das Herannahen
0281der Meistersingerzunft. Die Scene bietet ein so prachtvolles,
0282rechtbewegtes und historisch treues Bild, daß das Auge mehr
0283beschäftigt ist als das Ohr. Man horcht deßhalb nicht so
0284genau auf die allzu gedehnte, salbungsvolle Anrede Hanns
0285Sachsens. Beckmesser ist der erste Sänger, der um den
0286Preis zu kämpfen hat; er beginnt sich mit den fremden Fe-
0287dern Waltherʼs zu schmücken. Aber verwirrt und furchtsam,
0288wie er ist, vergißt er den Text und verdreht jeden Satz zu
0289Unsinn, so daß er unter Spott und Gelächter abtreten muß.
0290Hanns Sachs erklärt, daß das Gedicht ursprünglich vortreff-
0291lich sei und nur durch die arge Verstümmelung so sehr miß-
0292fallen konnte. Auf seine Aufforderung singt nun Walther selbst
0293das Lied, das mit Jubel aufgenommen wird. Wir verstehen
0294allerdings nicht recht, wie dieselben Meistersinger, welche Tags
0295zuvor einen ganz ähnlichen Gesang Waltherʼs als „eitel Ohr-
0296geschinder“ verhöhnten, nun von seiner Poesie plötzlich so hin-
0297gerissen sein können, daß sie ihm den Preis und damit Evaʼs
0298Hand votiren. Das wird uns Richard Wagner vielleicht ein
0299andermal erklären, für heute sind wir froh, daß das liebende
0300Paar vereinigt und die Oper mit einer malerischen Schluß-
0301gruppe zu Ende ist.
0302(Schluß folgt.)