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Neue Freie Presse
Morgenblatt.
No. 1373. Wien, Freitag den 26. Juni 1868.

[1]

Richard Wagner's „Meistersinger von-Nürnberg“.

(III. Schluß.)

München, 23. Juni.


0005Ed. H. Wagner ist in den „Meistersingern“ seinem
0006musikalischen Principe, wie es schon im „Lohengrin“ vorherrscht
0007und in strengster Consequenz „Tristan und Isolde“ durchdringt,
0008vollkommen treu geblieben. Es macht immer einen respectablen
0009Eindruck, wenn ein Künstler mit Ernst und unbeugsamer Ueber-
0010zeugung an den Grundsätzen festhält, die er einmal für die
0011richtigen, allein wahren ansieht. Diese von keiner Anfechtung
0012beirrte Consequenz gibt auch den „Meistersingern“ den überall
0013imponirenden Charakterzug der Sicherheit und Festigkeit. Wag-
0014ner weiß vollkommen, was er will; die bewußte Absicht spricht
0015aus jeder Note dieser Partitur, kein Zufall findet Raum darin,
0016aber auch nicht jene schöne Zufälligkeit, welche den Schöpfungen
0017der künstlerischen Phantasie wie jenen der Natur den letzten
0018Reiz gibt. Die Consequenz, mit welcher Wagner bei seinem
0019eigenthümlichen Principe verharrt, müssen wir achten; zu dem
0020Principe selbst haben uns auch die „Meistersinger“ nicht be-
0021kehrt. Es ist das bewußte Auflösen aller festen Form in ein
0022gestaltloses, sinnlich berauschendes Klingen, das Ersetzen selbst-
0023ständiger, gegliederter Melodien durch ein unförmlich vages
0024Melodisiren. Man kann dafür Wagner's schiefes Wort „unend-
0025liche Melodie“ getrost als technischen Ausdruck gebrauchen, da
0026bereits Jedermann weiß, was er sich darunter vorzustellen hat. Die
0027„unendliche Melodie“ ist die herrschende, d. h. die musikalisch
0028unterwühlende Macht in den „Meisteringern“ wie im „Tri-
0029stan“. Ein kleines Motiv beginnt, es wird, ehe es zur eigen-
0030lichen Melodie, zum Thema sich gestaltet, gleichsam umgebogen,
0031geknickt, durch fortwährendes Moduliren und unharmonisches
0032Rücken höher oder tiefer gestellt, durch Rosalien fortgesetzt,
0033dann angestückelt und wieder verkürzt, bald von diesem, bald
0034von jenem Instrument wiederholt oder nachgebildet. Mit ängst-
0035licher Vermeidung jeder abschließenden Cadenz fließt diese
0036knochen- und muskellose Gestaltung, sich immer wieder aus sich 
0037selbst erneuern, ins Unabsehbare fort. Ueberschaut man ganze
0038große Partien dieser Art mit Einem Blick, so gewahrt man
0039immer dieselbe Einförmigkeit des Total-Eindruckes, bei fort-
0040währender nervöser Unruhe und Störung des Details.
0041Nur an den wenigen Stellen, wo ein frischer Ruhepunkt, eine
0042Art Liedform schon im Texte geboten ist (die Gesänge Wal-
0043ther's, das Schusterlied), concentrirt sich der Gesang wenigstens
0044eine Weile hindurch zur selbstständigen, wirklichen Melodie;
0045hingegen ist im ganzen Fortgang des Dramatischen, in den
0046Monologen, Dialogen, Gesammtscenen der Faden der Melodie
0047nicht in die Singstimmen, sondern ins Orchester verlegt, wo
0048er als „unendlicher“ sich wie in einer Spinnfabrik gleichförmig
0049abhaspelt. Diese melodienspinnende Orchester Begleitung bildet
0050eigentlich das zusammenhängende und selbstständige Tonbild in
0051den „Meistersingern“, die Singstimme accommodirt sich dieser
0052Begleitung, indem sie halb declamirend, halb singend ihre
0053Phrasen einwebt. Man sieht, daß diese Methode des Componi-
0054rens der bisher von allen Meistern geübten entgegengesetzt ist.
0055Die Melodie der Singstimme war jederzeit in der Conception
0056des Tondichters das Erste und Bestimmende, welchem die Be-
0057gleitung (sei sie von noch so freier oder complicirter Bewe-
0058gung) untergeordnet wurde. Man konnte in der Regel zu der
0059gegebenen Singstimme die Begleitung oder doch eine Be-
0060gleitung annähernd errathen und besaß hingegen in der Beglei-
0061tung für sich ein unselbstständiges Etwas. In den „Meister-
0062singern“ ist die Singstimme für sich allein nicht etwas blos
0063Unvollständiges, sondern gar nichts; die Begleitung ist Alles,
0064ist eine selbstständige symphonische Schöpfung, eine Orchester-
0065Phantasie mit begleitender Singstimme ad libitum. Gibt man
0066einem geschickten, mit Wagner scher Musik vertrauten Musiker
0067von den „Meistersingern“ nichts als das Textbuch und die
0068Orchester-Begleitung, so wird er passende Singstimmen in die
0069leeren Notensysteme eintragen können, etwa wie der Bildhauer
0070die fehlende Hand einer aufgefundenen Statue ergänzt. Nie-
0071mandem würde es jedoch gelingen, zu der Partie des Hanns
0072Sachs oder der Eva die verloren gegangene Orchester-Beglei-
0073tung nachzuschaffen, so wenig wie die ganze Statue zu einer
0074abgetrennten Hand. Das natürliche Verhältniß ist auf den Kopf
0075gestellt: das Orchester unten ist der Sänger, der Träger des  
0076leitenden Gedankens; die Sänger auf der Bühne sind aus-
0077füllende Instrumente.


0078Um bei dieser Methode, welche keineswegs eine schärfer
0079charakterisirende, specialisirende, sondern im Gegentheile eine
0080nivellirende, verallgemeinernde ist, doch ein Mittel für die
0081Charakteristik der Personen zu gewinnen und dem Ohr einen
0082Rettungsanker in dem Ocean der melodischen Unendlichkeit zu
0083schaffen, verwendet Wagner die sogenannten Gedächtniß- oder
0084Leitmotive, d. h. Themen, welche im Orchester jedesmal an-
0085klingen, sobald eine bestimmte Person auftritt oder ein be-
0086stimmtes Ereigniß erwähnt wird. Die Zunft der Meistersin-
0087ger hat ihr eigenes marschartiges Motiv, der Lehrjunge David 
0088seine zappelnde Sechszehntel-Figur, desgleichen Walther und
0089Sachs jeder sein Thema, gleichsam musikalische Uniformen,
0090an welchen man die Leute im Gedränge oder in der Dämme-
0091rung erkennt. Nun begründen bei Wagner diese Gedächtniß-
0092motive nicht blos Personen-, sondern auch Sachenrechte. So-
0093bald irgendwer in der Oper vom Johannesfest oder dem Preis-
0094singen spricht, ertönt das Motiv Pogner's aus dem ersten
0095Act, das Motiv Walther's begleitet nicht blos dessen Per-
0096son, sondern jede Anspielung auf ihn, auf Eva's Liebe, auf
0097die echte Poesie im Gegensatze zur zünftigen u. s. f. Nach-
0098dem das, worauf diese Motive anspielen, so ziemlich den gan-
0099zen Stoff der „Meistersinger“ ausmacht, überdies die Motive
0100selbst die glücklichsten melodiösen Ansätze in der ganzen Oper
0101sind, so bekommt man sie den ganzen Abend hindurch zu hören,
0102einzeln oder zusammen, bald in dieser, bald in jener Orche-
0103sterstimme, heller oder dunkler gefärbt. Anfangs freut sich der
0104Hörer an diesen Melodiechen, deren Verfolgen und Erkennen
0105überdies den Verstand beschäftigt: je unablässiger sie uns aber
0106hin und her schartein, desto unbehaglicher wird uns zu Muthe,
0107fast wie in einer wirklichen Schaukel. Aus vier bis fünf sol-
0108chen Leitmotiven setzt sich fast die ganze Musik dieser Oper
0109musivisch zusammen. Nichtig und sparsam angewendet, sind
0110derlei Erinnerungsmotive von trefflicher Wirkung; in dieser
0111Weise hat Weber mit dem Samiel-Motiv im „Freischütz“ ein
0112unvergängliches Beispiel gegeben. Aber man soll aus einem
0113glücklichen Aperçu kein ästhetisches Princip aufbauen. Scheint
0114es doch, als seien diese allzeit getreuen Leitmotive, welche Wag[2]-
0115ner aus mancher Verlegenheit glänzend retteten, ihm in den
0116Meistersingern“ fast gegen seinen Willen über den Kopf ge-
0117wachsen. Unwillkürlich dachten wir an jenen Touristen, der
0118sich aus der Schweiz zwei Bernhardiner-Hunde mitbrachte;
0119sie attachirten sich so treu und wachsam ihrem Herrn, daß
0120dieser nicht mehr baden gehen durfte, ohne daß die Rettungs-
0121hunde ihm nachstürzten und ihn wider Willen herauszogen.


0122Die Partitur der „Meistersinger“ ist dem jetzt regieren-
0123den König von Baiern gewidmet, welchen Wagner zum Rege-
0124nerator des deutschen Theaters bestimmt, nachdem sein Groß-
0125vater Ludwig I. die bildenden Künste, sein Vater Maximilian 
0126die Wissenschaft und Poesie beschützt und gefördert habe.*)
0137König Ludwig konnte für die Widmung der „Meistersinger“
0138nicht glänzender danken, als durch die Freigebigkeit, mit wel-
0139cher er das Werk in München vorbereiten und aufführen ließ.
0140Was diese Aufführung an Geld, Zeit und Arbeit nothwendig
0141machte. Alles war von vornherein ohne Einschränkung bewil-
0142ligt. Chor und Orchester wurden verstärkt, für drei Haupt-
0143partien die Sänger Betz aus Berlin, Nachbaur aus
0144Darmstadt, Hölzel aus Wien verschrieben, an Decorationen
0145und Costümen das Prachtvollste angeschafft, was man sehen
0146kann. Es versteht sich, daß die hervorragenden Sänger schon
0147viele Wochen vorher von jeder anderen halbwegs anstrengenden
0148Leistung ferngehalten waren. Wie gesagt, die Münchener
0149Aufführung der „Meistersinger“ war in der That eine außer-
0150ordentliche Leistung. Wir meinen vor Allem die Besiegung der
0151musikalischen Schwierigkeiten. Die Hauptrollen sind zwar
0152physisch nicht so aufreibend als in „Tristan und Isolde“,
0153allein das Gedächtniß der Sänger setzen sie auf eine harte
0154Probe. Die umfangreichste Partie dürfte die des Hanns  
0155Sachs sein. Der Baritonist Herr Betz sang sie vortreff-
0156lich, mit wohlthuender Männlichkeit und Würde, sonorer
0157Stimme und deutlichster Aussprache. Letztere Eigenschaft (für
0158diese Oper so unumgänglich nothwendig, daß ihr Mangel
0159ganze Scenen unverständlich und effectlos macht) ist überhaupt
0160fast allen Mitwirkenden, besonders den Herren Bausewein 
0161(Pogner), Schlosser (David) und Frau Dietz (Magda-
0162lena) nachzurühmen. Herr Betz verdient für seinen Hanns
0163Sachs um so größeres Lob, als die darauf verwendete unsäg-
0164liche Mühe sich nicht lohnt und die Partie durchaus undank-
0165bar ist. Sachs hat zahlreiche Monologe und Dialoge, mit
0166welchen er die Zuhörer unaussprechlich langweilt, aber in sei-
0167ner umfangreichen Rolle nicht Eine Scene, in welcher er als
0168Sänger glänzen und das Publicum enthusiasmiren könnte.
0169Nicht so stark und schwierig, aber ebenso undankbar ist die
0170Rolle Eva's; sie beginnt eigentlich erst, wo die Oper dem Ende
0171zugeht, nämlich in dem früher erwähnten Quintett des dritten
0172Actes. Fräulein Mallinger, eine ungemein begabte Künst-
0173lerin von schöner, wenn auch nicht sehr starker Stimme und
0174von anmuthiger Persönlichkeit, machte das Möglichste aus die-
0175ser unbedeutenden Rolle, welche eher noch der Schauspielerin
0176als der Sängerin ein einigermaßen günstiges Feld darbietet.
0177Die lohnendste Aufgabe in der Oper fällt dem Ritter Wal-
0178ther
zu. Herr Nachbaur, dessen angenehme Tenorstimme
0179und warmer Vortrag dem Wiener Publicum bekannt sind,
0180leistete als Sänger Ueberraschendes; als Schauspieler stand er,
0181steif und geziert, hinter den Uebrigen zurück. Mit wahrer
0182Freude sahen wir Herrn Hölzel wieder, welcher die schwierige
0183Partie des Beckmesser vortrefflich durchführte und durch seine
0184drastische Komik mehr als einmal wirksam nachhalf, wo dem
0185Dichter und Componisten der Humor vollständig ausgegangen
0186war. Wir müssen aus Anlaß dieser eminenten Leistung
0187Hölzel's den oft und vielseitig ausgesprochenen Wunsch wieder-
0188holen, es möchte unser Hofoperntheater diesen altbewährten Lie-
0189ling des Wiener Publicums endlich wieder für sich gewinnen. Chor
0190und Orchester des Münchener Theaters sind aus der Tonschlacht der
0191Meistersinger“ siegreich hervorgegangen, man muß es schon
0192hoch anschlagen, wenn diese unerhört schwierigen Ensembles
0193nicht geradezu auseinanderfallen. Das Hauptverdienst dabei,
0194wie überhaupt an der präcisen Aufführung der Oper, hat 
0195Herr v. Bülow, der das Orchester dirigirte. Es gehört -
0196low's ganze Energie und Beweglichkeit, sein fabelhaftes Ge-
0197dächtniß und seine enthusiastische Hingebung an Wagner dazu,
0198um ein solches Resultat zu erzielen. R. Wagner selbst, der
0199die Proben auf der Bühne leitete und das Arrangement bis
0200ins kleinste Detail überwachte, hat, ein geborner Opern-
0201Regisseur, seine wahrhaft geniale Begabung für die Mise-en-
0202scène neuerdings glänzend bewährt und verwerthet. Die ruhig
0203und verständig leitende Hand, welche unsichtbar die Zügel des
0204Münchener Phaёton-Gespannes lenkt, dürfen wir nicht ver-
0205gessen, es ist die Hand des Freiherrn v. Perfall, des lie-
0206benswürdigen, feingebildeten Künstlers und Intendanten. Er
0207hofft die „Meistersinger“ noch etwa viermal mit der gegenwär-
0208tigen Besetzung geben und dann die mitwirkenden Gäste theils
0209durch einheimische, theils durch neu zu engagirende Künstler
0210ersetzen zu können.


0211Die Münchener Aufführung der „Meistersinger“ wird
0212jedem Musikfreunde ein denkwürdiges Kunsterlebniß bleiben,
0213wenn auch keines von jenen, deren echter Schönheitssegen uns
0214beglückend und läuternd weiter durchs Leben begleitet. Wir
0215erblicken in dieser Oper kein Werk von tiefer Ursprünglichkeit,
0216von bleibender Wahrheit und Schönheit, sondern ein interes-
0217santes Experiment, das durch die zähe Energie seiner Durch-
0218führung und die unleugbare Neuheit, nicht sowol des Erfun-
0219denen als der Methode des Erfindens, frappirt. Nicht die
0220höpfung eines echten Musik-Genies haben wir kennen gelernt,
0221sondern die Arbeit eines geistreichen Grüblers, welcher — ein
0222schillerndes Amalgam von Halb-Poet und Halb-Musiker — sich
0223aus der Specialität seines in der Hauptsache lückenhaften, in
0224Nebendingen blendenden Talentes ein neues System geschaffen
0225hat, ein System, das in seinen Grundsätzen irrig, in seiner
0226consequenten Durchführung unschön und unmusikalisch ist. Wir
0227zählen die „Meistersinger“ mit Einem Worte zu den interes-
0228santen musikalischen Ausnahms- oder Krankheits-Erscheinungen.
0229Als Regel gedacht würden sie das Ende der Kunst bedeuten,
0230während sie als Specialitäten uns immerhin bedeutender und
0231nachhaltiger anregen, als ein Dutzend Alltags-Opern jener
0232zahlreichen gefunden Componisten, denen man um die Hälfte
0233zu viel Ehre erweist, wenn man sie Halbtalente nennt.

Fußnoten
  • *)„Indem wir, zur Ergänzung und wahren Fruchtbarmachung
    der einzigen und großherzigen Bemühungen, welche für deutsche Kunst
    und Wissenschaft von München ausgingen, jetzt für die Krönung des
    Begonnenen durch die Erhebung des deutschen Theaters 
    zu der ihm von unseren großen Geistern angewiesenen Bedeutung
    das befeuernde Beispiel des erhabenen Erben jener beiden großen
    Wohltäter des deutschen Geistes anrufen, pflanzen wir eine Fahne
    auf, deren Schatten das Gemeine ehrfurchtsvoll fern zu bleiben hat!“
    („Deutsche Kunst und Politik“ von R. Wagner, p. 46) Der Ge-
    sangsstyl in den „Meistersingern“ ähnelt oft frappant dieser Prosa.