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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1388. Wien, Sonntag den 12. Juli 1868

[1]

Musik.

(Hofoperntheater. — Liedertafel.)


0003Ed. H. Die Sommersaison im Hofoperntheater läßt sich
0004weit besser an, als es sonst unmittelbar nach den Theater-
0005ferien der Fall zu sein pflegt. Die Abwesenheit zahlreicher noch
0006beurlaubter Mitglieder, die Unlust der Sänger, die, durch den
0007Anblick des spärlichen Publicums gelähmt, wieder auf dieses
0008ungünstig zurückwirken, dazu ein abgespieltes Repertoire und
0009der weitverbreitete Aberglaube, daß ein warmer Sommerabend
0010sich besser in Laxenburg oder auf dem Liechtenstein genieße, als
0011im Cäciliengäßchen — dies Alles spricht für den wiederholt
0012angeregten Gedanken, die Opernferien mindestens um einen
0013halben Monat zu verlängern. Den Vorschlag halten wir auf-
0014recht, obwol diesmal, wie gesagt, die Juli-Vorstellungen anzie-
0015hender als gewöhnlich sind. Das Publicum bekommt in rascher
0016Folge eine Reihe fünfactiger Lieblingsopern und dazu das Gast-
0017spiel des so sehr beliebten Tenoristen Sontheim. „Eleazar“
0018und „Masaniello“ erwiesen sich abermals als Sontheim’s weit-
0019aus beste Leistungen; es sind Heldenrollen, für welche die mar-
0020kige Fülle seines Organs und die realistische Kraft seiner Dar-
0021stellung wie geschaffen sind, während Sontheim’s Persönlichkeit,
0022zum Theil auch seine Vortragsweise gegen eigentliche Liebhaber-
0023rollen reagirt. Neu waren uns in der letzten Vorstellung der
0024Stummen“ blos Herr Wachtel jun. als Alfonso und Fräu-
0025lein Jaksch als Fenella. Herr Wachtel versinnlichte durch
0026Gesang und Erscheinung die äußerste Demokratisirung eines
0027spanischen Prinzen, während die nichtssagende Mimik und das
0028balletmäßige Puppenspiel des Fräuleins Jaksch die rührende
0029Gestalt der Fenella gründlich vernichtete. Fräulein Jaksch gilt
0030mit Recht für eine der ersten Springkräfte im Ballet, rein
0031dramatischen Aufgaben wie die „Stumme von Portici“ ist sie
0032nicht gewachsen.


0033Im Ganzen spricht der Beginn der Sommersaison für
0034die Einsicht und den redlichen Eifer der neuen Direction,
0035wenn sie uns auch so Manches noch schuldig geblieben ist.
0036Wir wissen, daß Herr v. Dingelstedt nicht alles Wün-
0037schenswerthe im Augenblicke herbeischaffen kann, was seine
0038Vorgänger vorzubereiten unterließen. Dafür möchten wir ihn
0039aber ersuchen, wenigstens nicht preiszugeben, was seine Vor-
0040gänger Gutes geschaffen haben. Dazu rechnen wir die Theater-
0041gesetze, welche das Hervorrufen der Sänger bei offener
0042Scene
untersagen, die Zahl der Hervorrufe nach dem Act-
0043schlusse auf drei beschränken, das Wiederholen einzelner Gesang-
0044stücke verbieten u. s. w. Derlei Verordnungen halten wir für
0045etwas sehr Richtiges und Wichtiges. Es hat viel Zeit und
0046redliche Mühe von Seiten der Kritik gebraucht, um dieselben
0047für das Hofoperntheater zu erringen, welches durch die Bei-
0048fallsraserei aus den Blüthentagen der italienischen Saison
0049arg demoralisirt war. Die Unersättlichkeit der Künstler ging
0050wachsend mit jener des Publicums Hand in Hand — Rufen
0051und Gerufenwerden war „das höchste Glück auf Erden“. Da
0052erbarmte sich die Hofbehörde des mißhandelten theatralischen
0053Anstandes und des ernsthaften Theiles des Publicums, und
0054erließ jene wohlthätige Hausordnung. Nur allmälig und zö-
0055gernd fanden Künstler und Zuschauer sich in die neue Diät,
0056die aber streng aufrechterhalten wurde, so daß jetzt seit lan-
0057ger Zeit fanatische Störungen des scenischen Zusammenhanges
0058nicht mehr vorkamen. Die erwähnte Verordnung steht noch in
0059Kraft und hängt in zahlreichen großgedruckten Placaten im
0060Theater, aber gehalten wird sie nicht mehr. Wir machten
0061diese betrübende Wahrnehmung schon einigemale vor dem Ein-
0062tritte der Opernferien. Seit der Wiedereröffnung der Oper
0063jedoch blühen diese Ordnungswidrigkeiten in vollem Flor, die
0064Sänger (einheimische wie fremde) werden bei offener Scene
0065gerufen und erscheinen ohneweiters, so oft man will. Unmög-
0066lich kann dies ohne stillschweigende Billigung der vorgesetzten
0067Behörde geschehen (bis jetzt standen Geldstrafen darauf), und
0068deßhalb müssen wir an die Direction selbst die Interpellation
0069richten, warum sie eine schwer durchgesetzte und jahrelang be-
0070obachtete Theater-Ordnung jetzt leichtsinnig zerstören lasse?
0071Unwichtig können diese Vorschriften nur demjenigen vorkom-
0072men, der keinen Sinn und keine Pietät für den Zusammen-
0073hang eines dramatischen Kunstwerkes hat. Gibt es etwas Stö-
0074renderes, als wenn die tragische Heldin, die in Wahnsinn da-
0075vonstürzt oder gar todt hinweggeschleppt wird, sofort bei offe-
0076ner Scene, also mitten in der Handlung, auf den Applaus
0077des Publicums lächelnd und kniend wieder aus der Coulisse
0078tritt, in zahllosen Verbeugungen alle mimischen Kunststücke
0079eitler Bescheidenheit erschöpft und zum Ueberflusse auch noch
0080eine Schicht Blumen und Kränze vom Boden aufsammelt!
0081Noch schlimmer, wenn der Jubel nach einem Duett oder Ter-
0082zett losgeht. In der letzten Vorstellung der „Favorite“ wurde
0083das einleitende Duett zwischen den Herren Sontheim und
0084Draxler nach deren Abtreten anhaltend beklatscht.
0085Herr Sontheim kommt nach einer Weile, bedankt sich, sucht
0086mit den Blicken Herrn Draxler, winkt, geht in die Coulisse
0087zurück und bringt endlich den würdigen Prior aus der Sa-
0088cristei des Dominicaner-Klosters an der Hand heraus. Nun
0089bedanken sich Beide, das Publicum klatscht von neuem, der
0090Capellmeister läßt den erhobenen Tactstab von neuem fallen
0091und der Zusammenhang des Stückes wie die Stimmung des
0092aufmerksamen Zuhörers sind schon nach der ersten Scene ge-
0093opfert. So ging es die Oper hindurch. Die größte Ueber-
0094raschung war uns aber für den letzten Act aufgespart, wo nach
0095Sontheim’s Romanze von den Galerien ein tumultuarisches
0096„Bis, bis, da capo!“ erschallte. Seit mehr als einem Decen-
0097nium hatten wir diesen hungrigen Ruf gottlob nicht gehört.
0098Die Zuschauer wußten ja, daß den Sängern das Wiederholen
0099untersagt war, und forderten es daher nicht. Jetzt, wo sie ge-
0100wahr werden, daß dem Hervorruf bei offener Scene trotz des
0101Verbotes ungenirt Folge geleistet wird, usurpiren sie sofort
0102auch das Recht, beliebige Stücke da capo zu verlangen. Man
0103sieht an diesem Beispiele, in wie kurzer Zeit eine laxe Hand-
0104habung der Theater-Disciplin den fatalsten Einfluß ausübt.
0105Nicht blos auf die Sänger, deren mühsam eingedämmte „Er-
0106scheinungs“-Sucht nun außer Rand und Band geräth, sondern
0107noch mehr auf das Publicum, das ohnehin stets geneigt ist,
0108das Kunstwerk über dem Künstler zu vergessen. Von der be-
0109zahlten Elstase der Claque wollen wir gar nicht sprechen, sie
0110ist die lästigste von allen und nur durch die strenge Aufrecht-
0111haltung jener Thatergesetze im Zaum zu halten. Es ist kei[2]-
0112neswegs pedantisch, wenn wir großes Gewicht auf eine The-
0113ter-Disciplin legen, welche nicht der Ausdruck einer willkür-
0114lichen Etiquette, sondern der Achtung vor der Integrität des
0115Kunstwerkes ist. Das Wiener Burgtheater ist ein wahres
0116Muster in dieser Hinsicht; es geht in seiner strengen Decenz
0117noch weiter als das Théâtre Français in Paris und gestattet
0118den Hervorruf der Schauspieler nicht einmal nach dem Act-
0119schlusse. Diese Strenge beanspruchen wir für ein Operntheater
0120nicht, sie könnte für Tenoristen und Primadonnen tödtliche
0121Folgen haben. Im Burgtheater herrscht eine eigenthümlich
0122wohlthuende Atmosphäre von Anstand und Mäßigung — Pu-
0123blicum und Künstler sind durch eine lange Lehrzeit dazu erzo-
0124gen worden und bedürfen keiner lärmenderen Demonstrationen.
0125Man weiß dort auch ohne Hervorruf, wer die Lieblinge des
0126Publicums sind, und ein herzlicher, nicht betäubender Applaus
0127wiegt im Burgtheater schwerer als der schwerste Kranz „nächst
0128dem Kärntnerthor“. „Es gibt doch kein besseres Zeichen eines
0129tüchtigen Kopfes, als eine schwere Hand,“ so sagt bei Shak-
0130speare ein — Lohgärber. Um auf die Hausordnung des Hof-
0131operntheaters zurückzukommen: es ist gewiß, daß sie eher zu
0132wenig als zu viel verbietet. Da man doch offenbar die Sache
0133und nicht die Personen im Auge hat, so ist es z. B. ganz
0134ungerechtfertigt, fremden Sängern zu gestatten, was den ein-
0135heimischen verboten ist; die Störung bleibt dieselbe. Eine con-
0136sequente ästhetische Polizei müßte noch weiter gehen: sie müßte
0137das Hinabwerfen von Kränzen, Bouquets und anderen Wurf-
0138geschossen auf die offene Scene untersagen. Dafür ist in den
0139Zwischenacten hinlänglich Raum und Zeit, gerade wie für das
0140Hervorrufen. Diese immer störende, meistens unzeitige und sel-
0141ten unbestellte Schleuderei während des Stückes selbst ist, ge-
0142linde gesagt, eine Barbarei. Man verlege sie in die Zwischen-
0143acte; damit werden auch die schriftlichen Instructionen über-
0144flüssig (wir hatten solche von einer hiesigen Sängerin in Hän-
0145den), worin der Freund genau unterrichtet wird, nach welcher
0146Arie er den grünen Tribut zu werfen habe, den sie dann so
0147hold erschrocken an die bescheidene Brust drückt. Wir haben
0148wenig Hoffnung auf einen solchen neuen Verbotsparagraph
0149„de effusis et ejectis“; was wir aber beanspruchen, ist die
0150strenge Aufrechthaltung der alten Paragraphe. Entschließt sich
0151die Direction nicht rasch dazu, so dürfte es im Hofopernthea-
0152ter bald zugehen wie bei einer Benefice-Vorstellung in einem
0153italienischen Städtchen. —


0154Einmal im Zuge der musikalischen pia desideria, haben
0155wir auch einen Wunsch bezüglich unserer Sommer-Liedertafeln
0156auf dem Herzen. Fanden wir in der Oper das unzeitige Vor-
0157treten der Sänger störend, so fragen wir umgekehrt die Lie-
0158dertafeln, warum ihre Sänger sich gar so sehr verstecken? Und
0159zwar hinter Militärbanden verstecken, welche den besten und
0160größten Theil des Abends mit ihren Productionen in Beschlag
0161nehmen. Diese Potpourris, Polkas und Flügelhorn-Variatio-
0162nen mögen in ihrer Art noch so schätzbar sein, das Publicum,
0163welches eine Gesangsproduction besucht, will doch vor Allem
0164singen hören. Da gab der Akademische Gesang-
0165verein
kürzlich im Volksgarten eine Liedertafel, welche
0166durch den bewährten Ruf seiner Sänger und ein anziehendes
0167Programm viele Musikfreunde herbeizog. Von 6 oder 7 Uhr
0168bis 9 Uhr hörte man blos Militärmusik, und zwar — ein
0169übertriebener Luxus — von zwei Regimentsbanden. Um
017010 Uhr hatte man genau drei Gesangsnummern gehört, dann
0171begann wieder das Walten der Armee. Es wird kühl und
0172dunkel, man bezwingt die Unbehaglichkeit, um doch etwas von
0173den Novitäten zu hören. Wir freuen uns auf den „Hut im
0174Meere“, ein allerliebstes Gedicht von V. Scheffel, mit einer
0175ebenso allerliebsten Musik von Engelsberg. Endlich wird
0176der Chor angestimmt, aber es ist halb Zwölf geworden, das
0177Publicum in vollem Aufbruch begriffen und spurlos versinkt
0178der „Hut“, der um eine oder zwei Stunden früher hoch wie
0179auf einer Geßlerstange triumphirt hätte.*) Unser Vorschlag
0184geht dahin, bei solchen Liedertafeln die Militär-Capelle (aber
0185nicht mehr als Eine) auf eine mäßige Mitwirkung zu be-
0186schränken, die Gesangs-Productionen aber früher und möglichst
0187ununterbrochen zur Aufführung zu bringen. Für jenen Theil
0188des Publicums, der noch bis Mitternacht im Garten zu sitzen
0189wünscht, möge dann aus den Schallbechern der Tubas und
0190Bombardons der Polkasegen so reichlich quillen, als es die
0191Empfänglichkeit der Hörer und die Lunge der kriegerischen
0192Bläser gestattet.

Fußnoten
  • *)Die äußerst beifällige Aufnahme der Productionen nament-
    lich eines sinnigen Chores von Engelsberg: „Es hat nicht sollen
    sein“, und eines recht packenden vom Chormeister Eyrich, „Ade“,
    wurde bereits früher erwähnt.