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Neue Freie Presse
Morgenblatt.
No. 1418. Wien, Dienstag den 11. August 1868.

[1]

Beethoven als Concertgeber.


0002Ed. H. Beethoven ist in Wien bekanntlich als Clavier-
0003spieler wie als Dirigent wiederholt vor das Publicum getreten.
0004Die eigentliche Periode des Virtuosen Beethoven war das erste
0005Decennium dieses Jahrhunderts, vollständig beschlossen lag sie
0006in dem Zeitraume 1795 bis 1814. Man kann nicht sagen,
0007daß Beethoven in dieser langen Zeit häufig concertirt habe,
0008noch weniger, daß er es gerne that. Ohne Zweifel war er auch
0009als Virtuose die bedeutendste und eigenthümlichste Gestalt seiner
0010Periode. Trotzdem war seine öffentliche Wirksamkeit als Vir-
0011tuose weder so stetig und intensiv, noch so erfolgreich wie jene
0012Mozartʼs. Er gab sein Bestes, namentlich im freien Phanta-
0013siren, ohne Zweifel in Privatkreisen. Beethovenʼs erstes öffent-
0014liches Auftreten in Wien war am 29. März 1795 in der
0015Akademie der Tonkünstler-Societät, wo er zum erstenmale sein
0016C-dur-Concert, Op. 15, vortrug. In derselben Societät spielte
0017er am 2. April 1798 den Clavierpart seines Quintetts,
0018Op. 16. Wir sehen ihn mit collegialer Bereitwilligkeit nicht
0019nur dieses Pensions-Institut, sondern auch die Concerte be-
0020freundeter Künstler unterstützen. So spielte er seine Sonate
0021Op. 17 mit dem Hornisten Punto in dessen erstem Con-
0022cert am 18. April 1800 und seine große A-dur-Sonate,
0023Op. 47, mit dem englischen Violin-Virtuosen Bridgetower 
0024am 17. Mai 1803. Für diesen hatte Beethoven die Sonate
0025ursprünglich geschrieben, welche er später dem berühmten Gei-
0026ger Rudolph Kreutzer dedicirte und die seither unter der Be-
0027nennung „Die Kreutzer-Sonate“ gefeiert ist.


0028Die Concerte des Violinspielers und Orchester-Directors
0029Clement und des Opern-Regisseurs im Theater an der Wien,
0030Seb. Meyer (des ersten „Pizarro“), unterstützte Beethoven 
0031wiederholt als Virtuose und Dirigent.


0032Akademien „zu seinem Vortheil“ gab Beethoven im ersten
0033Decennium dieses Jahrhunderts mehrere im Burgtheater und
0034im Theater an der Wien, wobei er mehr Gewicht darauf legte,
0035sich als Componist zu zeigen, denn als Clavierspieler. Eine
0036solche Akademie war die vom 2. April 1800, wo Beethovenʼs
0037Septett, Op. 20, und seine C-dur-Symphonie zur ersten
0038Aufführung gelangten. Fremde Compositionen hat Beethoven
0039niemals öffentlich gespielt, aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso-
0040wenig in Privatcirkeln. Zu seinem Vortheile gab Beethoven 
0041die denkwürdigen Akademien vom 5. April 1803 und 22. De-
0042cember 1808
. In ersterer spielte er zum erstenmale sein
0043C-moll-Concert, dirigirte die D-dur-Symphonie und die
0044Cantate: „Christus am Oelberge“. („Herr Beethoven,“
0045schreibt der Correspondent der Leipz. A. M. Z., „ließ sich
0046die ersten Plätze doppelt, die gesperrten dreifach, jede Loge statt
00474 fl. mit 12 fl. bezahlen.“) In der zweiten erschien unter Anderm
0048zum erstenmale die „Phantasie“ für Clavier, Chor und Orchester.


0049Es war jene berühmte oder berüchtigte Aufführung, von
0050welcher J. F. Reichardt als Augenzeuge berichtet: Das
0051Orchester warf in der Clavier-Phantasie um. Beethoven, dar-
0052über erbost, sprang vom Clavier auf, tadelte laut das Orchester
0053und ließ das Stück von vorne anfangen. Am 11. April 1814 
0054spielte Beethoven sein B-dur-Trio, Op. 97, zum erstenmale
0055(mit Schuppanzigh und Linke) in einer Wohlthätigkeits-
0056Akademie beim „römischen Kaiser“. Dasselbe Werk wurde im
0057Mai desselben Jahres in einer Schuppanzighʼschen Quartett-
0058Matinée im Prater wiederholt; es war das letzte öffent-
0059liche Auftreten Beethovenʼs als Clavierspieler
.
0060Beethovenʼs Clavierspiel im Jahre 1798 wird vor dem Wie-
0061ner Correspondenten der Leipziger Musikzeitung mit folgenden
0062Worten charakterisirt: „Beethovenʼs Clavierspiel ist äußerst
0063brillant, doch weniger delicat und schlägt zuweilen ins Undeut-
0064liche über. Er zeigt sich am allervortheilhaftesten in der freien
0065Phantasie. Und hier ist es wirklich ganz außerordentlich, mit
0066welcher Leichtigkeit und zugleich Festigkeit in der Ideenfolge
0067Beethoven auf der Stelle jedes ihm gegebene Thema nicht
0068etwa in den Figuren variirt (womit mancher Virtuose Glück
0069und — Wind macht), sondern wirklich ausführt. Seit Mo-
0070zartʼs
Tode, der mir hier noch immer das Non plus ultra
0071bleibt, habe ich diese Art des Genusses nirgends in dem Maße
0072gefunden, in dem sie mir bei Beethoven zu Theil wurde.“
0073Denselben nachhaltigen Eindruck einer gigantischen Kraft und
0074Ideenfülle mußte Beethovenʼs Vortrag in jedem empfänglichen
0075Hörer zurücklassen. Die eigentlichen Meister der Technik konn-
0076ten aber sein Spiel durchaus nicht tadellos finden. Cheru-
0077bini
nannte es mit Einem Worte rauh. J. B. Cramer 
0078stieß sich nicht so sehr an der Rauhheit als an der Ungleich-
0079heit und Unzuverlässigkeit des Virtuosen Beethoven, von dem
0080er dasselbe Stück heute voll Geist und Ausdruck vortragen
0081hörte und am folgenden Tage launenhaft und verworren. Nach
0082Clementiʼs Aeußerung, der Beethoven noch im Jahre 1807 
0083hörte, war dessen Spiel „nur wenig ausgebildet, nicht selten 
0084ungestüm wie er selbst, immer jedoch voll Geist“. Selbst
0085Czerny, der jederzeit Höfliche und Bescheidene, wagt die Be-
0086merkung, daß Beethovenʼs Spiel in Bezug auf Reinheit
0087und Deutlichkeit „nicht immer“ als Muster dienen konnte.
0088An der Richtigkeit dessen, worin diese sachkundigen und unb¬e
0089fangenen Urtheile zusammenstimmen, ist keinen Augenblick zu
0090zweifeln. Es paßt auch vollkommen zu dem Bilde, das wir
0091aus Beethovenʼs Compositionen und seiner ganzen Persönlich-
0092keit uns von dieser großartig vulcanischen Natur machen,
0093welche den mächtigen Ideengehalt über die formale Schönheit
0094setzte und in der Entfesselung seiner Gedankenfülle die tadel-
0095lose Abrundung des Technischen übersah oder gering achtete.


0096Der große Einfluß Beethovenʼs auf die heutige Clavier-
0097musik ging mehr von Beethoven dem Clavier-Componisten, als
0098dem Clavierspieler aus. Auf die Clavier-Virtuosität seiner 
0099Zeit hat Beethoven nicht so unmittelbar und bestimmend ein-
0100gewirkt; theils weil er als Pianist früh aus der Oeffentlich-
0101keit zurücktrat, theils weil sich bald neben ihm, gleichsam über ihn
0102hinweg, eine neue Richtung der Clavier-Virtuosität gebildet
0103hatte: die von Hummel und Moscheles repräsentirte. Es
0104ist festzuhalten, daß bei Mozart und Beethoven von eigent-
0105lichem Virtuosenthum noch nicht die Rede sein kann. Beide
0106waren vor Allem Tondichter im großen Style, welche neben-
0107bei auch für Clavier componirten und in ihrem Claviersatze
0108wiederum zunächst den Componisten und dann erst den Vir-
0109tuosen geltend machten. Ihre Clavierwerke waren Kunstwerke
0110von selbstständigem Gehalte, nicht auf Bravour berechnet, noch
0111weniger auf eine bestimmte Bravour ihrer Autoren. Die Vir-
0112tuosität Mozartʼs und Beethovenʼs bestand darin, diese ihre
0113Kunstwerke vollendet vorzutragen. Immer war die Composition
0114und nicht das Spiel die Hauptsache, stets die Idee des Ton-
0115dichters, nicht die Persönlichkeit des Spielers. Wir sehen an
0116ihnen Virtuosität, aber noch kein Virtuosenthum. Letzteres,
0117als charakteristische und compacte Erscheinung betrachtet, kann
0118erst von der Zeit datirt werden, wo die Kunstfertigkeit des
0119Spielers weit stärker in den Vordergrund trat und die glän-
0120zendste Geltung für sich beanspruchte oder fand. Wir können
0121diese Epoche, nach dem Maßstabe jener Zeit, von Hummel 
0122datiren, der auch das systematische Reisen auf seine Kunst
0123sammt dem ganzen Apparate eines lucrativen Concertgebers
0124allgemein machte.


0125Als Dirigent betheiligte sich Beethoven in der Regel
0126an Concerten, wenn es die erste Aufführung eines seiner grö[2]-
0127seren Werke galt. So hörte man (in Clementʼs Concert
0128vom 7. April 1805) unter Beethovenʼs Leitung zuerst die
0129heroische Symphonie in Es-dur (damals und später noch als
0130Symphonie in Dis“ auf dem Programme verzeichnet). Er
0131dirigirte ferner die ersten Aufführungen seiner A-dur-Sym-
0132phonie und der „Schlacht von Vittoria“ am 8. December
01331813
, seiner achten Symphonie am 29. November 1814
0134u.s.w. Beethovenʼs zunehmende Taubheit, sowie seine unge-
0135duldige Heftigkeit, welche die Verständigung mit dem Orchester
0136noch erschwerte, veranlaßten ihn, in den letzten zwölf bis vier-
0137zehn Jahren seines Lebens nur mehr sehr selten als Dirigent
0138oder Concert-Veranstalter aufzutreten. Der Erfolg dieser Con-
0139certe stand nicht gleich: in manchen Fällen war er ein außer-
0140ordentlicher, eine wahre Huldigung des ganzen Publicums zu
0141den Füßen eines Triumphators. Seine höchste Höhe erreichte
0142dieser Enthusiasmus in drei Aufführungen: zuerst in dem Fest-
0143concerte im Universitäts-Saale (8. December 1813)
0144wo Beethovenʼs A-dur-Symphonie und seine „Schlacht
0145bei Vittoria“ in prachtvoller Aufführung zum erstenmale
0146gegeben wurden. (Bei der Schlacht-Symphonie wirkten die ersten
0147Künstler, wie Spohr, Mayseder, Schuppanzigh, im Or-
0148chester mit, Hummel schlug die große Trommel, Salieri 
0149dirigirte die Kanonenschläge.) Sodann in der Aufführung der
0150Cantate „Der glorreiche Augenblick“ im Redoutensaal
0151während der Congreßfeste (29. November 1814), endlich in
0152der denkwürdigen Akademie vom 7. Mai 1827 im großen
0153Redoutensaale, wo Beethoven seine neunte Symphonie auf-
0154führte und zum letztenmale öffentlich dirigirte. Er hatte nur
0155zum Scheine dirigirt, denn die Mitwirkenden waren heimlich
0156übereingekommen, sich nur an die Zeichen des ersten Violin-
0157spielers und des Chordirigenten zu halten, nicht an das Tac-
0158tiren Beethovenʼs, der in seiner Taubheit das Orchester eben-
0159sowenig hörte, als den brausenden Beifallssturm des Publi-
0160cums. War bei dem Erfolge „Schlacht von Vittoria“
0161und des „glorreichen Augenblickes“ patriotische Enthusias-
0162mus mit thätig gewesen, so vereinigte sich in jener Abschieds-
0163Akademie vom Jahre 1824 die Begeisterung für den Genius
0164mit der schmerzlichen Theilnahme für den unglücklichen Men-
0165schen, um Beethoven einen Triumph ohnegleichen zu berei-
0166ten. Wenn der Erfolg in anderen Fällen nicht auf gleicher
0167Höhe stand, so waren die Eigenthümlichkeiten des Meisters
0168zum Theile selbst schuld daran. Er war als Concert-Veran-
0169stalter nicht glücklich. Einmal muthete er dem Hörer viel zu
0170viel zu und brachte Monstre-Programme, welche die Fassungs-
0171kraft eines unvorbereiteten Publicums weit übersteigen muß-
0172ten. Was soll man dazu sagen, wenn Beethoven in Einem
0173Concerte (17. December 1808) nebst einer Ariezwei neue
0174Symphonien (Nr. 5 und 6), drei Sätze einer Messe
0175(C-dur) und zwei große mehrsätzige Clavier-Compositionen
0176(Concert in G-dur, Phantasie mit Chor und Orchester) auf-
0177führen ließ? „Wir haben da in der bittersten Kälte (das
0178Theater war nicht geheizt) von halb 7 bis halb 11 Uhr aus-
0179gehalten,“ reibt Reichardt über dieses Concert. „Die
0180eine Pastoral-Symphonie,“ setzt er hinzu, „dauerte schon län-
0181ger, als bei uns ein ganzes Hofconcert dauern darf.“ Dabei
0182muß die Aufführung dieser überaus schwierigen, ganz ungenü-
0183gend probirten Stücke abschreckend gewesen sein. Sänger und
0184Orchester, aus sehr heterogenen Bestandtheilen zusammengesetzt,
0185hatten nicht einmal von allen Stücken Eine vollständige Probe
0186abgehalten!


0187In dem Subscriptions-Concerte vom Februar 1807 ließ
0188Beethoven eine neue Symphonie (Nr. 4) und dazu die
0189drei ersten aufführen; in dem Concerte vom 27. Februar
01901814
gab er die Symphonien in A-dur und F-dur, das
0191Terzett „Empi tremate“ und die ganze „Schlacht bei Vit-
0192toria“! Der Concertzettel vom 7. Mai 1824 verkündigte: die
0193große Ouvertüre in C (Op. 124), vier Sätze aus der D-moll--
0194Messe und die neunte Symphonie!*) Wir fragen nun, ob
0199nicht heutzutage noch, wo das musikalische Publicum und un-
0200sere so weit vorgeschrittenen Orchester mit diesen Werken ge-
0201nau vertraut sind, eine solche Häufung des Größten und Ge-
0202waltigsten äußerst gewagt erschiene? Welcher Componist würde
0203es gegenwärtig, auch nur zwei Symphonien in Einem
0204Concerte zu bringen? Nun denke man sich überdies — es ist
0205keine leichte Operation der Phantasie — in die Zeit zurück,
0206wo diese größten Beethovenʼschen Schöpfungen neu waren und
0207zum erstenmale wie ein Elementar-Ereigniß in ein unvorberei-
0208tetes Publicum einschlugen. Hatte dieses Publicum nicht vollauf
0209zu thun, auf Einem Sitze auch nur Eines dieser Riesenwerke
0210mit voller Aufmerksamkeit zu hören und in sich zu verarbei-
0211ten, obendrein bei einer Aufführung, welche die Intentionen
0212des Tondichters zur guten Hälfte verfehlte oder verzerrte?
0213(Von der D-Messe und der neunten Symphonie wurden nur
0214zwei Proben gehalten.)


0215Beethovenʼs persönliches Auftreten war zwar geeignet,
0216das Publicum mit Respect zu erfüllen, nicht aber, seine Schö-
0217pfungen ins beste Licht zu setzen. Die titanenhafte Rücksichts-
0218losigkeit seines Wesens, geschärft durch den Verdruß über die
0219mangelhafte Ausführung und die eigene Schwerhörigkeit, machte
0220sich bei solchen öffentlichen Productionen oft in befremdendster
0221Weise geltend. Wenn die Mittheilungen von Reichardt,
0222Spohr, Ries, Seyfried und Anderen über Beethovenʼs
0223Concerte, wenn ihre Schilderungen der Tactirmethode Beetho-
0224venʼs auch nur zur Hälfte wahr sind — und warum sollten
0225sie es nicht ganz sein? — so mußte wol selbst das loyalste
0226Publicum mitunter Anfechtungen von Verstimmung oder Hei-
0227terkeit erfahren.*) Und dennoch nahm das Wiener Publicum
0248diesfalls von seinem großen Meister willig hin, was es von
0249keinem Zweiten ohne einiges „Spectakel“ sich hätte bieten las-
0250sen. Außer Zweifel scheint uns die Thatsache, daß Beetho-
0251venʼs Compositionen ohne seine persönliche Mitwirkung auf
0252das Publicum eine günstigere und sich schneller ausbreitende
0253Wirkung machten, daß seine Clavier-Concerte und Trios un-
0254ter den Fingern Czernyʼs, Bockletʼs und Moschelesʼ,  [3]
0255seine Symphonien und Ouvertüren unter der Anführung
0256Schuppanzighʼs, Clementʼs oder Umlaufʼs mehr an-
0257gesprochen und sich schneller eingebürgert haben, als durch
0258Beethovenʼs eigene Intervention.


0259Im Verhältniß zu der Länge seines (35jährigen) Wir-
0260keus in Wien erscheint in der That Beethovenʼs Auftreten vor
0261dem Publicum ein seltenes. Offenbar hatte er von Jahr zu
0262Jahr weniger Freude daran. Die Concert-Programme bewei-
0263sen jedoch, daß Beethovenʼs Werke seiner persönlichen Mitwir-
0264kung nicht bedürften, um eine bemerkenswerthe Stellung in
0265dem Wiener Musikleben einzunehmen. Verbitterte Biographen
0266möchten uns am liebsten weißmachen, es sei zu Beethovenʼs
0267Lebzeiten seine Musik nur äußerst selten und vorübergehend
0268vorgeführt worden. Das ist ein arger Irrthum, wie nach
0269einer Prüfung der Beweismittel wol Jeder zugestehen wird,
0270der nicht, eine Entwicklung von vierzig Jahren ignorirend, den
0271Maßstab unserer Musikzustände an jene Zeit legt. Nicht
0272erst nach des Meisters Tode oder in seinen letzten Lebensjah-
0273ren, sondern schon zwei Decennien früher nahmen Beethovenʼs
0274Werke (von den letzten, schwerfaßlichen der dritten Periode
0275immer abgesehen, für welche ein allgemeineres, tieferes Ver-
0276ständniß erst nach dem Jahre 1830 anbrach) einen hervor-
0277ragenden und gesicherten Platz in den Wiener Concert-Pro-
0278grammen ein. Am reichlichsten war Beethoven in den Qua-
0279tett-Soiréen von Schuppanzigh vertreten. Wie wir der
0280bei Wallishausser erschienenen „Theater-Almanach von 1824“
0281entnehmen, wurden im Laufe des Jahres 1824 nicht weniger
0282als fünfundzwanzig Stücke von Beethoven (darunter natür-
0283lich einige Wiederholungen) in Schuppanzighʼs Productionen
0284gespielt — eine imposante Zahl, wenn man erwägt, daß jede
0285dieser Productionen nur drei Nummern enthielt. In den
0286zwei Cyklen Schuppanzighʼs vom Jahre 1824 stellt sich das
0287Verhältniß der Componisten so heraus, daß Mozart mit
0288acht, Haydn mit zehn und Beethoven gleichfalls mit zehn
0289Quartetten vertreten ist — eine Proportion, über welche man
0290mit Berücksichtigung der damaligen Zeit nur staunen kann.
0291Von größeren Werken Beethovenʼs waren die zu seinen Leb-
0292zeiten populärsten und am häufigsten gegebenen: „Die Schlacht
0293bei Vittoria“ und „Christus am Oelberg“, zwei Compositio-
0294nen, die wir jetzt allerdings nicht mehr zu seinen bedeutendere
0295zählen. Die „Schlacht-Symphonie“ ist von den Wogen der po-
0296litischen Zeitströmung hoch getragen und — auch wieder fort-
0297gespüllt worden. Sie wurde sehr häufig und immer mit Enthus-
0298siasmus gehört. „Christtus am Oelberg“ - selbst der gram-
0299matikalische Fehler „am“ statt „auf dem“ ist echt wienerisch
0300— genoß nirgends eine solche Beliebtheit wie in Wien, wo
0301man eben noch an eine weltlichere, theatralischere Auffassung
0302der Oratorien gewöhnt war. Für den Anklang, den Beetho-
0303venʼs „Christus“ in Wien fand, sprechen dessen Wiederholun-
0304gen im Burgtheater, in den Gesellschafts- und Spirituell-Con-
0305certen, endlich der Umstand, daß die „Gesellschaft der öster-
0306reichischen Musikfreunde“ sich dadurch veranlaßt sah, im Jahre
03071815Beethoven um die Composition eines neuen Orato-
0308riums anzugehen. Die Gesellschaft offerirte ihm für den ein-
0309jährigen ausschließlichen Gebrauch des Werkes (nicht für das
0310Eigenthum) dreihundert Ducaten. Beethoven erklärte den
0311Antrag für „sehr ehrenvoll“, nahm ihn an und erhielt nach
0312seinem Wunsche einen Vorschuß, dessen Empfang er 1819 be-
0313stätigte. Das ihm zuerst vorgeschlagene Gedicht von J. v. Sey-
0314fried
nahm er nicht in Arbeit; er wünschte ein anderes. Die
0315Gesellschaft ließ ihm freie Wahl. Bernard, Redacteur der
0316Modenzeitung, übernahm es, ein neues zu liefern, und ver-
0317einigte sich mit Beethoven über den Gegenstand. Die Arbeit
0318kam jedoch bekanntlich nie zu Stande.


0319Diese Bestellung war die erste, zu welcher die kurz zuvor
0320entstandene „Gesellschaft der Musikfreunde“ sich überhaupt ent-
0321schloß, mit einem Mißerfolg, an welchem sie, wie wir gesehen,
0322nicht der schuldige Theil war.


0323Beethovenʼssieben erste Symphonien, seine Ouve-
0324türen, Chöre aus „Christus am Oelberg“, „Ruinen von
0325Athen“ und „König Stephan“ treffen wir in den Gesellschafts-
0326Concerten, den „Concerts spirituels“, den Augarten-Conce-
0327ten u. s. w. sehr häufig. Noch bemerkenswerther ist, daß in
0328dem Zeitraume von 1815 bis 1830 beinahe jede Wohl-
0329thätigkeits-Akademie
mit einer der Ouvertüren von
0330Beethoven eingeleitet oder geschlossen wurde; sie hatten in den
0331Zwanziger-Jahren die Mozartʼschen und Cherubiniʼschen Ouver-
0332türen nicht nur längst eingeholt, sondern überflügelt. Die
0333Wohlthätigkeits-Akademien schätzen wir aber hier deßwegen als
0334einen Maßstab der Popularität, weil sie, auf ein großes Pu-
0335blicum abzielend, wirklich nur dasjenige wählten, was dem
0336Publicum gefiel und es anlockte. Auch die Virtuosen-
0337Concerte (sie wurden zu Beethovenʼs Lebzeiten fast aus-
0338nahmslos mit Orchester-Begleitung gegeben) sehen wir in den
0339Zwanziger-Jahren zum großen Theile mit irgend einer Beetho-
0340venʼschen Ouvertüre geziert. Am seltensten wurden von Bee-
0341thovenʼs Werken die Clavier-Compositionen öffentlich aufge-
0342führt. Rücksichtlich der Sonaten hatte dies seinen Grund
0343darin, daß die Sonate damals überhaupt nicht für concert-
0344fähig galt, sondern ihre Stelle in häuslichen Productionen
0345fand.*) Diese Entschuldigung gilt allerdings nicht für die ver-
0353hältnißmäßig geringe Vertretung der Beethovenʼschen Clavier-
0354Concerte auf den Wiener Programmen. Sie haben sich
0355(sowie das Violin-Concert) erst in den letzten Lebensjahren
0356Beethovenʼs dauernd eingebürgert. Ebensowenig als der Vor-
0357trag von Clavier-Sonaten waren ehedem Lieder mit Clavier-
0358begleitung in öffentlichen Concerten gebräuchlich; erst gegen
0359das Ende der Zwanziger Jahre wagte sich das Lied (und das
0360Vocalquartett) neben die „Arie“ in den Concertsaal. (Dadurch
0361erklärt sich auch großentheils die verspätete Anerkennung Franz
0362Schubertʼs, der seine Carrière mit Liedern begann und sein
0363Bestes in diesem Fache leistete. Beethovenʼs „Adelaide“, damals
0364schon ein Werk von außerordentlicher Popularität und in allen
0365Dilettantenkreisen gesungen, erschien ausnahmsweise mehrmals
0366in Concerten; der Correspondent der A. M. Z. (1813) be-
0367merkt bei einem solchen Anlasse (Wild hatte, von Gyrowetz 
0368accompagnirt, die „Adelaide“, öffentlich gesungen), „daß Ge-
0369sänge mit Clavierbegleitung nicht in einen Concertsaal gehö-
0370ren.“ In der Werthschätzung des Liedes wie der Sonate hat
0371in den Dreißiger-Jahren ein löblicher Umschwung stattgefunden
0372da die frühere Uebung eine allgemeine, keineswegs auf Wien 
0373oder auf einen bestimmten Componisten beschränkt war, so kann
0374sie auch den Wiener Zeitgenossen des Meisters unmöglich im-
0375putirt werden.


0376Daß Beethoven, namentlich mit seinen größeren Werken,
0377in den Zwanziger-Jahren nicht so oft auf den Programmen er-
0378schien als heutzutage, wo wir mit ganz anderen geistigen und
0379materiellen Mitteln an ihn herantreten, liegt in der Natur
0380der Sache. Mit Rücksicht auf die musikalischen Zustände jener
0381Zeit kann man von einer positiven Vernachlässigung oder Un-
0382terschätzung Beethovenʼs in Wien nicht sprechen.

Fußnoten
  • *)Beethoven hatte auch noch das Sanctus und Benedictus aus
    der D-Messe geben wollen und bereits probiren lassen; im letzten
    Augenblicke der Unmöglichkeit einer solchen Concertdauer
    weichen. (Schindler, II. p. 70.)
  • *)Wir citiren statt dieser bekannten Schilderung die Erzählung
    eines gebildeten und unbefangenen Fremden, des schwebischen Dichters
    Atterbohm, der im Jahre 1808Wien besuchte und Beethoven in
    einem Privatconcert kennen lernte. „Er dirigirte (schreibt Atter-
    bohm
    in seinen Memoiren) selbst das Concert, bei dem ich ihn sah;
    man führte nur Stücke von ihm oder von Meistern auf, die er hin-
    länglich kannte, um deren Musik innerlich zu hören, denn daß er mit
    dem äußeren Ohr von ihr nichts hörte, obwol sein scharfes Auge die
    die Art ihrer Ausführung fast immer bewahrte, sah ich besonders bei
    einer großen, obwol kurzen Tactverwirrung der Spielenden und dann
    bei einem Piano, welches dieselben in der Hast nicht als solches aus-
    drückten. Beethoven merkte nichts von Allem. Er stand wie auf einer
    abgeschlossenen Insel und dirigirte den Flug seiner dunklen dämoni-
    schen Harmonien in die Menschenwelt mit den seltsamen Bewegun-
    gen; so z. B. commandirte er pinissimo damit, daß er leise nieder-
    kniete und die Arme gegen den Fußboden streckte, beim fortissimo
    schnellte er dann wie ein losgelassener elastischer Bogen in die Höhe,
    schien über seine Länge hinauszuwachsen und schlug die Arme weit
    auseinander; zwischen diesen beiden Extremen hielt er sich beständig
    in einer auf- und niederschwebenden Stellung.“
  • *)*) Doch gab es bemerkenswerthe Ausnahmen, wie z. B. die
    Virtuosin Madame de Bigot, welche schon im ersten Decennium
    dieses Jahrhundertes in Wien Concerte gab, deren ganzes Programm
    aus Beethovenʼschen Composition, und zwar den schwierigsten,
    bestehend. Die Sonntags-Matinéen Karl Czernyʼs in den Jahren
    1817 bis 1819 enthielten gleichfalls ausschließlich Clavierstücke von
    Beethoven.