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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1450. Wien, Sonntag den 13. September 1868

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Vom Hofoperntheater.


0002Ed. H. Ein musikalischer Berichterstatter sollte es sich in
0003diesem Augenblicke dreimal wohl überlegen, ehe er die halbver-
0004gessene Feuilletonfeder wieder zur Hand nimmt. Denn nach
0005welcher Richtung diesseits und jenseits der Ringstraße er auch
0006ausblicke, nirgends winkt ihm ein musikalisches Ereigniß von
0007Bedeutung und Interesse. Die Musik ruht in diesen Monaten
0008ausschließlich auf der Thätigkeit des Hofoperntheaters; ruht 
0009im bequemsten Sinne des Wortes. „In der Oper geschieht
0010nichts,“ so lautet unfehlbar der Refrain aller Gespräche, welche
0011über dies Institut laut werden. Man kann den Eindruck nicht
0012länger abwehren, daß hier ein Umschlag der öffentlichen
0013Meinung stattgefunden habe. Dieser Umschlag ist kein günstiger.
0014Er vollzog sich allmälig, von der Höhe eines allzu sanguinischen
0015Vertrauens herabschwenkend bis zur förmlichen Unzufriedenheit.
0016Glücklicherweise hat sich letztere noch nicht festgesiedelt, sie klopft
0017erst an und scheint bereit, beim Anblick der ersten erfreulichen
0018Thaten (nicht Versprechungen) zu fliehen. Aber auch auf dieses
0019Klopfen muß man beizeiten Acht haben.


0020Herr v. Dingelstedt betrat das verwaiste Opern-
0021theater zu glücklicher Stunde. Sein Vorgänger hatte ihm den
0022Erfolg ungemein leicht gemacht; die allgemeine wohlverdiente
0023Unbeliebtheit desselben bereitete dem Nachfolger den liebe-
0024vollsten Willkomm. In diese günstigen Verhältnisse konnte
0025andererseits kaum eine Persönlichkeit vortheilhafter eintreten,
0026als Dingelstedt. Es war ein lebhaftes, aber kein blindes
0027Vertrauen, das ihm entgegenkam. Er brachte einen glänzenden
0028Namen mit und vorwiegend gerade solche Eigenschaften, welche
0029an unseren früheren Opern-Directoren am schmerzlichsten ver-
0030mißt wurden. Ein Kärntnerthor-Director, der ein reines
0031Deutsch sprach und sogar schrieb, das allein wirkte schon phä-
0032nomenal. Nicht genug. Unter allen Opern-Directoren weit
0033und breit ist Dingelstedt der berühmteste Schriftsteller, der
0034feinste, liebenswürdigste Gesellschafter, zum Ueberfluß noch der
0035stattlichste Mann. Boshafte Leute argwöhnen, daß wir Kritiker 
0036vor den Augen junger Sängerinnen gleichsam im Feuer exer-
0037ciren — diesmal hatten die schönen Augen des Directors wacker
0038das Ihrige gethan. Alle Herzen flogen ihm zu und nicht blos
0039weibliche. Gluck’s „Iphigenia in Aulis“, noch unter der früheren
0040Direction besetzt und einstudirt, warf bereits ein verklärendes
0041Frühroth auf Dingelstedt’s neue Laufbahn. Er hatte, eben erst
0042hier angekommen, nur die letzte Hand an die Vorstellung an-
0043gelegt, aber mit so viel Eifer und Haltung, daß das gesammte
0044Personal plötzlich unter dem Zauber der neuen Persönlichkeit
0045stand und über das gewohnte Maß unserer Gesammtleistungen
0046hinauswuchs. Ein Jahr ist seither ins Land gegangen, und
0047wir fragen: was wurde geleistet? Sehr wenig. Das ganze
0048Resultat dieses Jahres waren eine neue Oper („Romeo“) und
0049zwei durchgefallene Ballette. Mehrere Opern wurden scenisch
0050ein wenig aufgefrischt, was man dankbar anerkannte, aber
0051keineswegs classische Werke aus vergangener oder halbvergangener
0052Zeit, sondern eben nur allbekannte Repertoirestücke, die eine
0053Weile gestockt hatten, wie „Lucrezia Borgia“, „Die Favoritin“,
0054Der Postillon“. Die einzige thatsächliche Bereicherung bleibt
0055Gounod’s „Romeo“. Die Aufführung war glänzend und sprach
0056namentlich in scenischer Hinsicht laut zu Gunsten der neuen
0057Direction. Aber seit jenem 5. Februar — welch grauen-
0058hafte Stille! Ließ sich mit den reichen Kräften unserer Oper,
0059die noch durch zahlreiche Gäste fortwährend Succurs erhielt,
0060seither gar nichts Neues bringen, gar nichts zu früh Ver-
0061gessenes wiederbeleben? Das Repertoire des Operntheaters ist
0062zum Entsetzen monoton, monotoner als seit Menschengedenken.
0063Immer wieder „Romeo“, „Faust“, „Afrikanerin“, „Rigoletto“
0064und die abgeleiertste aller angeblich komischen Opern,
0065Martha“. Wagner’s „Lohengrin“, seit längerer Zeit
0066nicht gegeben, war für den letzten Samstag ver-
0067sprochen, verschwand aber mehrere Tage früher geheimniß-
0068voll wieder vom Repertoire. Kein erfrischender Luftzug, der
0069diese Stagnation unterbräche. Die vielen Gastspiele können
0070wir als Ersatz nimmermehr ansehen. Zahlreiche, rasch auf-
0071einanderfolgende Gastspiele sind überhaupt vom Uebel, sie
0072bringen eine schädliche Unruhe in den Pulsschlag einer großen
0073Bühne, verwirren und entwerthen das einheimische Personal. 
0074Ueberdies waren unsere Gäste (mit Ausnahme Sontheim’s)
0075meistens anständige Mittelmäßigkeiten, worunter auch einige
0076nicht anständige. Eine Reihe dunkler Ehrenmänner, von Herrn
0077Hacker und Herrn A. Walter an, die wir gehört, bis zu
0078den Fräulein Reiß und Pauli, die wir nicht gehört, aber
0079gelesen.


0080Unter dem Geflatter dieser mehr oder minder kostspie-
0081ligen Zugvögel klafften die Lücken im eigenen Hause. Fräulein
0082Murska ist noch nicht ersetzt. Das Engagement der Colo-
0083ratur-Sängerin Pauli-Markovits zerschlug sich abermals,
0084und zwar, wie verlautet, an der Bedingung, daß der Prinz-
0085Gemal, Herr Pauli, für kleine Tenorpartien mit engagirt
0086werden müsse. Herr Pauli ist allerdings ein saurer Apfel,
0087aber ist vielleicht Herr Wachtel junior eine Ananas? Herr
0088Wachtel war von seinem ersten Auftreten an eine Unmöglich-
0089keit für das Hofoperntheater. Trotzdem singt er weiter, unter
0090dem Lachen des Publicums — das ist gar nicht zum Lachen.
0091Neben Herrn Wachtel Sohn gestellt wächst Herr Prott,
0092der vorschnell geopferte, förmlich zum Wachtel Vater. Was in
0093revolutionirten Zeiten die politische Klugheit lehrt: keinen Mi-
0094nister zu stürzen, ehe man einen besseren in petto hat, das
0095paßt auch auf Tenoristen. Herr Zottmayr hat uns ver-
0096lassen — möge er uns ob unserer trockenen Augen nicht zür-
0097nen! — ein Ersatzmann für ihn ist aber noch nicht vorhanden.
0098Einen Baßbuffo haben wir noch immer nicht, einen Spiel-
0099tenor ebensowenig.


0100Von den engagirten Mitgliedern werden manche häufig
0101zurückgesetzt, andere ungebührlich vorgedrängt. Zu den letzteren
0102gehört Fräulein Siegstädt, eine fleißige und verläßliche junge
0103Sängerin, die wir in ihrer Sphäre aufrichtig schätzen. Ein
0104Fehlgriff scheint es uns jedoch, ihr Rollen wie Ines in der
0105Afrikanerin“, Urban in den „Hugenotten“, Pamina und
0106Mathilde zuzutheilen, denen sie nicht gewachsen ist. Mit
0107einer Stimme ohne Schmelz und Wärme, bei auffallendstem
0108Mangel an dramatischem Talent und etwas karg zugemessener
0109Persönlichkeit, wird man auf unserer Bühne am besten bei
0110der Friedensmission der „Freundinnen und Vertrauten“ blei-
0111ben. Um im Regiment zu avanciren wie die Benza und Ra[2]-
0112batinsky, muß man auch deren Talent und Mittel besitzen.
0113Ein bureaukratisch stufenweises Hinaufrücken kann nicht Regel
0114sein in der Kunst. Man lasse Fräulein Siegstädt auf ihrem
0115früheren, gar nicht unwichtigen Platze; sie ist immer eine
0116schätzbare Stimme im Ensemble, aber kein Solo-Instrument.


0117Im Ballet haben wir den Abgang der Meisterin Couqui 
0118und der blühenden Rosenknospe Bianca Lucas zu beklagen.
0119Wir haben Claudine Couqui immer für eine der allerbesten
0120Tänzerinnen gehalten, die man gegenwärtig an irgend einer
0121Bühne finden kann, und wir halten sie noch dafür. Sie hat
0122freilich ihre schönste Blüthenzeit hinter sich und mußte darob
0123manch allzu hartes Wort hören. Demungeachtet hat sie bis
0124auf den letzten Tag durch die Anmuth ihrer Bewegungen und
0125die beseelte Freundlichkeit ihrer Gesichtszüge auf der Bühne
0126einen ästhetischeren Eindruck hervorgebracht als die meisten ihrer
0127jüngeren Colleginnen. Auf dem Theater entscheidet der Schein,
0128nicht der Taufschein. Für uns lag nicht in den technischen
0129Virtuosen-Stücken der Couqui, sondern in der angebornen
0130Grazie, in dem stets fröhlichen, mühelosen Fluß ihres Tanzes
0131der Hauptvorzug ihrer Kunst. In dieser seltenen Leichtigkeit
0132der Bravour erinnerte Claudine Couqui an die Murska;
0133diese sang wie jene tanzte, oder umgekehrt. Die Anmuth über-
0134wog entschieden das Charakteristische im Tanz der Couqui,
0135consequent war letztere bedeutender als Tänzerin, denn als
0136dramatische Darstellerin. Sie traf zwar den mimischen Aus-
0137druck jederzeit richtig und gewandt, doch kam er meist etwas
0138conventionell, auch übertrieben zum Vorschein, nicht tief und
0139einfach genug. In dieser Hinsicht erscheint Fräulein
0140Salvioni ihrer Vorgängerin überlegen. Eine geniale,
0141ursprüngliche Kraft, die mit hinreißender Eigenthümlich-
0142keit wirkte, vermochten wir zwar in der Salvioni 
0143nicht zu entdecken, aber einzelne hochgespannte dramatische
0144Aufgaben, wie die Schlußscene der „Esmeralda“, löste sie
0145mit feinem Verständnisse und großer sinnlicher Gewalt. Für
0146etwas mehr oder weniger an virtuosen Kunststücken haben wir
0147wenig Hochschätzung, wol auch zu wenig Verständniß. Das
0148Wesentliche bleibt, daß Alles, was eine Tänzerin überhaupt
0149ausführe, von Innen heraus beseelt erscheine, anmuthig, frei
0150und mühelos. Auch darin gibt es Gradunterschiede. Man 
0151wird von der Grazie und Leichtigkeit Fräulein Salvioni’s 
0152sehr befriedigt sein, wenn man nicht von vornherein über-
0153spannte Vorstellungen mitbringt, was vielleicht in Folge eini-
0154ger Berichte unser Fall war. Auch muß man sich unter der
0155Salvioni keine schlanke Frühlingsblüthe vorstellen, ihre Schön-
0156heit ist die der reifen Aehre. Die plastische Regelmäßigkeit
0157und Fülle ihres Körpers rühmt man mit Recht, die Gesichts-
0158züge sind von stark südlichem Gepräge, mehr energisch als
0159lieblich. Wir haben Fräulein Salvioni blos in einer Rolle
0160(als Esmeralda) gesehen, die jedenfalls für die weitere Thä-
0161tigkeit dieser beim Publicum bereits hochbeliebten Künstlerin
0162unser Interesse erregt. Die Ausstattung des Ballets „Esme-
0163ralda“ war recht dürftig und verschlissen, weit störender jedoch be-
0164rührten uns einige musikalische Versetzstücke im Orchester.
0165Man hatte nämlich für die Tänze des zweiten Actes ein
0166Potpourri aus Offenbach’sGroßherzogin von Gerolstein“
0167zusammengestoppelt, das zu der Handlung wie zu der übrigen
0168Musik des Ballets schlechterdings nicht passen will. Victor
0169Hugo’s poetische Esmeralda zur Musik des „Säbelliedes“ tan-
0170zend (obendrein in verzerrend schnellem Tempo) — das ist
0171doch ein Stückchen ästhetischer Barbarei? Ballete älteren Da-
0172tums verlangen allerdings hie und da modernere Musik-Einlagen,
0173aber sind denn unsere Ballet-Dirigenten so völlig erfindungs-
0174los geworden, daß sie den Vorstadtbühnen die abgeleiertesten
0175Couplet-Melodien für ernste Ballete entlehnen müssen? Me-
0176lodien, die obendrein die betreffende Possenscene sofort dem
0177Zuschauer störend ins Gedächtniß rufen? Uns dünkt, in einem
0178Institute von dem Range des Hofoperntheaters streite derlei
0179Gerolstein’sches Säbelregiment gegen den künstlerischen Anstand.


0180Wir haben die bedauerlichen Lücken im Personalstande
0181aufgezählt; dafür erfreuen wir uns wenigstens des neuen Er-
0182werbes von drei Künstlern, die nicht auf der Bühne agiren.
0183Es sind dies der vortreffliche Violoncellist Popper, der
0184gleichfalls sehr gerühmte Geiger Grün — Beide als Solo-
0185spieler für das Orchester gewonnen — endlich der geistvolle
0186Zeichner Franz Gaul. Dieser wurde zum Costumier des
0187Hofoperntheaters ernannt, eine Aufgabe, welche Gaul’s echte
0188Künstlernatur nicht nur höher auffaßt, als dies seine Vor-
0189gänger thaten, sondern für welche er durch specielle Vorliebe, 
0190umfassende historische und ethnographische Studien und ein
0191seit Jahren gesammeltes reiches Material vor Allen be-
0192rufen ist.


0193Als nächste Novität (wahrscheinlich für Mitte October)
0194ist „Mignon“ von Ambroise Thomas versprochen, unter
0195der spärlichen Zahl erfolgreicher Novitäten gewiß eine der an-
0196ziehendsten. Möge man es nur nicht dabei bewenden und
0197wieder eine Pause von zehn Monaten nachfolgen lassen! Wir
0198werden, wie Hamlet sagt, mit Versprechungen gefüttert,
0199eine Nahrung, die hungrig und mißtrauisch zugleich macht.
0200Was sollte nicht Alles „demnächst“ in Angriff kommen!
0201Loreley“ von Max Bruch, „Astorga“ von Abert, „Hamlet“
0202von A. Thomas, „Die Meistersinger“ von Richard
0203Wagner, „Der Glückstag“ von Auber, „Das Landhaus“
0204von Käßmayer etc. Dazwischen taucht die älteste Seeschlange,
0205Herrn Sulzer’sJohanna von Neapel“, mit erheiternder
0206Consequenz alljährlich wieder auf.


0207Ob gerade „Johanna“, das dringendste Bedürfniß sei,
0208wagen wir nicht zu entscheiden, aber irgend eine Novität sollte
0209rasch nach „Mignon“ vorbereitet werden, um das Vertrauen
0210in die Energie der Direction wieder zu heben. Die so verklärt
0211klimpernden Kassenausweise in der Wiener Zeitung genügen
0212nicht; es wäre doch gar zu traurig, sollte eine Großstadt wie
0213Wien ihr einziges kleines Opernhaus nicht füllen können wäh-
0214rend der Zeit des größten Fremdenzudranges und der Burg-
0215theater-Ferien obendrein. Die Zufriedenheit des einheimischen
0216ständigen Publicums muß zurückerobert werden, mit eigenen
0217Kräften. Wir wünschen wieder Leben und Bewegung in das
0218Institut gebracht, wünschen eine starke, nicht blos eine weiße
0219und schön geformte Hand planvoll die Zügel lenken zu sehen.
0220Die vielen, sich bedenklich häufenden Störungen im täglichen
0221Dienst wollen wir nicht auf Rechnung des abwesenden Direc-
0222tors setzen, obwol sie auf eine stark gelockerte Disciplin hin-
0223deuten. Vom Herzen gönnen wir Dingelstedt seine Muße
0224im Seebade. Möge er uns erfrischt und gekräftigt zurückkeh-
0225ren! Dann aber komme die Reihe der Kräftigung und Er-
0226frischung an das Operntheater.