Wörter einzeln suchen

Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1515. Wien, Dienstag den 17. November 1868

[1]

Rossini.


0002Ed. H. Gioachino Rossini, der genialste und populärste
0003Tondichter Italiens, ist am 14. November in Paris gestorben.
0004Man kann nicht sagen, daß das Ereigniß unerwartet kam, die
0005Krankheit und das hohe Alter des Meisters hatten darauf vor-
0006bereitet. Allein die finstere, unwiderrufliche Thatsache ergreift
0007uns doch ganz anders, als die schlimmste Befürchtung, und
0008kaum wird Jemand unbewegt die Kunde vernommen haben,
0009daß dieses ruhmgekrönte, greise Haupt sich zu ewigem Schlafe
0010gesenkt hat. Wie Goethe, an dessen olympisches Wesen er im
0011Alter vielfach erinnerte, hat auch Rossini den Tod gefürchtet
0012und jede Anspielung darauf gemieden. Er hörte gerne, wenn
0013man ihm von irgend einem hochbejahrten Künstler, z. B. von
0014Moscheles, erzählte, wie derselbe noch frisch und rüstig ein-
0015hergehe. Unser Anakreon von Passy blickte gerne aus nach den
0016theuren Häuptern seiner Altersgenossen und fühlte sich ermu-
0017thigt, wenn ihm keines fehlte. Vor dem frühen Grabe junger
0018Unsterblicher, wie Chopin, Bellini, Donizetti, stand er
0019wie vor einer unverständlichen grausamen Laune der Natur,
0020aber der Tod seines Zeitgenossen Meyerbeer hat ihn tief
0021beängstigt und ergriffen. Mit dem Heimgang Meyerbeer’s war
0022das Triumvirat der gefeiertsten Operncomponisten der Jetzt-
0023zeit, war die musikalische Tiara von Paris gesprengt. Vier
0024Jahre später folgte Rossini, nun steht Auber, der älteste
0025von ihnen, allein. Während Auber, trotz seiner 86 Jahre, heute
0026noch rüstig weiterschafft und zugleich mit dem letzten Athem
0027wol den letzten Tactstrich ziehen wird, war die Thätigkeit Ros-
0028sini’s
seit lange abgeschlossen. Seinen persönlichen Freunden
0029ist Rossini am 14. November gestorben, für die Kunst war
0030er seit 40 Jahren todt. Nach seinem Meisterwerke, dem „Wil-
0031helm Tell“ hatte er die Feder niedergelegt, um nie wieder
0032eine Oper zu schreiben. Am Leben hängend mit der Zärtlich-
0033keit eines Kindes, machte er sich wenig daraus, den Glanz sei-
0034ner meisten Werke zu überleben, aber er verschmähte es, sich
0035selbst wiederholend und nicht mehr einholend weiter zu schaffen
0036und statt des Füllhorns allgemeiner Begeisterung das Almo-
0037sen der Pietät entgegenzunehmen. Mit 37 Jahren! Freilich,
0038es waren Jahre der Thätigkeit, der Freude und des Ruhmes,
0039wie sie wenigen Sterblichen gegönnt sind.


0040Rossini wurde bekanntlich in Pesaro, früher zum Kirchen-
0041staate, jetzt zum Königreiche Italien gehörig, den 29. Februar
00421792
geboren. Sein Vater, ein sorgloser, lustiger Mann, war
0043Stadttrompeter, nebenbei Aufseher der Schlächterei. Er hatte
0044sich mit Anna Guidarini, einer schönen und stimmbegabten
0045Bäckerstochter, vermält und Gioachino blieb die einzige Frucht
0046dieser Ehe. Der Knabe, munter und talentvoll, zeigte einen
0047unüberwindlichen Widerwillen gegen alle schulmäßige Zucht.
0048Eine lateinische Prüfung fiel kläglich aus, ebenso das Resultat
0049eines dreijährigen Clavier-Unterrichtes. Der kleine Gioachino,
0050dem sein Lehrer ohnehin alles Talent abgesprochen hatte, wollte
0051von der Musik nichts mehr hören. Erst als ihn sein Vater 
0052zur Strafe zu einem Grobschmied in die Lehre gethan und er
0053eine zeitlang den Blasbalg getreten hatte, bat er, doch lieber
0054zur Tonkunst zurückkehren zu dürfen. Er wurde nun
0055in das Lyceum von Bologna gebracht, wo er unter
0056der Leitung des P. Mattei, Lieblingsschülers des be-
0057rühmten P. Martini, die Composition studiren sollte.
0058Dieser strenge Pater Mattei, ein Contrapunkt mit einem
0059Menschengesicht, war gewiß der ungeeignetste Lehrer für den
0060zehnjährigen Knaben, in dessen Kopf schon die süßesten Melo-
0061dien zu schwärmen begannen. Ich vergesse es nicht, das gut-
0062müthig ironische Lächeln, mit welchem mir Rossini unter den
0063Porträt-Medaillons, welche die Decke seines Musiksalons in
0064Passy schmücken, den Kopf des P. Mattei zeigte. „Sehen Sie,
0065das ist mein berühmter Lehrer Mattei, bei dem ich so we-
0066nig profitirt habe! Er wollte mich immer nur Fugen, Canons
0067und achtstimmige Messen arbeiten lassen; er meinte es gut,
0068aber ich bin mit meinen kleinen Arien und Canzonetten doch
0069besser gefahren.“ Ob seiner schönen Sopranstimme der gesuch-
0070teste Sängerknabe in Bologna, wurde der kleine Rossini bald
0071auch das musikalische Factotum des dortigen Theaters und di-
0072rigirte eine Anzahl Opern, nach italienischer Sitte am Cla-
0073vier, desgleichen eine von Dilettanten veranstaltete Aufführung
0074von Haydn’sSchöpfung“. Im August 1806 leitete er
0075Opernvorstellungen in Lugo, Forli, Sinigaglia und ande-
0076ren untergeordneten Bühnen, wo seine Mutter mit frühzeitig
0077verblühter Stimme zweite Partien sang und der Vater das 
0078Waldhorn blies. Rossini’s Talent entwickelte sich keineswegs so
0079früh wie Mozart’s, sondern erst ungefähr im zwölften Jahre
0080und unter anhaltendem Widerstreben. Im Jahre 1810 trat
0081er zuerst mit einer einactigen Oper im San Mosè-Theater zu
0082Venedig vor das Publicum, welches den Versuch („La
0083Cambiale di Matrimonio“) sehr beifällig aufnahm. Sein
0084Talent entfaltete sich von da an in überraschender Fülle und
0085Productivität, im Jahre 1812 brachte er nicht weniger als
0086sechs dramatische Arbeiten, alle mit entschiedenem Erfolge, auf
0087die Bühne, darunter „L’Inganno felice“ und „La Pietra
0088del paragone“, zwei Opern, die uns noch heute durch Melo-
0089dienfülle und hinreißendes Temperament fesseln und worin
0090die fertige Physiognomie des Componisten des „Barbier von
0091Sevilla“ schon vollständig ausgeprägt ist. Mit achtzehn Jah-
0092ren hatte Rossini die dramatische Carrière angetreten, mit
0093einundzwanzig war er der erklärte Liebling der Nation. „Tan-
0094cred
“ hieß der entschiedenste Sieg seines Lebens, auf Flügeln
0095der Melodie „Di tanti palpiti“ zog der Ruhm Rossini’s über
0096die Grenzen Italiens, um bald halb Europa zu beherrschen.
0097Tancred“ und „Die Italienerin in Algier“, beide
0098im selben Jahre 1812 in Venedig gegeben, haben den Ruf
0099des jungen Componisten für immer fest begründet und auch
0100nach Deutschland verbreitet, wo Rossini vom Jahre 1816 an
0101Mode wurde. „Tancred“ (der uns jetzt sehr veraltet klingt)
0102siegte mit der Naturgewalt einer überraschenden revolutionä-
0103ren Erscheinung. Alles darin war dem damaligen Publicum
0104Italiens neu: der Charakter der Melodien, die Modu-
0105lationen, die Instrumentirung, vor Allem aber der leben-
0106digere, natürlichere Ton des Ganzen im Vergleiche zu den
0107conventionellen Fesseln der bisherigen steifen Opera seria.
0108Dieses frischere Leben und volksthümlichere Element hatte
0109Rossini aus der ihm besonders ans Herz gewachsenen „Opera
0110buffa“ in die Adern ihrer vornehmeren, prätentiösen Schwester,
0111der „Opera seria“, hinübergeleitet. Nach der Aufführung des
0112Tancred“ hatte Rossini in Italien keinen Nebenbuhler mehr,
0113die großen Theater von Venedig, Mailand und Neapel stritten
0114sich um jede seiner Partituren. Nach den minder erfolgreichen
0115Opern „Aurelio in Palmira“ und „Il Turco in Italia“
0116(1814) gab Rossini sein Meisterstück im komischen Fach, den
0117Barbier von Sevilla“. Rossini war in Verzweiflung, [2]
0118als der Impresario ihm dieses bereits durch Paesiello’s 
0119Musik berühmt und populär gewordene Libretto zu componiren
0120auftrug. In bescheidenster Unterwürfigkeit wendete sich Rossini 
0121an den alten Maestro mit der Anfrage, ob er sich diese Kühn-
0122heit erlauben dürfe. „Er möge nur,“ antwortete mit ironischer
0123Zuversicht Paesiello. Die Zeit drängte. Rossini, der Dich-
0124ter des Librettos, der Copist mit mehreren Gehilfen, Alle
0125waren in dieselbe Wohnung einquartiert und arbeiteten
0126einander ununterbrochen in die Hände. Binnen 13 Tagen
0127war die ganze Oper fertig, Rossini hatte während der ganzen
0128Zeit das Zimmer nicht verlassen. Die erste Aufführung fand
0129am 5. Februar 1816 im Teatro Argentina in Rom statt, un-
0130ter dem (aus Rücksicht für Paesiello geänderten) Titel: „Al-
0131maviva, oder: Die unnütze Vorsicht“. Die Oper fiel unter
0132großem Spectakel durch, da man sich fest vorgenommen hatte,
0133den Rossini’schen „Barbier“ tief unter seinem berühmten Vor-
0134gänger zu finden. Allein schon am nächsten Abend vermochte
0135Niemand den hinreißenden Melodien dieser Musik zu wider-
0136stehen und die Oper ging „alle stelle“.


0137Unmittelbar auf den heitern Barbier folgte der tragische
0138Mohr von Venedig, „Otello“. Diese Oper war für das San
0139Carlo-Theater in Neapel geschrieben, dessen unternehmender
0140Impresario, Barbaja, Rossini für acht Jahre (1814 bis
01411822) engagirt hatte. Barbaja besaß zwar keinerlei Bildung,
0142aber eine feine Spürnase für alle aufkeimenden Talente, außer-
0143dem Rührigkeit und Geschäftsverstand. Man kennt die bedeu-
0144tende Rolle, welche dieser Mann, ursprünglich Kellner in Mai-
0145land, dann französischer Armeelieferant, als Impresario in der
0146Geschichte der italienischen und deutschen Oper gespielt hat.
0147Rossini mußte ihm contractmäßig jährlich zwei neue Opern
0148liefern. Die namhaftesten aus dieser Periode (1815 bis 1822)
0149waren außer „Otello“: „Elisabetta“, „Armida“,
0150Mosè“, „La Donna del Lago“, „Ricciardo
0151e Zoraida
“, „Maometto II.“, sämmtlich für
0152Neapel. Außerdem für Mailand und Rom: „La
0153Cenerentola
“, „La gazza ladra“, „Ma-
0154tilda di Sabran
“, „Edoardo e Cristina“ etc.
0155Barbaja hatte in Neapel außer den beiden Theatern San
0156Carlo und del Fondo auch die öffentliche Spielbank gepachtet,
0157deren Ertrag zum Theil die Kosten der Oper decken mußte.
0158Rossini selbst erhielt damals außer seinem monatlichen Gehalt
0159von 500 Francs eine kleine Tantième von dem Erträgniß der 
0160Roulette. Als in Folge der Revolution vom Jahre 1820 die
0161öffentliche Spielbank verboten wurde, verlor die Oper in
0162Neapel ihre ergiebigste Hilfsquelle, und Barbaja entschloß sich,
0163sein Glück in Wien zu versuchen. Mit einer vortrefflichen
0164Gesellschaft, Rossini und dessen Frau (Isabella Colbrand)
0165an der Spitze, Nozzari, David, Donzelli, Madame
0166Fodor etc., eröffnete Barbaja im Jahre 1822 auf das glän-
0167zendste die Saison im Kärntnerthor-Theater, und zwar mit
0168einer neuen Oper von Rossini: „Zelmira“. Noch in seinem
0169letzten Lebensjahre sprach Rossini mit lebhafter Freude von
0170jenem Wiener Aufenthalt und wie er da zum erstenmal ein
0171vollkommen ruhiges, musikalisch aufmerksames Publicum ken-
0172nen gelernt. Rossini’s Musik versetzte die Wiener in einen
0173Rausch des Entzückens. Sogar der Philosoph Hegel, sonst
0174nichts weniger als ein Musik-Enthusiast, zog mit an dem
0175Siegeswagen des jungen Maestro und schrieb seiner Frau 
0176nach Berlin: „So lange ich Geld für die italienische Oper
0177habe, gehe ich von Wien nicht fort.“ Die deutsche Kritik
0178glaubte sich verpflichtet, achselzuckend und nasenrümpfend auf
0179das „seichte und ungeschulte Talent“ Rossini’s herabsehen zu
0180müssen, in Wien geschah dies übrigens in viel milderer Weise
0181als in Berlin und dem übrigen Norddeutschland. Wenn Fétis 
0182behauptet, die norddeutsche Kritik habe sich „complètement
0183inintelligent“ in Betreff der genialen Natur Rossini’s ge-
0184zeigt, so muß man ihm vollkommen Recht geben. Die deut-
0185schen Journale (zumal die Musikzeitungen) der Zwanziger-
0186Jahre
bieten eine traurige Musterkarte von dünkelhaft abspre-
0187chenden Urtheilen über die Unwissenheit Rossini’s, die Tri-
0188vialität der „Italienerin in Algier“, das lärmende Orchester
0189im „Barbier“ u. dgl. Während das deutsche Publicum (oft
0190nur zu sehr) geneigt ist, sich für ausländische Kunstproducte
0191zu interessiren und zu erwärmen, hat die deutsche Kritik von
0192jeher die Tendenz zu dem anderen Extrem gehabt und italie-
0193nische oder französische Componisten gern, um so tiefer in den Staub
0194getreten, je mehr Freude diese dem Publicum bereiteten. Von
0195Wien wendete sich Rossini nach Venedig, wo er (1823) seine
0196Semiramide“ aufführte, die letzte Oper, die er überhaupt
0197für Italien schrieb. Die Gleichgiltigkeit, mit welcher dieses
0198Werk aufgenommen wurde, trug dazu bei, daß Rossini ohne
0199Bedauern von seinem Vaterlande schied, um nach London und
0200Paris zu gehen.


0201In Paris stieß Rossini auf mancherlei Schwierigkeiten. 
0202Seine Musik, sprudelnd, witzig, glänzend, ohne tiefere Em-
0203pfindung, scheint dem französischen Charakter besonders ver-
0204wandt zu sein, so daß man Rossini für geschaffen halten mochte,
0205der Lieblingscomponist einer Nation zu werden, deren Lieb-
0206lingsautor Voltaire ist. Trotzdem war Rossini’s Wirkung in
0207Frankreich beiweitem nicht so groß, noch so schnell wie in
0208Deutschland. Theils war es jener „Patriotisme d’antichambre“,
0209welcher nur einheimische Producte schätzt, theils der Zunftneid
0210einer einflußreichen Componisten-Coterie, was sich dem Ein-
0211dringen der Rossini’schen Opern entgegenstemmte. Namentlich
0212der ehrgeizige Ferdinand Paër war unermüdlich im Intri-
0213guiren; er hat als Director der Italienischen Oper in Paris 
0214das Kunststück zuwege gebracht, den Parisern Rossini 8 Jahre
0215lang zu verheimlichen. Im Jahre 1824 wurde nun Rossini 
0216zum Director der auf Rechnung der königlichen Civilliste ver-
0217walteten Italienischen Oper in Paris ernannt. Das Institut
0218hatte an dem berühmten Componisten einen ebenso unzurei-
0219chenden Director gewonnen, wie einige Jahre früher an der
0220gefeierten Catalani. Rossini zog sich bald von der Theater-
0221Direction zurück, nachdem er durch die Aufführung des „Cro-
0222ciato“ die Bekanntschaft Meyerbeer’s mit dem Pariser
0223Publicum vermittelt hatte. In Paris spielt sich nun die letzte
0224Periode von Rossini’s schöpferischer Thätigkeit ab. Die eigen-
0225thümlichen und starken künstlerischen Anregungen, die Rossini 
0226in Paris, und insbesondere von der französischen Oper em-
0227pfing, blieben nicht ohne Einwirkung auf seinen Styl. Zwar
0228wußte der immer bequemer werdende Maestro anfangs die
0229Hoffnung der Pariser auf eine Reihe von Originalwerken zu
0230täuschen und sich mit der Bearbeitung älterer italienischer
0231Opern abzufinden. So entstand die französische Bearbeitung
0232der „Semiramide“, so „Le siège de Corinthe“ aus
0233dem „Maometto“, „Moïse“ aus dem älteren „Mosè“. Rossini 
0234hatte jedoch den Punkt erkannt, wo der musikalische Ge-
0235schmack der Franzosen von dem seiner Landsleute abwich.
0236Seit Gluck waren die Franzosen an dramatisches
0237Leben, an declamatorischen Schwung, vorzüglich aber
0238an kräftige, lebendig eingreifende Chöre gewöhnt. Rossini com-
0239ponirte in diesem Sinne größere dramatische Ensembles hinzu,
0240und gerade diese mit Ernst und Sorgfalt gearbeiteten neuen
0241Stücke, welche Rossini im „Moïse“, „Siège de Corinthe“ etc.
0242dem dramatisch entwickelteren Geschmack der Franzosen dar-
0243brachte, bilden seitdem die Glanzstellen dieser Opern. Außer [3]
0244jenen Bearbeitungen schrieb Rossini für Paris zwei neue
0245Opern: „Le comte Ory“, ein elegantes, liebenswürdiges Lust-
0246spiel, und sein Meisterstück im ernsten Styl: „Guillaume
0247Tell
“. Von dem Tage der ersten Aufführung des „Tell“,
0248dem 3. August 1829, kann man eine neue Phase der drama-
0249tischen Musik, und nicht blos in Frankreich, datiren. Nur
0250Auber war ihm mit der „Stummen von Portici“ (1828)
0251in verwandtem Sinne, aber mit viel kleineren, fast liedartigen
0252Formen, unmittelbar vorangegangen. Es folgte Meyerbeer,
0253dessen „Hugenotten“ (1836) wir uns ohne den Einfluß von
0254Rossini’s „Tell“ kaum denken können. Eine so imposante
0255Wandlung, wie sie Rossini, nachdem er an 40 Opern geschrie-
0256ben hatte, schließlich im „Tell“ aufweist, kommt in der Ge-
0257schichte der Musik kein zweitesmal vor. Im „Tell“ leistete
0258Rossini’s Talent nicht nur sein Höchstes, sondern etwas
0259geradezu Anderes; das Werk steht so eigenthümlich
0260und isolirt gegen alles Frühere, daß es immer stillschwei-
0261gend ausgenommen ist, wenn man von „Rossini’scher
0262Musik“ überhaupt spricht. Seine musikalische Erfindung hat
0263hier ihre höchste Kraft und Ueppigkeit erreicht; dabei fließt sie
0264nicht mehr tändelnd, undramatisch, nachlässig dahin, sie strebt
0265männlich, ernst, machtvoll empor. Wäre die Partitur des
0266Tell“ so gleichmäßig und übereinstimmend, wie ihre Einzel-
0267heiten prachtvoll sind, ständen insbesondere die beiden letzten
0268Acte auf der Höhe der zwei ersten, so müßte das Werk nicht
0269nur vollendet, sondern ohne Frage auch das vollendetste Ros-
0270sini’s
heißen. Angesichts des „Barbier von Sevilla“ läßt
0271sich darüber streiten. Dieser gehört als eigentliche Buffo-
0272Oper allerdings einer geringeren Gattung an und besitzt keine
0273Nummer, die man isolirt den besten Musikstücken des „Tell“
0274an die Seite stellen könnte; allein der „Barbier“ ist ein viel
0275einheitlicheres Ganzes und vollständig congruent mit Rossini’s 
0276eigenster Natur, welche von Haus aus weit mehr dem Heite-
0277ren und Komischen zugewendet war, als dem Heldengedicht
0278und der Tragödie. Ich bin sehr ungläubig in Bezug auf
0279die angebliche „Unsterblichkeit“ von Opern-Compositionen; das
0280Studium der Geschichte der Musik, welche so viele unange-
0281zweifelte „Unsterblichkeiten“ im Opernfache vorführt, die längst
0282verschollen sind, kann in dieser Ketzerei nur bestärken. Wenn
0283aber zwei moderne Opern das Verdienst und die Aussicht
0284einer sehr langen Lebensdauer haben, so sind es gewiß 
0285Rossini’s „Barbier“ und „Wilhelm Tell“. — Aber so be-
0286trübend es ist, man muß beifügen, daß von allen Ros-
0287sini’schen Opern nur noch „Tell“ und der „Barbier“ ihre
0288volle Wirkung und Lebenskraft besitzen. Nur sie sind in
0289Wahrheit auf dem heutigen Repertoire heimisch und unentbehr-
0290lich. Nur hie und da und nur wenn vortreffliche italienische
0291Sänger interveniren, kommen noch die „Italienerin“, „Cene-
0292rentola“, „Mosè“, „Semiramis“, „Othello“ und „Die Bela-
0293gerung von Korinth“ zum Vorschein. Jede dieser Opern ent-
0294hält einzelne wundervolle Nummern, aber mit jedem Jahre
0295scheint ein immer größeres Stück der Partitur zu verblassen,
0296vorzüglich in den vier tragischen Opern. Man hat in Wien in
0297den letzten Jahren Gelegenheit gehabt, diese Wahrnehmung
0298wiederholt zu erproben. Ohne den Schmuck vorzüglicher Ge-
0299sangsvirtuosen, also durch die bloße eigenste Kraft der Musik,
0300wirken diese Opern kaum mehr; sie sind daher auch von den
0301deutschen Bühnen so gut wie verschwunden. Alle übrigen Opern
0302Rossini’s, also die weitaus zahlreichsten, sind verschollen. Man
0303darf die Gegenwart darob nicht schelten. Rossini hat sein genia-
0304les Vermögen sorglos und leichtfertig verschwendet, er hat dem
0305Modegeschmack und der eigenen Bequemlichkeit allzu willigen
0306Tribut geleistet. Rossini’s Musik, wie er sie gewöhnlich schrieb,
0307trägt den Keim raschen Absterbens schon in sich, denn sie hat
0308Glanz, Esprit, Sinnenreiz, aber kein Herz. Seine Personen
0309singen tändelnd, wollüstig, geistreich auch da, wo wir sie innig,
0310rührend, leidenschaftlich wünschten. Minder reich und ursprüng-
0311lich begabt, sind doch Bellini, Donizetti, selbst Verdi unserem
0312Meister in der Sprache des Herzens überlegen; sie haben Töne
0313der Sehnsucht und Leidenschaft angeschlagen, für welche der Lyra Ros-
0314sini’s vielleicht nicht die Saiten fehlten, aber jedenfalls die Stimmung.
0315Dazu kommt, daß Rossini 15 Jahre lang sich fortwährend
0316selbst wiederholte und nicht müde wurde, musikalischen Zierrath,
0317der mit dem Reiz der Neuheit drei Viertheile seiner Wirkung
0318verliert, immer wieder in den Vordergrund zu stellen. Es
0319konnte nicht fehlen, daß man dieser Ueberfülle von stereotypen
0320Coloraturen, Triolen-Passagen, Bettelcadenzen, Crescendos und
0321Brillenbässen bald satt wurde. Lesen wir doch in der Corre-
0322spondenz des größten und einseitigsten Rossini-Enthusiasten,
0323Stendhal, aus Mailand schon in den Jahren 1820 bis 1822 
0324wiederholt die Worte: „On se dégôute de Rossini“,
0325Rossini ne fait que se répéter“ u. s. f. Das war kein 
0326Wunder bei einem Componisten, der jährlich drei bis vier Opern
0327schrieb und selten früher als 14 Tage vor der Probe zu schrei-
0328ben anfing. Die Kunst durfte ihn im Genuß des Augenblicks
0329nicht stören und hatte vor Allem für den Genuß des morgigen
0330Tages zu sorgen. Die Flüchtigkeit, mit der Rossini seine Opern
0331schrieb, fand ihresgleichen nur in der Bescheidenheit, mit wel-
0332cher er von ihnen sprach. Was Rossini der Welt geworden
0333wäre, hätte er zu seinem Genie den künstlerischen Ernst und
0334die sittliche Kraft eines Mozart oder Beethoven besessen — das
0335ist ein Gedanke, nicht auszudenken.


0336Nachdem Rossini im Jahre 1829 die Feder niedergelegt
0337hatte, mit der er den „Wilhelm Tell“ geschrieben, nahm er sie
0338nur mehr selten und flüchtig zur Hand, um irgend ein Ge-
0339legenheitsstück, meist für seinen engeren Freundeskreis, zu
0340componiren. Nur Eines derselben entschloß er sich zu ver-
0341öffentlichen, das „Stabat mater“ (1841), eine Composition, die
0342zwar wenig kirchliche Würde, aber die blühendste Melodien-
0343schönheit offenbart. Zwei kleinere (ungedruckt gebliebene)
0344Chöre: „Chant des Titans“ und „Chant de Noël“, sendete
0345Rossini im Jahre 1866 nach Wien zur Aufführung in dem
0346von der Gemeinde für Mozart’s Denkmal veranstalteten Con-
0347certe. In seiner Zuschrift bat er „um Nachsicht für die beiden
0348bescheidenen Compositionen, welche nur das Eine Verdienst
0349haben, von einem Greise zu kommen, der stets ein Anbeter
0350Mozart’s gewesen“. Die unbegrenzte Verehrung für Mozart 
0351bildete einen der rührendsten Züge in Rossini’s Leben. Was
0352ihm in der Tonkunst als das Größte und Herrlichste erschien,
0353er faßte es in den Namen „Mozart“ zusammen. Wie er
0354Mozart musikalisch verwandt ist durch seinen feinen Formensinn,
0355seine maßhaltende Grazie, seine schöne Sinnlichkeit, so theilte
0356er auch sonst Manches mit ihm, z. B. die Fähigkeit, im
0357größten Geräusch, von plaudernden Freunden umgeben und
0358selber plaudernd zu componiren. Die meisten seiner Compo-
0359sitionen hat Rossini in solch lustigem Freundeskreis, während
0360eines Festes oder Gastmals, componirt. Das Gastmal des
0361Lebens ist zu Ende für den lebensfrohen, freundlichen alten
0362Herrn. Er hat seine geliebten „Champs Elysées“ verlassen,
0363um jene sagenhaften elysäischen Felder aufzusuchen, wo die
0364Schatten der großen Todten in seliger Ruhe und Heiterkeit
0365lustwandeln. Er hofft wol nicht vergebens, daß Mozart ihm
0366da entgegenkomme und ihm zurufe: Mein lieber Sohn!