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Neue Freie Presse
Morgenblatt
No. 1536. Wien, Dienstag den 8. December 1868

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Hofoperntheater.

(„Sprühfeuer.“ „Guten Abend, Herr Pantalon!“)


0003Ed. H. Wenig neue Ballete gibt es, über die sich weniger
0004sagen ließe, als über St. LéonʼsFiamma dʼamore“,
0005oder „Sprühfeuer“, wie hier der Name unpassend übersetzt
0006ist. In solchem Falle pflegen wir zum Ballet-Referat com-
0007mandirten Musik-Kritiker uns damit zu helfen, daß wir den
0008meist geheimnißvollen Inhalt des Tanzpoems entwirren. Das
0009neue Ballet gehört nicht zur Gattung der frivolen Lebensbil-
0010der wie die „Carnevals-Abenteuer“, noch zu den aufregenden
0011Historien à la „Gräfin Egmont“ oder „Esmeralda“, es ist
0012milder mythologischer Kindermeth. Unbeschäftigte Götter und
0013insipide Menschen wirken hier brüderlich zusammen, um das
0014„genre ennuyeux“ in der Balletkunst hervorzubringen. Beim
0015Aufziehen des Vorhangs erblicken wir einen etwas schäbigen
0016Tempel der Liebe, vor welchem Gott Amor Hof hält. Wir
0017erkennen unter dem Gewölk einer sehr umfangreichen blonden
0018Perrücke die feingeschnittenen Züge Fräulein Stadelmayerʼs,
0019von der wir nur wünschten, sie möchte als Gott Amor sich
0020etwas weniger an das Ballerinen-Costüm und etwas mehr an
0021die classische Antike halten. Es kommt Merkur herbei und —
0022jetzt citiren wir wörtlich das gedruckte Libretto — „zeigt Amorʼn
0023an, daß seine Macht auf der Erde durch den Grafen Stern-
0024hold mißkannt wird, einem Wüstling und Lebemann, welcher,
0025nachdem er sein Vermögen und sein Recht auf den Rang
0026eines Grafen vergeudet hat, die Prinzessin Jolanda hei-
0027raten will, durch eine Verbindung, welche diese nur un-
0028glücklich machen würde“. Amor beschließt, solchen Frevel zu
0029strafen, und bildet zu diesem Zwecke aus der im Tempel bren-
0030nenden Flamme eine schöne Person in Gestalt der Salvioni,
0031nennt sie „Sprühfeuer“ und fährt mit ihr zur Erde nieder.
0032Auch dieser Planet hat bekanntlich seine kleinen Freuden, wie uns
0033der Anblick des jungen Sternhold neuerdings beweist. Der junge
0034Geld- und Grafenvergeuder unterhält sich prächtig inmitten
0035hübscher Mädchen in seinem Gartenpavillon, welcher die Auf-
0036schrift trägt: Der Liebe verschlossen. Die anhaltende Be-
0037schäftigung Sternholdʼs mit den jungen Tänzerinnen erregt
0038anfangs unsere stärksten Zweifel an der Aufrichtigkeit jener 
0039Ueberschrift. Offenbar ist aber nur ein Seitenzweig der Liebe,
0040die sogenannte platonische, damit gemeint, und für diese soll
0041der junge Cavalier nunmehr gewonnen werden. Zu diesem Be-
0042hufe greift Amor, der als eleganter Sportsman verkleidet sich
0043mit „Sprühfeuer“ in die Gesellschaft einschmuggelt, zu einem
0044sonderbaren Mittel. Er läßt einen kleinen gedeckten Tisch
0045vorschieben, auf welchem Fräulein Salvioni langsam eine
0046Reihe malerischer Stellungen oder Liegungen liberalsten Cha-
0047rakters ausführt. Nun sind die schönen Beine dieser
0048Dame bekanntlich schon auf ebenem Boden von einer gewissen
0049Beredsamkeit; kein Wunder, daß sie von erhöhtem Podium
0050herab Herrn v. Sternhold von der Nichtigkeit seiner bisherigen
0051Lebensweise mächtig überzeugen. Er verliert die Besinnung und
0052seine Portal-Aufschrift Einen Buchstaben — wir lesen jetzt:
0053„Der Liebe erschlossen!“ Leider auch dem Herrn Papa er-
0054schlossen, der plötzlich wie ein ergrauter Truthahn in die lustige
0055Gesellschaft springt und seinem Sohne eine Moralpredigt
0056à la Germont in der „Camelien-Dame“ voragirt. Bei den
0057jungen Leuten macht er wenig Glück, wir aber danken diesem
0058malerischen Zwitterding von Räuberhauptmann, Magnat und
0059Schafhirt für den einzigen Strahl von Komik, den sein Er-
0060scheinen (freilich ganz unabsichtlich) in die lange, seriöse Ge-
0061schichte warf. Schließlich gelingt es diesem seltenen Vogel doch,
0062seinen Sohn mit sich fortzuziehen, und zwar in den Palast
0063der reichen Prinzessin Jolanda, welche Sternhold ihrer Mit-
0064gift wegen — schon so prosaisch in mythologischer Zeit! —
0065heiraten soll. Man feiert das Verlobungsfest, bei dem auch ein
0066allerliebster kleiner Notar, als Stadelmayer verkleidet, erscheint,
0067an dessen Seite sich abermals die stattliche, schwarzäugige „Lie-
0068besflamme“ mitten in die Ereignisse schlängelt. Bei ihrem
0069Anblicke wird Sternhold, nach Versicherung des Textbuches,
0070„leidenschaftlicher als je“ und „allgemeine Verwirrung ent-
0071steht“. Der Notar zerreißt, offenbar mit Ueberschreitung seines
0072amtlichen Wirkungskreises, den Contract und verbindet Jolanda 
0073mit einem ihr angenehmen, goldverschnürten Rittmeister. Sprüh-
0074feuer jedoch versinkt vor den Augen des verwunderten Stern-
0075hold in die Erde, um, wie zu Anfang, wieder als Reisnerʼsche
0076Phöbuslampe im Liebestempel zu fungiren. „Alle Anwesenden
0077beugen sich vor der Macht des strafenden und lohnenden Got-
0078tes der Liebe,“ indem sie (wie wir uns zu ergänzen erlauben)
0079krampfhaft auf die Uhr sehen und, das längst vorbereitete 
0080Garderobe-Sechserl, hoch emporhaltend, gegen den Ausgang
0081stürzen.


0082Das Ballet spielt offenbar zu lang; da es trotzdem ge-
0083fallen hat, so dürfte es, tapfer gekürzt, künftig noch besser ge-
0084fallen. Die Handlung bietet allerdings kein spannendes In-
0085teresse, sie bringt weder originelle Charaktere, noch über-
0086raschende Situationen, noch endlich die unschätzbare Würze
0087komischer Episoden. Aber einige national gefärbte Tänze
0088(russisch, polnisch, ungarisch) wirken frisch und lebhaft; einzelne
0089Effecte, wie die tanzenden Leuchtkäfer, bieten einen hübschen
0090Anblick, und durch geschickte Verwendung von Magnesium und
0091buntem Bengalfeuer geht dem Zuschauer manches angenehme
0092Licht auf. Die Ausstattung verdient kein übermäßiges Lob;
0093machten die schmucken Amoretten ihrem göttlichen Comman-
0094danten alle Ehre, so warfen die Krieger und Hofdamen im
0095letzten Acte ein desto entsetzlicheres Licht auf den angeblichen
0096Wohlstand und das savoir vivre der Prinzessin Jolanda. Die
0097Musik des Herrn L. Minkus, eines talentvollen, in Ruß-
0098land lebenden Oesterreichers, verdient ermunternde Anerken-
0099nung. Sie hält sich fern von der lärmenden Trivialität der
0100meisten Balletmusiken, verräth Sorgfalt, technische Gewandt-
0101heit und erhebt sich in den Nationaltänzen mitunter zu melo-
0102diösem und rhythmischem Reiz. Das größte Verdienst um
0103Sprühfeuer“ hat ohne Frage die Darstellerin der Titelrolle,
0104Fräulein Salvioni, deren kühner und kunstvoller Tanz von
0105ununterbrochenem Applaus begleitet war. Ihr zunächst ernteten
0106auch die Tänzerinnen Stadelmayer, Wildhack, Char-
0107les
, die Herren Frappart und Calori wiederholt Zeichen
0108des Beifalls.


0109Vor dem Ballet wurde die einactige komische Oper:
0110Gute Nacht, Herr Pantalon“, von A. Grisar, mit
0111durchaus neuer Besetzung gegeben. Der derbkomische Stoff
0112verbindet sich hier mit einer munteren, zierlichen Musik zu
0113einem anspruchslosen, aber durchwegs ergötzlichen Genrebild.
0114Schade nur, daß unser Publicum den Inhalt der Posse aus
0115verschiedenen Bearbeitungen, wie „Die Mördergrube“ (im Burg-
0116theater), „Herr Stutzerl“ (im Carltheater) und dergleichen schon
0117seit lange kennt. Wer könnte sie vergessen, jene chromatische
0118Tonleiter aller denkbaren Grimassen, welche Nestroyʼs Gesicht
0119beim Trinken des angeblichen „Stinkenbrunners“ auf und
0120ab spielte! Trotzdem wird Grisarʼs feine, fröhliche, mitunter [2]
0121geistreiche Musik nirgends ihre Wirkung verfehlen. Schon der
0122Anfang der Operette (drei Damen, jede aus einer anderen
0123Thür durch eine Serenade hervorgelockt) enthält eine der wirk-
0124samsten Situationen für die komische Oper. Dieses Terzett
0125ist sehr hübsch componirt, noch hübscher das Quartett:
0126„Gute Nacht“, dessen angstvoll mahnendes chromatisches
0127Thema den tragikomischen Sinn des Momentes treffen-
0128der wiedergibt, als das recitirende Schauspiel es vermag.
0129Die Aufführung verdient im Ganzen das aufrichtigste Lob
0130und fand einhelligen Beifall. Bei der geringen Uebung un-
0131serer Hofopernsänger im komischen Fache, zumal mit gesproche-
0132nem Dialog, mußte die Schlagfertigkeit und Natürlichkeit der
0133ganzen Darstellung doppelt angenehm überraschen. Obenan
0134stand Herrn Mayerhoferʼs Dr. Pancrazio, eine köstliche
0135Charakterfigur, welche von dem jovialen Pantalon (Herrn
0136Lay) und dem girrenden Liebhaber Lelio (Herrn Re-
0137genspurger
) bestens unterstützt wurde. Herr Re-
0138genspurger
hat ein entschiedenes Buffotalent, dem selbst
0139sein kleines, schüchternes Stimmchen für komische Effecte zu statten
0140kommt. Ob dieser Miniatur-Tenor sich auch werde ernsthaft
0141verwenden lassen, ist eine andere Frage. Von den Damen ist
0142diesmal Fräulein Tellheim zuerst zu nennen, die wir nie-
0143mals so gewandt sprechen und spielen gesehen, wie als Colum-
0144bine. Auch Fräulein Gindele entwickelte als komische
0145Alte eine überraschende Laune und Natürlichkeit. Nur mit
0146dem eleganten weißen Negligé fällt sie ganz zum Schluß aus
0147der Rolle: hier muß ein möglichst komisches Nachtcostüme die
0148Wirkung der Situation unterstützen. Fräulein Siegstädt 
0149gab sich die redlichste Mühe, blieb aber trotzdem, wie gewöhnlich, in
0150Spiel, Vortrag und Erscheinung starr und automatenhaft.


0151Seit Jahren geschah es wieder zum erstenmale, daß man
0152dem Ballet ein kleines Singspiel vorausschickte. Wir möchten
0153diese Gepflogenheit gern erhalten sehen. Liegt es doch in der
0154Natur des Ballets, daß es keine lange Dauer verträgt, daß
0155es schneller als jede andere Theatergattung abspannt und lang-
0156weilt. Eigentlich ist jedes Ballet, das den ganzen Abend aus-
0157füllt, zu lang. Die Kürzung desselben zu Gunsten einer voran-
0158gehenden Operette kommt dem Ballete selbst zu statten. Wie
0159Hufeland behauptete, dem Esser sei dasjenige von den Spei-
0160sen am gesündesten, was er auf dem Teller liegen läßt, so 
0161möchten wir die weggestrichenen Scenen eines Ballets für die
0162seinem Erfolge günstigsten ansehen. In früheren Jahren,
0163unter Ballochino, noch mehr unter Düport, waren im
0164Hofoperntheater die einactigen Operetten vor dem Ballete
0165Regel. Man verwendete freilich allmälig immer weniger
0166Sorgfalt darauf, so daß der größere Theil des Publicums
0167erst zum Ballet ins Theater kam. In der Sache selbst
0168lag der Uebelstand nicht, denn als der „Dorfbarbier“
0169mit dem köstlichen Gesangskomiker Baumann zur Auffüh-
0170rung gelangte, geschah das Umgekehrte: die Leute strömten
0171massenhaft zum „Dorfbarbier“ und überließen das nachfolgende
0172Ballet halbleeren Bänken. Das ältere und neuere französische
0173Repertoire bietet eine reiche Fundgrube an unterhaltenden,
0174melodiösen, leicht darzustellenden Operetten. Auch die heimischen
0175Compositions-Talente könnte man für dieses Genre vielleicht
0176am zweckmäßigsten anregen und nutzbar machen. Diese einacti-
0177gen Vorspiele („Lever du rideau“, wie sie die Franzosen
0178nennen) empfehlen sich aber nicht blos zur Abwechslung an
0179Ballett-Abenden, sondern ebensosehr als Zugabe zu Opern von
0180kurzer Theaterdauer. Man muß es doch endlich kleinstädtisch
0181finden, wenn ein Wiener Hoftheater Vorstellungen wie
0182Stradella“, „Regimentstochter“, „Nachtwand-
0183lerin
“, „Postillon“ etc. durch äußersten Miß-
0184brauch der Zwischenactspausen auf einen ganzen Abend
0185ausdehnt und das Publicum um 9 Uhr nach Hause schickt.
0186Selbst unter dem rein materiellen Gesichtspunkte der hohen
0187Eintrittspreise erscheint so schmale Kost unbillig. In Paris 
0188oder London würde man sich dafür bedanken. Da gibt man
0189entweder zwei Opern von dem Umfange der genannten an
0190Einem Abend (wir haben „Martha“ und „Richard Löwen-
0191herz“, „Postillon“ und „Lalla Rookh“, den „Schwarzen Do-
0192mino“ und „Marie“ von Herold an je Einem Abend gehört)
0193oder man schickt noch lieber zwei einactige Operetten von
0194Boieldieu, Adam, Auber, Thomas etc. voraus. Der Theater-
0195schluß um Mitternacht widerstrebt den deutschen Lebens-
0196gewohnheiten, aber um Einen Schritt sollte man sich in Wien 
0197doch dem französischen und englischen Beispiele nähern und
0198allzu kurze Opernabende nicht durch tödtliche Zwischenacte,
0199sondern durch Zugabe eines heiteren Singspieles auf eine civi-
0200lisirte Dauer bringen.