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Neue Freie Presse
Morgenblatt
Nr. 2279. Wien, Samstag, den 31. December 1870

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Zur Erinnerung an die Sängerin Schebest.

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0002Ed. H. Als wäre er allzusehr beschäftigt auf den Schlacht-
0003feldern von 1870, hat der Sensenmann in diesem Jahre unter
0004den Tonkünstlern mäßiger als sonst aufgeräumt. Während in den
0005letzten Jahren die gefeiertesten Namen, wie Meyerbeer, Ros-
0006sini
, Berlioz, Karl Löwe, Alexander Dreyschock, fast
0007mit Einem Zuge von der Tafel des Lebens gelöscht waren, hat
0008im Jahre 1870 die Musik nur wenige bemerkenswerthe Verluste
0009zu verzeichnen: die Opern-Componisten Mercadante und
0010Balfe, den Violin-Virtuosen de Bériot, Ignaz Mosche-
0011les
, Joseph Strauß und Agnese Schebest. Die drei Letzt-
0012genannten sind Oesterreicher. Die eben eingelangte Nachricht von
0013dem Tode der einst hochgefeierten Sängerin Schebest hat auch
0014in Wien lebhafte Erinnerungen an ihre Kunst geweckt. Erinne-
0015rungen, die wol längere Zeit geschlummert, da die Künstlerin
0016seit etwa 30 Jahren dem Theater entsagt und in Stuttgart zu-
0017rückgezogen gelebt hatte. Ein literarisches Denkmal ihrer Künst-
0018lerlaufbahn überlebt sie: die Memoiren, welche sie unter dem
0019Titel: „Aus dem Leben einer Künstlerin“ selbst ver-
0020faßt und veröffentlicht hat.


0021Die musikalische Literatur ist sehr arm an Selbstbiographien
0022bedeutender Künstler. Es muß dieser Mangel, abgesehen von
0023dem allgemeinen Werthe eigener Lebensbeschreibungen, in der
0024Musik doppelt schmerzlich genannt werden. Einmal wären die
0025Mittheilungen denkender Künstler, schaffender oder reproduciren-
0026der, über ihre Art und Weise, eine künstlerische Idee zu fassen,
0027zu verarbeiten und auszuführen, unschätzbar für das Verständniß
0028jenes geheimnißvollen Processes, welchen wir das künstlerische
0029Schaffen nennen. Wird dieser Proceß in seinem Innersten auch
0030stets geheimnißvoll bleiben, so vermöchten doch die Selbstbeobach-
0031tungen, welche verschiedene Künstler zu verschiedenen Zeiten und
0032Gelegenheiten darüber anstellen, hellere Blicke in die Arbeitsstätte
0033der Phantasie zu gewähren, als manche geschlossene Theorie. Die
0034Fülle concreter Beobachtungen und Erlebnisse ist es ja meistens,
0035was in diesem Punkte dem theoretischen Aesthetiker abgeht. Die
0036Selbstbiographie bedeutender Tonkünstler und Virtuosen steht aber
0037ferner noch in einem großen Vortheil durch die wechselnde Scene
0038und den Reichthum an äußeren Erlebnissen. Während mancher
0039große Dichter oder Gelehrte nie aus den Mauern seiner Ge-
0040burts- oder Universitätsstadt herauskommt, bringt es der Beruf
0041der Sänger, Schauspieler und Virtuosen fast immer mit sich,
0042daß sie große Reisen unternehmen, sich in den bedeutendsten Krei-
0043sen bewegen, Kunst und Künstler an den verschiedensten Haupt-
0044punkten europäischer Cultur kennen lernen.


0045Die gleichsam selbstverständliche Sicherheit, mit der man bei
0046Künstler-Biographien auf den doppelten Vorzug eingehender arti-
0047stischer Beobachtungen und bewegter äußerer Schicksale zählt, hat
0048auch den Memoiren der Schebest eine günstige Aufnahme be-
0049reitet.


0050Den anziehendsten Theil derselben bildet die Schilderung
0051der Jugendzeit.


0052Gleich die Heiratsgeschichte der Eltern ist einzig in ihrer
0053Art. Agnesens Vater war Minenführer in der Festung Theresien-
0054stadt bei Leitmeritz und konnte kein Wort Deutsch. Wenn er in
0055das elterliche Haus seiner nachmaligen Frau kam, lief diese regel-
0056mäßig auf und davon; sie konnte die Soldaten nicht leiden und
0057sprach obendrein keine Sylbe Böhmisch. Dennoch kam Schebesta 
0058— so lautet ursprünglich der Name — getreulich immer wieder,
0059und ein Onkel mußte den Dolmetsch machen. Bald darauf nach
0060Wien versetzt, wurde dieser genügsame Verehrer aus Sehnsucht
0061nach seiner Rosalia so gemüthskrank, daß man über seinen be-
0062dauernswürdigen Zustand die Mittheilung an den comman-
0063direnden General in Theresienstadt machte. Dieser ließ der hart-
0064herzigen Angebeteten durch seinen Adjutanten melden, daß, wenn
0065sie nicht augenblicklich nach Wien ginge und den Schebesta heirate,
0066er sie dazu zwingen werde. Alle Gegenvorstellungen halfen nur so
0067viel, daß der General der Braut die Reisekosten zahlte.


0068Die Ehe der beiden Leute war glücklich, bis im Jahre 1815 
0069Schebesta durch eine unglückliche Minensprengung bei Alessandria 
0070schwerverletzt und zeitlebens invalid wurde. Seine Frau erhielt
0071in der Festung Theresienstadt freie Wohnung und eine kleine
0072Pension; kümmerlich genug erhielt sie sich und ihre beiden kleinen
0073Töchter. Die Verfasserin ergeht sich mit gerührtem Behagen in
0074den Erinnerungen jener dürftigen und doch so zufriedenen Kinder-
0075jahre, in welchen sie für ein Stück Geld oft bis in die Nacht
0076hinein nähte.


0077Durch ein aufmunterndes Wort des Fürsten Ypsilanti, der
0078als Gefangener in Theresienstadt internirt war, wurde der dortige
0079Schullehrer auf die Stimme der kleinen Agnes aufmerksam ge-
0080macht und veranlaßt, sie bald in der Kirche mitsingen zu lassen.
0081Wie sich die Geschicke oft gar seltsam ineinanderfügen, so sollte
0082gerade die Schullehrerin in Theresienstadt eine Schwester des
0083sehr geachteten Gesanglehrers Miksch in Dresden sein. Auf die
0084oftbewährte Herzensgüte dieses alten biederen Musikers wurde [3]
0085nun die Hoffnung für Agnesens Zukunft gebaut. In der That
0086nahm sich Miksch des armen Mädchens väterlich an. Agnese 
0087brachte so gut wie nichts von musikalischen Kenntnissen mit;
0088durch die treffliche Methode des Alten, der auch eine Schröder-
0089Devrient gebildet hatte, wurde die schöne Stimme des Mädchens
0090immer besser geschult, und bald konnte es in den Chor der Dres-
0091dener Hofoper eintreten. Es waren Jahre entbehrungsvollen
0092Lebens, rastlosesten Studiums. Benjamin in „Joseph und seine
0093Brüder“ war die erste Rolle der Schebest. Der Erfolg war
0094günstig, und so befestigten sich Agnesens erste Schritte auf der
0095neuen Laufbahn immer mehr. Die alte Schauspielerin Werdy,
0096als frühere Madame Voß ein Liebling der Weimarer und Goethe’s,
0097unterrichtete Agnesen im Sprechen und Spielen. (Ihr Mann
0098war der Schauspieler Werdy, dem die „Frau Rath“, Goethe’s
0099Mutter, als er im Frankfurter Theater in einem Goethe’schen
0100Stück spielte, zur Loge heruntergerufen hat: „Recht schön, Herr
0101Werdy, ich werde das meinem Sohne schreiben.“)


0102Auch im Drama mußte Agnese mehreremal auftreten, zuerst
0103als Dorothea in „Hermann und Dorothea“, als Thekla im „Wal-
0104lenstein“ u. s. w. Diese Versuche gelangen so gut, daß Tieck be-
0105dauern durfte, die Schebest sei nicht Schauspielerin geworden,
0106sowie auch Emil Devrient mit einem biederen „Bleib’ bei uns,
0107was willst du drüben bei den Auserwählten?“ die junge Künst-
0108lerin von der Oper abtrünnig machen wollte. Gelang dies nun
0109auch nicht, so hat die Sängerin später doch nie zu bedauern ge-
0110habt, was die Schauspielerin gelernt hatte. Ihrer großen Dar-
0111stellungsgabe hat sie stets die Hälfte ihrer späteren Triumphe zu
0112danken gehabt, und manche unserer ersten Sängerinnen könnte
0113wahrhaftig Gott danken, wäre sie als Mitglied einer kleineren
0114Bühne einst genöthigt gewesen, sich als Schauspielerin zu ver-
0115suchen, spielen und vor Allem — sprechen zu lernen. Die Doppel-
0116Beschäftigung der Schebest am Dresdener Theater ist noch ein
0117schwacher Nachhall jener vielseitigen Anforderungen, die man ehe-
0118mals an Schauspieler stellte.*)


0130Agnese erhielt nun bald größere Rollen und Gagen, folgte
0131aber dennoch nach Ablauf ihres Contractes (1832) einem Engage-
0132ments-Anerbieten nach Pest, da die übermäßige Anstrengung in
0133Dresden sie zu ruiniren drohte. In Pest begann Agnesens eigent-
0134liche und gefeierte Künstlerlaufbahn. Nachdem sie zumeist Rossi-
0135ni’sche Helden, Arsace, Malcolm u. dgl., gesungen und sich ver-
0136gebens nach einem „recht classischen Stück Arbeit“ gesehnt, mußte
0137sie auch Bellini’s Romeo einstudiren, der ihr jedoch bald lieb
0138wurde und fortan ihre berühmteste Rolle blieb.


0139Bei einer Aufführung der „Zauberflöte“ in Pest ergab es
0140sich damals, daß zwei Sänger (Babnigg und Cibulka) beide den
0141Mohren singen wollten und auch wirklich beide mit den Worten:
0142„Du feines Täubchen nur herein“ zugleich auf die Bühne stürz-
0143ten — eine großartige Ergötzlichkeit, wie wir sie aus dem „Thea-
0144tralischen Unsinn“ her kennen.


0145Agnesens stattliche Persönlichkeit scheint manches Auge auf
0146sich gezogen zu haben, so bescheiden sie selbst davon spricht. Der
0147unbescheidenen Annäherung eines hochgestellten Officiers in Pest 
0148begegnete sie so entschieden, daß dieser arg compromittirt war und
0149bald das Gerücht sich verbreitete, er wolle die spröde Sängerin
0150auf der Bühne erschießen lassen. Mehrere Wochen wagte sie es
0151deßhalb nicht, aufzutreten oder aus dem Hause zu gehen. Erst
0152nachdem der Beleidigte Pest verlassen hatte, trat sie zitternd wie-
0153der (als Eglantine) vor das Publicum, welches sie mit jubelndem
0154Zuruf empfing.


0155Ueberhaupt scheint Agnese im Leben nicht die leidenschaft-
0156liche Empfänglichkeit besessen zu haben, die sie auf der Bühne
0157auflodern ließ; wenigstens enthalten ihre Memoiren gar nichts,
0158was auch nur von fern einer innigeren Freundschaftsbezie-
0159hung gliche.


0160Von Pest aus und nach daselbst gelöstem Engagement be-
0161gannen nun die wiederholten Kunstreisen der Schebest in Deutsch-
0162land und Italien. Diese glänzendste und eigentlich künstlerisch
0163allein wichtige Zeit im Leben unserer Sängerin nimmt in ihren
0164Memoiren keineswegs die gleiche Stellung ein. War uns die
0165kümmerliche und doch so reine Jugendzeit der kleinen Agnese,
0166war uns ferner das redliche Bemühen ihrer Lehrjahre selbst in 
0167der etwas ausführlichen Schilderung anziehend und rührend,
0168so bleibt das, was die fertige Künstlerin uns mitzutheilen hat,
0169hinter den Erwartungen des Lesers zurück.


0170Agnese Schebest erzählt uns von ihren Kunstreisen mit der
0171begreiflichen Erinnerungsfreude einer einst gefeierten Künstlerin,
0172die nunmehr im Herbst ihres Lebens sich an dem Nachglanze
0173früherer Triumphe sonnt. Sie wäre wol in der Lage gewesen,
0174uns getreue Charakteristiken fast aller berühmten Sänger und
0175Sängerinnen ihrer Zeit, mit welchen sie aufgetreten war, zu ge-
0176ben; reichliche Beiträge zur Kenntniß der damaligen Geschmacks-
0177richtung, der verschiedenen Musik- und Theaterzustände in Deutsch-
0178land und Italien u. dgl. m. Statt dessen läßt sie uns gar um-
0179ständlich die Reisen und besonders die Triumphe mitmachen, die
0180ihr in den verschiedenen Städten zu Theil wurden, Huldigungen,
0181wie sie ja tagtäglich noch jeder (mit Recht oder Unrecht) gefeierten
0182Sängerin dargebracht werden. Selbst das bescheiden Erzählte hört
0183auf, ein interessantes zu sein, wenn es sich im selben Cirkel stets
0184um den eigenen Mittelpunkt dreht.


0185Im Jahre 1841 oder 1842 beschloß Agnese Schebest ihre
0186künstlerische Laufbahn in Karlsruhe, um sich zu vermälen. Mit
0187einer kurzen Hindeutung auf diese Verheiratung schließt die
0188Sängerin ihre Memoiren, ohne auch nur den Namen ihres be-
0189rühmten Gatten zu nennen, durch welchen sie auch dem nicht-
0190musikalischen Theile des deutschen Publicums bedeutend geworden
0191war. Dieser Gatte ist bekanntlich David Friedrich Strauß,
0192der gefeierte Autor des „Leben Jesu“. Es ist ein eigenthümliches
0193Geschick, das des Unglücks in der Ehe, welches Strauß mit seinem
0194Jugendfreunde und ebenbürtigen Meister im Schriftthume,
0195Friedrich Vischer (dem Aesthetiker), verbindet. Die beiden aus-
0196gezeichneten Gelehrten haben ihre aus reiner Herzensneigung ge-
0197schlossenen Ehen sehr bald trennen müssen, mit dem liebevollsten
0198Herzen und lebhaftesten Sinn für häusliches Glück sich in frei-
0199williges Hagestolzenthum zurückbegebend. Ob Beide, vorwiegend
0200ästhetisch angelegte Naturen, zu sehr dem „schönen Schein“ ge-
0201folgt sind in der Wahl von Frauen, welche dem stillen Leben des
0202deutschen Gelehrten entfremdet blieben — wir wissen es nicht.
0203Agnese Schebest hat sich wenigstens in der Dedication ihres
0204Buches an ihre Kinder, Georgine und Fritz Strauß, als zärtliche
0205Mutter erwiesen; als große Künstlerin lebt sie im Gedächtniß
0206Aller fort, denen es gegönnt war, ihre dramatische Gestaltungs-
0207kraft bewundernd zu verfolgen.

Fußnoten
  • *)Unter Iffland’s Direction in Berlin (17961814) spielte die
    berühmte Unzelmann (später Frau Bethmann) in der Oper und im
    Schauspiel; die erste Heldin des Dramas (Frau Eunicke) sang zugleich
    die Donna Anna, die Gräfin im „Figaro“ etc. Beschort war ebenso
    liebenswürdig als Don Juan und Orestes, wie als Hamlet und Posa:
    der erste Bassist Gern spielte zugleich das Fach zärtlicher Väter. Selbst
    die berühmte Sängerin Schick (Gluck’s Armida!) gab Nebenrollen im
    Schauspiele (z.B. die Mondecar im „Don Carlos“). Der große Schau-
    spieler Fleck sang seinerzeit den Capulet in Benda’s „Romeo und
    Julie“, Anschütz den Don Juan, unser Löwe (in Prag) kleine
    Tenorpartien, etc.